Hygienearzt in zwei Gesellschaften

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Tembrock im Vorphysikum

Nach dem ersten Studienjahr folgte das Vorphysikum, die erste große mündliche Zwischenprüfung, in den Fächern Chemie, Physik, Botanik und Zoologie. Aus den drei erstgenannten Prüfungsteilen ist mir nichts mehr erinnerlich, sie liefen jedenfalls problemlos ab. In Zoologie trat ein Mini-Problem auf. Ich hatte für die vorangehende Botanikprüfung besonders Vererbungslehre gepaukt, weil der Prüfer, Professor Noack, viel danach fragte. Dazu hatte ich mir natürlich botanische Beispiele eingeprägt, beliebtes Demonstrationsbeispiel waren damals in verschiedenen Farben blühende Erbsen.

Aber in Botanik prüfte ein Assistent über andere Themen. Dafür fragte mich Dr. Tembrock in Zoologie nach Vererbungsregeln. Seelenruhig spulte ich meine eingetrichterten Erbsenbeispiele ab, unterbrach mich erschrocken und ging auf Florfliegen mit unterschiedlichen Augenfarben über, wie das zum Thema Zoologie besser passte. Das hielt aber nicht lange und wieder blühten meine Erbsen. Wieder riss ich mich zurück, bis Tembrock abwinkte: „Wenn Sie das am botanischen Beispiel gelernt haben, bleiben Sie ruhig dabei, die Vererbungsgesetze sind dieselben.“ Für den Prüfer war das eine Lappalie, die er sofort wieder vergessen konnte, für mich eine Hilfe, an die ich mich heute noch dankbar erinnere.

Später – Tembrock war indessen Professor geworden – sah ich ihn in vielen Fernseh-Interviews über das Verhalten der Tiere (Ethologie) sprechen. Er tat das, wie in seinen Vorlesungen auch: kenntnisreich, mit souveränem Überblick über die vielfältigen Problemlösungsstrategien der belebten Natur und gelegentlich mit einem Schuss distanzierter Ironie.

Rapoport

Nicht alle akademischen Lehrer, denen ich dankbar bin, kann ich hier würdigen. Ein Professor muss aber noch beschrieben werden: Professor Samuel Mitja Rapoport, Institutsleiter und Lehrstuhlinhaber für Physiologische Chemie, heute meist Biochemie genannt.

Er hatte in seiner Jugend als Jude und Kommunist vor den Nazis aus seiner Heimat Österreich fliehen müssen, sich in den USA als Biochemiker etabliert und großes Prestige erworben, bevor er wegen seiner linken Gesinnung dort gehen musste.

So hatte ihn sein Weg in die DDR geführt. In politischen Fragen war er aus seiner eigenen Vergangenheit heraus unduldsam. In seinen Vorlesungen wollte er keine Hörer, die Abzeichen irgendwelcher kapitalistischer Firmen an der Kleidung trugen. Seine Vorlesungen waren auf dem aktuellsten wissenschaftlichen Stand. Die 1953 entdeckte Desoxyribonukleinsäure (DNS beziehungsweise englisch desoxyribonucleinacid, DNA) und die durch sie vermittelte Vererbung durch Verdopplung des DNS-Stranges und nachfolgende Abtrennung des Doppels beschrieb er uns genauestens, nur dass die DNS eine Spirale bildet, war damals noch unbekannt.


DNS-Doppelstrang bei der Trennung

In allen Vorgängen und Forschungsergebnissen suchte und fand er auch meistens Bestätigungen der materialistischen Dialektik, das heißt der Marxschen Denkmethode. Er verlangte disziplinierteste Teilnahme an Vorlesungen und Seminaren. Vom Reporter einer westlichen Zeitung gefragt, ob das kommunistische beziehungsweise sowjetische Methoden seien, erwiderte er: „Nein, das habe ich aus den USA mitgebracht.“

Bei den Karnevalsfeiern machte er kräftig mit. Maskiert fiel uns auf, was wir sonst übersehen hatten: Sein kräftiges Untergesicht trat hervor und gab ihm ein grobes Aussehen. Er nutzte das selbst für seine Maskerade, denn er kam als Räuber verkleidet daher.

