Hygienearzt in zwei Gesellschaften

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Nachwirkungen des 17. Juni

Der 17. Juni 1953 hatte mehrere wahrnehmbare Nachwirkungen. Die Normerhöhungen wurden zurückgenommen. Eine Serie von Senkungen der staatlichen Festpreise für viele Nahrungsmittel und häufig gebrauchte Waren folgte. Der Lebensstandard verbesserte sich zusehends. 1958 wurden die Lebensmittelkarten abgeschafft. Sie waren eigentlich nur noch Berechtigungen zum Einkauf verbilligter Lebensmittel, aber die sinkenden Preise im übrigen Handel waren teils ebenfalls subventioniert und so dicht an das Niveau der Lebensmittelpreise auf Karten heran gesunken, dass die lästige Markenschneiderei entfallen konnte. Die geringe Differenz wurde durch einen allgemeinen Lohn- und Gehaltszuschlag von etwa 12 Mark und wohl auch eine entsprechende Rentenanhebung ausgeglichen und nach wenigen Monaten redete kein Mensch mehr davon. Nur dieser Zuschlag, der auf jeder Lohn- und Gehaltsabrechnung ausgewiesen wurde, erinnerte uns noch über viele Jahre daran, dass es einmal Lebensmittelkarten gegeben hatte.

Abitur

Relativ kurz vor dem Abitur häuften sich die Beitrittsanträge in die FDJ, was natürlich auch nach Karrierismus roch. Dennoch verwandte ich mich in einer Versammlung intensiv für „den Langen“, weil ich der Meinung war, dass eine politische Organisation nicht zu einseitig sein sollte, auch bekennende Katholiken aushalten und eventuelles Karrierestreben korrigieren könnte, ja sogar müsste. Ich wurde ziemlich heftig und deutete an, dass auch unser Direktor als Jugendlicher bei den Nazis war, wie ich im Ruderverein durch seinen Jugendfreund erfahren hatte. Nach der Versammlung eilte unsere Annemarie erwartungsgemäß ins Direktorzimmer. Am nächsten Tage warnte mich gleich beim Betreten der Schule ein Lehrer – ein älterer, standfester Kommunist, der in der Nazizeit gelitten hatte – unter vier Augen: „Wir haben im Lehrerkollegium über Sie gesprochen. Vermeiden Sie Äußerungen über die Vergangenheit des Direktors, die nicht zur Sache gehören“, könnte er noch hinzugefügt haben, falls ich mich richtig entsinne. Aber weiter kam nichts für mich Unangenehmes nach.

Allgemeine Aufregungen verursachte ein anderer Vorfall. Es gab eine pädagogische Regel – vielleicht war es nur eine Kann-Bestimmung, denn sie wurde von den Lehrern permanent gebrochen – wonach pro Tag nur eine große Klassenarbeit geschrieben werden sollte, um die Schüler nicht zu überlasten. Auf diese Regel beriefen wir Schüler uns und manche Lehrer verschoben dann auch ihr Vorhaben, andere setzten sich durch. Das blieb meist eine Angelegenheit zwischen diesem Lehrer und der betreffenden Klasse.

Eines Tages ging es um eine Russisch-Arbeit. Sie wurde gleich in mehreren Klassen abgelehnt. Unser Direktor erfuhr davon, interpretierte das als koordinierte Aktion gegen die Schuldisziplin und sogar gegen die Freundschaft mit der Sowjetunion. Er lief zu großer Form auf, informierte die Schulbehörde und wer weiß wen, entschuldigte sich in aller Form für unsere Unwürdigkeit beim tschechoslowakischen Botschafter und ließ mehrere Schüler unserer Schule verweisen. Eine Schülerin wurde sogar von allen Oberschulen der DDR ausgeschlossen. Sie hat allerdings irgendwie dennoch in der DDR das Abitur abgelegt. Die Sache gelangte, vermutlich begünstigt durch ihre überflüssige Dramatisierung an den RIAS und wurde in der Kabarettsendung „Der Insulaner“ kurz behandelt. Über die Schüler hieß es, sie wurden „geschasst“. Vermutlich hat diese Sendung in einer als feindlich geltenden Rundfunkstation die Lage der Betroffenen zusätzlich erschwert, aber darauf nahmen die westlichen Medien selten Rücksicht.