Unruhe unter Studenten

1956 war die Welt wieder einmal unruhig. Der 20. Parteitag der sowjetischen Kommunistischen Partei (KPdSU) enthüllte im Februar mit Chruschtschows Geheimrede Stalins Verbrechen, ohne deren tiefere Ursachen darzulegen und Mitwirkende zu benennen. Der italienische KP-Chef, Palmiro Togliatti, fragte öffentlich, ob es eine „Entartung“ des Kommunismus gegeben haben könnte, vor der alle zu warnen wären, die dem sowjetischen Beispiel folgten. Seine Frage wurde von der sowjetischen Parteiobrigkeit erst verschwiegen und dann brüsk zurückgewiesen. So machten sich einflussreiche kommunistische Parteien Westeuropas eigene Gedanken über ihren Weg zum Kommunismus. Das war die Geburt des Eurokommunismus.

Auch Kommunisten der Ostblockländer waren beunruhigt. In der polnischen Stadt Poznán (Posen) entwickelte sich ein lokaler Arbeiteraufstand, dem blutig begegnet wurde, schließlich aber nur mit der Einsetzung des als gemäßigt geltenden Władysław Gomułka ins oberste Parteiamt beruhigt werden konnte. Dabei hatten sich die Unruhen an einer Bagatelle entzündet. In einer schon länger laufenden Theaterinszenierung eines früheren polnischen Autors gab es den bis dahin wenig beachteten Satz: „Aus Moskau ist stets nur Gesindel gekommen.“ Plötzlich machten sich die antirussischen Ressentiments, die – geschichtlich entstanden – in der polnischen Öffentlichkeit lebten und leider bis heute leben – in Szenenbeifall Luft. Das wurde in den Folgetagen bekannt und das Theater bekam Zulauf von Zuschauern die nur auf diese Passage warteten, um ihren antirussischen und antisowjetischen Frust zu äußern. Demonstrationen und Zuspitzungen folgten, bis die Waffen sprachen und das bisherige Staatsoberhaupt gehen musste.

Selbst in der UdSSR-Literatur begann die als „Tauwetter“ (nach dem gleichnamigen Roman von Ilja Ehrenburg) bezeichnete, vorsichtige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und zeitweiliger Lockerung einiger Bestimmungen. Das alles nahmen wir aufmerksam wahr, denn der Schulunterricht hatte uns allen die Politik immer als wichtig dargestellt.

Im Frühjahr 1956 gab es auch eine weitere Bestätigung für die von der DDR immer behauptete westliche Agententätigkeit. Nahe bei Berlin-Rudow wurde ein Tunnel entdeckt, der aus Westberlin heraus unbemerkt ungefähr 180 bis 200 Meter in das Gebiet der DDR hinein vorgetrieben worden war. Dort hatten westliche Abhörspezialisten ein wichtiges Telefonkabel angezapft und abgehört. Die DDR öffnete das entdeckte unterirdische Bauwerk nahe am Postkabel und durch einen zweiten Eingang ganz dicht an der Sektorengrenze und gab den Bau zur massenhaften Besichtigung frei. Auch ich stieg hinein und konnte an der hervorragenden elektronischen Ausstattung erkennen, dass hier keine Finte der DDR oder der Sowjetmacht vorlag, sondern wirklich modernere Technik installiert war, als ich sie aus Ostberlin kannte. Natürlich schrieben die ostdeutschen Zeitungen, mit anschaulichen Bildern versehen, ausgiebig über das Spionagenest Westberlin.