Schließlich kam das Abitur und ich ging ihm mit ganz ordentlichen Zensuren entgegen. Nur die schlechte Sportzensur gefährdete den Gesamtdurchschnitt, denn sie wurde ohne Rücksicht auf körperliche Fähigkeiten oder Ungeschicklichkeiten mit ins Ergebnis eingerechnet und konnte bei undifferenzierter Betrachtung schaden. Angesichts knapper und heiß begehrter Studienplätze und eines de facto praktizierten Numerus clausus brauchte ich mindestens ein gutes, besser noch sehr gutes Abiturzeugnis, um Aussicht auf das von mir inzwischen erstrebte Medizinstudium zu haben. So richtete ich viele Anstrengungen auf den Schulsport, der nicht meine starke Seite war. Es wurden einige Fächer verbindlich geprüft, unter den mündlichen Prüfungen konnte man aber teilweise wählen. Der Biologielehrer empfahl mir, weil ich Medizin studieren wollte, mich in seinem Fach zu stellen. Das vermied ich tunlichst. Ich hatte in Biologie aus dem Unterricht sieben Einsen und eine Zwei zu Buche stehen. Als Vorzensur konnte nur die Eins herausgerechnet werden. Warum sollte ich die durch ein ungewisses Prüfungsergebnis riskieren, denn ohne Prüfung musste die Vorzensur unweigerlich zur Endzensur werden. Also meldete ich mich, sehr zum Verdruss des Biologielehrers, zur mündlichen Geografie-Prüfung an, denn deren Ergebnis konnte bei der Studienzulassung nicht sehr interessieren.

Dem Biologielehrer muss ich aber hier noch einige Zeilen widmen: Im Unterricht trichterte er uns die Irrlehren des sowjetischen Biologen Lyssenko ein, wonach erworbene Eigenschaften erblich sein sollten. Die weltweit anerkannte Mendelsche Vererbungslehre(8), die indessen durch die moderne Genetik detailliert bestätigt wird, lehnte er ab, wie das damals in der DDR politisch bedingte Mode war. Wenige Tage vor dem Abitur verschwand er nach Westberlin und überließ uns allen Zufälligkeiten eines Examens durch fremde Prüfer.

Damals gab es noch keine Prüfungen mit standardisierten Fragebögen und der Sachverstand derjenigen Lehrkräfte, die unterrichtet hatten, war trotz aller einheitlichen Lehrpläne bedeutsam. Bewusste Tricks zum Vorteil oder Nachteil einzelner Prüflinge traute ihnen niemand zu und ein Prüfungsergebnis juristisch anzufechten, lag jenseits aller Überlegungen.

Ich erreichte im Abitur die Gesamtnote „Gut“ mit einem Durchschnitt von 2,0. Ohne den leidigen Sport hätte es besser ausgesehen, aber ich war Zehnter meines Jahrganges von insgesamt 77 Schülern aller Parallelklassen. Das sah für die Uni ganz gut aus.

1 Dr. Dietrich Loeff: „1945 – Tag der Befreiung – persönliche Erinnerungen an ein historisches Ereignis“

2 Wer mit dem Auto oder der S-Bahn aus Richtung Südosten über Adlershof nach Berlin hereinfährt, sieht – halb verdeckt durch ein anderes Gebäude – kurz vor dem Bahnhof Berlin-Schöneweide rechts das neogotische, rote Backsteingebäude der heutigen Archenhold-Schule.

3 Das geschah damals massenhaft. Manfred v. Ardenne hat darüber berichtet und auch mein Onkel Walter – seit den dreißiger Jahren ein Fernsehspezialist – zog es deshalb jahrelang vor, in Jessen (Elster) unauffälligen Tätigkeiten (Radios und Schreibmaschinen reparieren) nachzugehen, als im exponierten Berlin wieder in seinen alten Betrieb einzutreten.