Übrigens erhielt meine Familie in den siebziger oder achtziger Jahren auch noch ihre eigene Bestätigung für das Wirken westlicher Nachrichtendienste. Eine entferntere Verwandte von mir, die in Westdeutschland lebte, nahm die Arbeit als Zivilbeschäftigte in einer Bücherei der Bundeswehr auf. Dazu musste sie auf einem Fragebogen all ihre Verwandten mit deren Adressen angeben. Nicht alles trug sie sorgfältig ein, sondern verließ sich auf ihr nicht ganz sicheres Gedächtnis und so rief sie ihr Vorgesetzter nach einigen Wochen zu sich: „Nehmen Sie mal Ihr Adressbuch zur Hand und korrigieren folgende Adresse: „… Diese Verwandten wohnen jetzt in Senftenberg und nicht mehr in Großräschen.“ Da wusste also die Bundeswehr besser Bescheid, wo meine Schwiegereltern – damals schon hoch im Rentenalter – wohnten, als die besagte entfernte Verwandte es in den Fragebogen eingetragen hatte.

Die blutigste Auseinandersetzung reifte im Herbst 1956 in Ungarn heran. 1955 war der Österreichische Staatsvertrag geschlossen worden, ein separater Friedensvertrag mit diesem Land, dessen Soldaten an der Seite Nazideutschlands im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten. Kern des Vertrages war die „immerwährende Neutralität“ Österreichs, die noch heute gilt. Bis zum Vertragsabschluss standen sowjetische Truppen im östlichen Österreich. Die zogen nun ab und eine sowjetische Besetzung Ungarns (und Rumäniens) war als Brücke zu Österreich entbehrlich, so dass auch ein Abzug aus Ungarn ins Gespräch kam, aber nicht erfolgte. In Ungarn wurde in einer Krisensituation im Frühjahr 1956 der schärfste Stalinist (Mátyás Rákosi) entmachtet. Aber es war für kleine Zugeständnisse schon zu spät. Am 22. und 23. Oktober 1956 erzwangen riesige Demonstrationen die Einsetzung des beliebten Reformkommunisten Imre Nagy ins Spitzenamt. Er versprach einige bürgerliche Freiheiten, forderte die Sowjettruppen zum Abzug auf und bemühte sich um eine Stabilisierung der Lage. Am 1. November 1956 verkündete er die Neutralität Ungarns, das heißt seinen Austritt aus dem Warschauer Militärpakt des Ostblocks. Darauf überrannten am 4. November sowjetische Truppen das Land und schlugen in mehrtägigen blutigen Kämpfen durch den Einsatz schwerer Waffen die Volksbewegung blutig nieder(3). Ihre Führer wurden verhaftet, ihr Idol Imre Nagy unter Bruch früherer, anders lautender Zusagen 1958 gehenkt.

Gleichzeitig machte die Entkolonialisierung erste Schritte. Der durch einen Putsch junger Offiziere schon vorher in Ägypten an die Macht gelangte Gamal Abdel Nasser beendete die bis dahin englandhörige Politik des Landes am Nil. Er wagte es, 1956 den unter britischer Kontrolle stehenden Suezkanal zu verstaatlichen und forderte damit Großbritannien und Frankreich heraus. Den Israeli sperrte er die Kanaldurchfahrt und den Golf von Akaba, womit er internationale Seefahrt-Abkommen verletzte.

Ende Oktober 1956 folgte ein israelischer Angriff auf Ägypten, der Großbritannien und Frankreich den offenbar verabredeten Vorwand lieferte, selbst militärisch einzugreifen „um den Suezkanal zu sichern“. Der schwere Konflikt, der das Zeug zu einem Flächenbrand in sich hatte, wurde letztendlich diplomatisch gelöst. Er wurde selbst von sehr bürgerlich denkenden Studenten als eine Inszenierung angesehen, in der sich Israel von den ehemaligen Kolonialmächten kaufen und einspannen ließ. Die mit Abstand schärfste Verurteilung der israelischen Politik erfolgte durch Rapoport, dessen Eltern dort lebten.