4 HO = Handelsorganisation, eine staatliche Handelsgesellschaft, die in anfänglich geringem Umfang Lebensmittel und andere Waren zu sehr hohen Preisen frei verkaufte.

5 Es gibt auch Darstellungen, zum Beispiel des Historikers Siegfried Prokop, die einen Anteil des Geheimdienstes der UdSSR an dieser Demo vermuten. Es war angeblich aufgefallen, wie neu die Bauarbeiterkleidung der ersten Demonstranten aussah. Nach Prokops Annahme (selbst gehörtes Interview mit ihm) wollte die UdSSR Alleingänge der DDR-Führung in Sachen Wiedervereinigung durch einen kleinen Aufstand diskreditieren, zu dessen Niederschlagung die DDR-Obrigkeit dann von sowjetischer Hilfe abhängig wurde. Ich will diese Hypothese hier weder werten noch unterschlagen. Auch sei erwähnt, dass immer wieder eine entscheidende westliche Einflussnahme behauptet wurde, natürlich schob die DDR-Regierung die Ereignisse insgesamt darauf.

6 Rundfunk im amerikanischen Sektor; an leitenden Stellen saßen in ihm US-Bürger, in der DDR wurde er als Organ des Geheimdienstes der USA bezeichnet.

7 In einer Sendung „Am Tage als“ des ORB, (jetzt rbb); das Datum kann ich nicht mehr angeben.

8 Gregor Mendel hat wissenschaftlich zwingend bewiesen, dass Eigenschaften hochgradig konstant vererbt werden. Siehe dazu auch im Kapitel über das Medizinstudium, Absatz über Prof. Rapoport.

Lob des Lernens

Lerne das Einfachste! Für die,

Deren Zeit gekommen ist,

Ist es nie zu spät!

Lerne das Abc, es genügt nicht, aber

Lerne es! Lass es dich nicht verdrießen!

Fang an! Du musst alles wissen!

Du musst die Führung übernehmen.

Lerne, Mann im Asyl!

Lerne, Mann im Gefängnis!

Lerne, Frau in der Küche!

Lerne, Sechzigjährige!

Du musst die Führung übernehmen.

Suche die Schule auf, Obdachloser!

Verschaffe dir Wissen, Frierender!

Hungriger, greif nach dem Buch:

Es ist eine Waffe.

Du musst die Führung übernehmen.

Scheue dich nicht, zu fragen, Genosse!

Lass dir nichts einreden,

Sieh selber nach!

Was du nicht selber weißt,

Weißt du nicht.

Prüfe die Rechnung,

Du musst sie bezahlen.

Lege den Finger auf jeden Posten,

 

Frage: Wie kommt er hierher?

Du musst die Führung übernehmen.

Bertolt Brecht

Kapitel 2
Ein ereignisreiches Medizinstudium
Einen Studienplatz bekommen

Nun standen allerlei Entscheidungen an. Wo studieren? Ich wollte zur Humboldt-Universität in Berlin. Mein Hausarzt riet mir zur Militärmedizinischen Fakultät der Universität Greifswald, weil die Aussichten auf einen Studienplatz viel besser waren und die Karrierechancen wohl auch. Meine Mutter fragte ihn ganz erstaunt: „Sie raten dazu“? Er war bekennender Katholik und stand dem DDR-Regime mindestens distanziert gegenüber, soweit er das erkennen ließ. „Ja, Frau Loeff, nur wenn wir drin sind, können wir etwas verändern“, erwiderte er sinngemäß. Sowohl meine Mutter wie auch ich haben uns dennoch auf dieses Doppelspiel nicht eingelassen, erstens schien es uns nicht sehr ehrlich und zweitens sind die Möglichkeiten, aus einer Armee heraus etwas von innen zu ändern, von Ausnahmen abgesehen, meist gering. Auch waren weder meine Mutter noch ich allem Militärischen besonders gewogen. Es blieb bei meiner Bewerbung an der Humboldt-Universität.