 

In diesem weltweit gespannten Klima erregten sich die Medizinstudenten unserer Universität im Oktober 1956 zunächst an einer Kleinigkeit, der bevorstehenden, abschließenden Sprachprüfung in Russisch. Sie war Bedingung für einen erfolgreichen Abschluss des Medizinstudiums insgesamt. Wir wollten sie dennoch irgendwie umgehen oder loswerden, weil die meisten von uns dem eher dürftigen Unterricht nicht viel Kenntnisse abgewonnen und dieses Examen zu fürchten hatten. Ob die Parole gegen die Prüfung auch, weil sie sich politisch ausweiten ließ, von prinzipiellen DDR-Gegnern gestreut wurde, weiß ich nicht, will es aber nicht ganz ausschließen, weil sich die Ereignisse so bemerkenswert rasch zu sehr prinzipiellen Auseinandersetzungen ausweiteten.

Die FDJ, von der wir als Mitglieder verlangten, unsere Wünsche zu unterstützen, lehnte das erwartungsgemäß ab – nicht einmal zu Unrecht, schließlich galt der Studienplan, den wir mit der Immatrikulation akzeptiert hatten. Durch ihre Ablehnung geriet die FDJ jedoch nun selbst in die Kritik und es kam zur Frage, ob wir an der einheitlichen Jugendbewegung festhalten sollten oder auch eine andere Jugendorganisation bräuchten.

Damit war eine einfache Frage des Studienablaufes mit beachtlicher politischer Brisanz aufgeladen. In stürmischen Pausenversammlungen im riesigen anatomischen Hörsaal wurden die FDJ-Funktionäre mit Fragen in die Enge getrieben. Kam ein politisch besonders raffinierter Vorschlag von einem Studenten, schwenkten wir blitzschnell darauf ein, auch wenn wir vorher anderen Rednern applaudiert hatten. Wir hatten in dieser Situation ein Gespür für das im Moment Wirksamste, gemeinsam Durchsetzbare, wie ich es später nie mehr erlebt habe, nicht einmal in der politischen Wende 1989–1990.

Die Revolutionstheorie nach Marx beziehungsweise Lenin behauptet, dass politische Vorgänge und Lernprozesse in revolutionären Situationen viel schneller verlaufen, als in ruhigen Zeiten. Obwohl es sich bei uns nicht um eine Revolution handelte, hat sich aber diese Aussage der kommunistischen Klassiker hier völlig bewahrheitet. Es wurde entschieden, aus jeder Seminargruppe zwei Sprecher zu wählen, was schon dadurch den Alleinvertretungsanspruch der FDJ tangierte. Wir hatten 28 Seminargruppen, was 56 gewählte Sprecher ergab. So hieß diese Versammlung 56er-Rat, was mehr mit der Teilnehmerzahl, als mit der Jahreszahl im Kalender zu tun hatte. In den Hörsälen und Foyers tauchten aber gleichzeitig viele bis dahin unbekannte Gesichter auf, Leute die teilweise älter als wir waren, um die Diskutantengruppen kreisten, gut zuhörten, nicht mitredeten und möglichst unauffällig wieder verschwanden: Der DDR-Staatssicherheitsdienst war unter uns!

Wir standen mit unseren Protesten nicht allein. Die Veterinärmediziner, deren Hörsäle dicht bei unseren lagen, stellten Forderungen; ich weiß nicht welche. Von einer Versammlung wurde Aufregendes erzählt: Ein Polizist erschien, um die Versammlung zu verbieten. Darauf soll er die Antwort erhalten haben: „Wir sind hier dicht an der Grenze zu Westberlin. Sie spielen mit dem Feuer, denn hier kann jede Kleinigkeit ernst werden.“ Angeblich ging er dann unverrichteter Dinge davon. Einen Beleg für den Vorfall habe ich nicht und ich fragte mich damals leise und frage mich heute deutlich, ob eine derartige Zuspitzung der Situation – sowohl durch das versuchte Versammlungsverbot, wie auch durch diese drohende Antwort – der Sachlage angemessen war.

Die Frage stand schon kurz danach direkt vor mir. Als der Ungarn-Aufstand schon halb zusammengeschossen war und unsere Forderungen nicht durchdrangen, standen abends Studienfreunde am Ausgang des Geländes und flüsterten uns allen zu: „Morgen trifft sich die gesamte Medizinische Fakultät am Chemie-Hörsaal – weitersagen.“ Meine sofortige Gegenfrage: „Seid ihr verrückt, da passen die gar nicht alle rein und der Rest steht auf der Straße – fast in Sichtweite des Westsektors?“, wurde von den Mitstudenten bewusst überhört und die Nachricht ohne mich weitergeflüstert.

Aber über Nacht muss sich Besonnenheit durchgesetzt haben. Niemand traf sich dort. Der Hörsaal hatte, wie schon erwähnt, 400 Plätze, alle Jahrgänge von Medizinstudenten umfassten ungefähr 2 000 Personen. Die hätten, wenige auf Treppen und Gängen abgerechnet, zumeist auf der Hannoverschen und der Invalidenstraße gestanden und wenige Minuten danach hätten wir westliche Kameras und östliche Polizei reichlich auf dem Hals gehabt. Was das parallel zur Ungarnkrise bedeuten konnte, mag man sich heute vielleicht in manchen Gehirnen nicht ganz ausmalen. Damals jedenfalls mussten wir alle viel öfter die weltpolitische Situation und mögliche Auswirkungen auf sie „mitdenken“. Der Kalte Krieg war nicht nur ein Schlagwort!

Unsere Proteste wurden schließlich beendet, teils durch die unübersehbare Stasi-Überwachung, dazu durch ein paar Verweisungen von der Uni und argumentativ außerordentlich geschickt und wortgewaltig durch Professor Rapoport. Man musste gerade ihm alles Recht der Welt zubilligen, Tendenzen, die er für reaktionär und gefährlich hielt, mit aller Kraft entgegen zu treten. Demokratisch war das dennoch nicht. Seine Reden klangen auch drohend. Einige Monate später trat auch der Erste Sekretär der FDJ-Leitung Berlin, Hans Modrow, vor uns auf. Er erntete allerlei Widerspruch. Ein Student fragte, warum man uns keine Westreisen gestatte.(4) Modrow erwiderte, das sei doch eine unwichtige Frage. Darauf der Fragesteller: „Dann muss ich Dir sagen, dass Du als Jugendfunktionär die Sorgen der Jugend nicht kennst.“ Das gab Beifall, aber geklopft von unten an die Tische so dass von vorn nicht zu sehen war, wer applaudierte. Modrow steckte den Hieb ein. Der Fragesteller blieb auch weiter ungeschoren. Ich habe später manchmal gegrübelt, ob Modrows spätere Reformbereitschaft auch aus solchen Erlebnissen gespeist wurde.

Gleichzeitig mit der Welle der Gegenargumente lief in den Betrieben eine Propaganda-Kampagne an. Tenor: „Was wollen die eigentlich noch? Der Staat gibt ihnen zum Studium alles, was er nur geben kann.“ Dazu wurde halblaut über Kampfgruppeneinsätze nachgedacht. Doch dazu kam es nicht, ebenso nicht zu den angedrohten „Bewährungen in der sozialistischen Produktion“. Die DDR machte bald die Erfahrung, dass rebellische Studenten, unter die Arbeiter gebracht, dort mehr Sympathie als Ablehnung erwarben und sah von solchen Maßnahmen ab.

Und was wurde aus der Russischprüfung? Es wurden, als alle Proteste vorüber waren, dafür zwei ziemlich nahe beieinander liegende Seminarräume genutzt, in denen ein Russisch-Dozent die Aufsicht führte. Dazu ging er zwischen beiden Räumen sehr langsam und in berechenbarem Rhythmus hin und her. Hier bedurfte es nicht der Kunst meines Klassenkameraden Norbert, um mit den Nachbarn beliebig zu kommunizieren. Bestanden haben wir alle.