Ich wurde noch vor Studienzulassung und Studienbeginn über die FDJ zu einem vormilitärischen Lehrgang der GST(1) nach Prerow auf dem Darß einberufen. Der Lehrgangsbesuch war mit der Zusage auf einen Studienplatz verbunden. So trat ich ihn an. Dort traf ich auf Medizinstudenten höherer Studienjahre, die mich durch ihre Abgeklärtheit teilweise ziemlich beeindruckten. Im Lehrgang wurde viel exerziert und Sturmangriffe im Gelände geübt, wobei die Gegner sich mit Grasbatzen bewarfen. Die technischen Feinheiten eines Karabiners, einer Maschinenpistole und des Maschinengewehrs wurden uns durch Auseinandernehmen und Zusammensetzen beigebracht.

Bei dieser Ausbildung gab es, wie bei fast jeder militärischen Veranstaltung, nach der bekannten Redensart ‚Die Hälfte seines Lebens wartet der Soldat vergebens‘ viel Leerlauf. Den füllte sehr klug ein Politoffizier mit musikalischer Begabung und einem riesigen Schatz an Arbeiter- und Kampfliedern aus vielen Ländern. Er stellte sich einfach in unsere Nähe, ließ sein Akkordeon erklingen und wenn wir uns neugierig um ihn scharten, brachte er uns das intonierte Lied bei. Es waren Texte aus der Zeit der nachrevolutionären Kämpfe in Deutschland 1918–1919, von der Münchener Räterepublik und der „Kleine Trompeter“ sowieso. Besonders hatten es uns die italienischen Melodien angetan: „Avanti populo“ (Bandiera rossa) und „Bella ciao“, die ich heute noch singen kann und gern höre.

Wieder zu Hause erreichte mich ein Brief mit einer Ablehnung für das Studium. Das war anders zugesagt und ich beschwerte mich bei der FDJ-Leitung der Medizinischen Fakultät. Schleunigst wurde ich noch angenommen.

Eintritt ins Studentenleben

In jeder Hinsicht eindrucksvoll war die Immatrikulationsfeier der Universität im September 1955. An Selbstständigkeit wurden wir dabei auch gleich gewöhnt: Es war durch Aushang bekannt gegeben: „Anatomie, Hannoversche Straße, neuer Hörsaal“. Wo der genau war, sagte uns Neulingen kein Mensch dazu! So suchten Hunderte von Studenten ziemlich lange auf dem weiträumigen Gelände und die Mehrzahl fand sich nur langsam am Ort ein.

Die Festansprache hielt der bekannte Berliner Gynäkologe Prof. Helmut Kraatz(2), der gleichzeitig ein brillanter Redner war und besonders die große Geste beherrschte. Er beschrieb uns die akademische Freiheit als „die Freiheit, alles zu lernen“ und als Fähigkeit zur Verantwortung ohne Zucht- und Zügellosigkeit. Von einem ausschweifenden Studentenleben konnte also keine Rede sein und die Berliner Uni war immer dafür bekannt, viel zu arbeiten und wenig zu feiern. Den Arztberuf verband Kraatz mit hohen moralischen Anforderungen und gestaltete unsere Verpflichtung auf den Eid des Hippokrates zum Höhepunkt der Veranstaltung.

Dieser Eid, der tatsächlich nie so unverrückbar war, wie man ihn darstellte, und der auch heute einem gewissen Wandel unterliegt, wurde zeitweise belächelt und manche Ärzte gerieten in das schiefe Licht, Moralapostel zu sein und sich hinter dem hippokratischen Eid vor unbequemen Entscheidungen zu verstecken.