Der Scharfrichter Physikum

Der sogenannte vorklinische Teil des Medizinstudiums endete damals nach zwei Jahren mit dem Physikum, der ärztlichen Vorprüfung. In ihr waren naturwissenschaftliche Grundkenntnisse sowie die gründliche Beherrschung von Anatomie, Physiologie und Biochemie des gesunden Menschen nachzuweisen. Das ist Vorbedingung, um Abweichungen von der Norm und Krankheiten zu verstehen, die im zweiten Studienabschnitt, den klinischen Fächern, behandelt werden.

Die Uni war trotz ihrer großen Hörsäle mit Studenten überbelegt. Im Anatomie-Hörsaal mussten auf 650 Sitzplätzen anfangs 800 Studenten Platz finden, sodass viele auf Treppenstufen saßen oder im Stehen zu schreiben versuchten. Die Uni war daher im eigenen Interesse und auch dem mancher Studenten selbst bestrebt, schwache, perspektivlose Hörer baldmöglichst aus dem Medizinstudium zu verabschieden. Das verkündete Professor Walter Kirsche (Anatomie der Nerven und des Gehirns) mit ironischer Deutlichkeit: „So viele von Ihnen sitzen und stehen unbequem. Das dauert nicht mehr lange. Wenn wir mit den Testaten [eine Art kurzer, scharfer Leistungskontrollen – d. A.] beginnen, werden bald alle einen guten Sitzplatz haben.“ Und Waldeyer wies vor unseren Ohren seine Assistenten an: „Bei den Testaten muss es Nullen [das heißt nicht bestanden – d. A.] hageln, damit wir endlich sieben.“ So geschah es, und im Hörsaal sah man bald leere Plätze. Die meisten Studenten kämpften bis zuletzt gegen die Schwierigkeiten des Lehrstoffes und der Prüfungen. Dennoch mussten in dieser Phase etwa 30 Prozent das Studium vorzeitig beenden, seltener durch definitiv unzureichende Zensuren, häufiger setzte schwere Erschöpfung den Endpunkt. Auch ich hatte im Fach Anatomie meine Schwierigkeiten, denn mein Handgeschick war fürs Präparieren etwas schwach ausgebildet und mein Formengedächtnis hätte auch besser sein müssen. So wusste ich rechtzeitig, dass chirurgische Fächer später für mich nicht in Frage kamen.

Wer es also bis zum Physikum und durch diese Prüfung geschafft hatte, war damals erst einmal ziemlich aus dem Gröbsten heraus. Bezeichnend ist, dass man im Hörsaal nach dem Physikum bei etwa der Hälfte der Studenten, die vor und unter einem saßen, vereinzelte graue Haare sah. Wir waren damals meist erst ungefähr 20 Jahre alt. Später verschwanden diese Anzeichen der hohen Belastung dann meist wieder.

Bei meiner Prüfung ging alles gut. Wegen meiner guten Prüfungsergebnisse erhielt ich weiter mein Leistungsstipendium, einen Zuschlag von 50.- Mark zum Grundstipendium. Da bei uns zu Hause stets Geldmangel herrschte, war ich auf diese Leistungszulage angewiesen, um überhaupt zu studieren. Meine Mutter bestand darauf, dass ich diesen Aufschlag gewinnen musste – wie schon erwähnt, war ich ihre lebende Altersversicherung. Von den Folgen dieser Bedrängnis berichte ich später.

Nach der Prüfung wollten wir feiern – so richtig einen drauf machen. Dann saßen wir uns beim billigen, extrem süßen bulgarischen Wein gegenüber und schwiegen uns an. So ging das nicht. Also Standortwechsel in eine billige Berliner Kaschemme – das gleiche Ergebnis. Wir waren einfach zu ausgebrannt, um froh zu sein. Zwei Wochen später lagen wir etwas erholt an der Ostsee, konnten nachholen und zusammen mit der bestandenen Prüfung erste Urlaubserlebnisse munter begießen.