Ich bin dennoch bis heute dankbar, damals zuerst in meinem Leben meine zukünftigen Verpflichtungen so einprägsam erfahren zu haben. Besonders berührte mich der Satz: „Ich werde unterlassen alle Werke der Wollust an den Leibern meiner Patienten, Freien wie Sklaven.“ Dass selbst Sklaven, über deren Körper und sogar Leben der Besitzer in der Antike sonst willkürlich bestimmen konnte, vor lüsternen Begierden des Arztes geschützt sein sollten, fand und finde ich eine beachtliche humane Haltung. Sie respektiert doch wenigstens bei der medizinischen Behandlung den Sklaven als Menschen. Obwohl Moral auch heute nicht hoch im Kurs steht, wünschte ich mir für unsere Zeit mindestens, dass über ihre Forderungen nicht gespottet würde, weil ohne sie menschliches Zusammenleben unmöglich ist. Immerhin hat Brecht (im „Leben des Galilei“) einen analogen Eid für Physiker vorgeschlagen.

Wir bewunderten die Größe und Ausstattung der Hörsäle. Der bis 1955 neu erbaute Anatomie-Hörsaal hatte ungefähr 650 Plätze, alle damals moderne Darstellungstechnik, wie große Glastafeln, die aufklappbar waren und mit Schemata und Folien sowie weißer Grundierung hinterlegt werden konnten. Die Glastafeln waren angeraut und so konnte man auf ihnen mit allen Farben schreiben und malen, auch mit Schwarz, im Unterschied zu den uns bis dahin geläufigen, gewöhnlichen Schultafeln. Natürlich fuhren diese riesigen Platten elektrisch auf und ab, natürlich gab es einen Saaldiener, der sie sorgfältig, Streifen für Streifen säuberte und trocknete. Hörsaalverdunklung, Leinwand, Diaprojektion und die damals relativ neue episkopische Projektion waren selbstverständlich. Auch einen Polylux-Projektor (damals auch Belsazar-Gerät, heute meist Overheadprojektor genannt) sahen wir hier erstmalig.

Anatomie heißt Formen und Strukturen kennen und wiedererkennen. Die optische Ausstattung des Auditoriums war daher wichtig, ebenso exzellente Abbildungen in den Lehrbüchern und anatomischen Atlanten, die daher entsprechend teuer waren. Deswegen kaufte man gern bei höheren Semestern zu ermäßigten Preisen und sah über Gebrauchsspuren hinweg.

Die akademischen Lehrer, Anton Waldeyer

Nach einigen Wochen wurden die ersten anatomischen Präparate vom Menschen gezeigt, zuerst ein sauber abpräpariertes, einzelnes Bein. Wer nicht Medizin studiert hat, macht sich manchmal gruselige Vorstellungen von diesem Lehrabschnitt. Soweit ich sehen konnte, fiel niemand in Ohnmacht. Die meisten von uns erfasste aber eine bis dahin ungekannte Traurigkeit. „Das war also einmal ein Mensch“, dachten und fühlten wir.

Absolut nicht geduldet wurden auf den Präpariersälen auch nur die mindesten Ansätze unpassenden Benehmens. Als eine Studentin dort mit grell lackierten Fingernägeln arbeitete, war beim Direktor der Anatomie, Prof. Anton Waldeyer, das Maß voll. Die junge Dame musste die Gummihandschuhe ausziehen, eine Nagelfeile wurde herbeigeholt und Waldeyer selbst feilte ihr unter dem Beifall der Mitstudenten den nach seiner und unserer Meinung absolut ungehörigen Fingerschmuck herunter. Damit waren die strengen Maßstäbe klargestellt, an denen ich bis heute festhalte.

Es gab keine Wiederholungen. Kein Mensch hätte auch nur entfernt an Widerspruch gedacht. Viele unserer Professoren und Dozenten waren aus Westberlin und äußerten sich kaum zu politischen Themen. Sie orientierten sich offenbar am Leitbild des unpolitischen Arztes. Dem DDR-Regime gegenüber waren sie vermutlich distanziert, gaben aber für ihre wissenschaftliche Arbeit und Lehrtätigkeit alle Kraft. Die DDR konnte froh sein, diese teils international bekannten Kapazitäten als Lehrstuhlinhaber gewonnen zu haben. Keine Universitätsleitung hätte einem Studenten Recht gegeben, der sich über zu strenge Behandlung durch eine Lehrkraft beschwert hätte. Auch die große Mehrzahl von uns selbst, begrüßte klare Regeln, die auch eingehalten wurden. Unbeständigkeit konnten wir nicht gebrauchen, denn das Medizinstudium ist in dieser Etappe in hohem Maße ein Fleiß- und Büffelstudium, das keine Verschwommenheiten verträgt. Und die akademischen Lehrer aus Westberlin waren tatsächlich oft eindrucksvolle Vorbilder und genossen den Respekt ihres Auditoriums mit vollem Recht.

Ein Problem verursachte allerdings die westliche Herkunft von Waldeyer. Wir brauchten das von ihm verfasste Anatomie-Lehrbuch. Das war natürlich beim westdeutschen Verlag de Gruyter erschienen, kostete daher Westgeld, das wir nicht hatten. Das Buch musste – sicher gegen Devisen – in die DDR importiert werden, um es für uns erreichbar zu machen. Jedes Jahr musste Waldeyer einen monatelangen Kampf mit den DDR-Behörden um den Import seines Werkes ausfechten. Das kostete Zeit, aber er gewann ihn immer. Waldeyer war übrigens absolut kein Kind von Traurigkeit. Als gebürtiger Rheinländer, war der Karneval für ihn der Jahreshöhepunkt. Er wurde von uns Studenten zweimal zum Karnevalsprinzen gekürt und mit den Namen „Anton der Erste“ und im Folgejahr „Prinz Antonius Waldivarius – der Gleiche“ beehrt. Natürlich konnten wir nicht drei tolle Tage feiern, aber er plädierte dafür, das Zeitdefizit durch Intensität in acht vergnügten Stunden hereinzuholen. Er präsidierte der abendlichen Tanzveranstaltung mit einer großen Tafel, an der seine ungefähr 30 Assistenten saßen. Dort wurde stramm getafelt und Waldeyer bezahlte die Zeche allein. Das war noch nicht alles: Fand sich in seinem näheren Blickfeld im Laufe des Abends ein Pärchen zusammen, brachte der Ober bald eine Flasche Sekt auf Rechnung unseres Karnevalsprinzen. Natürlich setzte sich manches Pärchen absichtlich in sein Blickfeld, aber ob er die Absicht bemerkte oder nicht, seine Börse stand Verliebten offen.

Rienäcker

Faszinierend waren auch die Chemievorlesungen bei Professor Rienäcker. Im Hörsaal mit etwa 400 Plätzen hinter dem Experimentiertisch stehend, der fast ebenso lang, wie der Hörsaal breit war, also mindestens zehn Meter, versprach Rienäcker uns, in jeder Vorlesung würde es mindestens einmal knallen. Das hielt er ein. Dennoch warnte er seine Hörer eindringlich vor Spielereien mit den unberechenbaren Chloratverbindungen, die bei Explosionen im Labor meist den ahnungslosen Nachbarn des Leichtsinnigen verletzen.

Er sagte, dass sich die Chemie-Ordinarien in Ost, West, Österreich und deutschsprachiger Schweiz einig seien: Wer bei Chloratspielereien erwischt wird, kann an keiner Universität im deutschen Sprachraum mehr Chemie oder eine Wissenschaft, die das einschließt, studieren. In den Westen zu gehen, würde daher nichts nützen. Wir fanden es eindrucksvoll, dass sich Wissenschaftler über solch ein Thema grenzüberschreitend einigen konnten.

Ich hatte mit den hohen Anforderungen im Fach Chemie weniger Schwierigkeiten, als die meisten Mitstudenten, weil ich an der Klement-Gottwald-Oberschule beim blutjungen Chemielehrer Rolf Gapp eine ausgezeichnete Vorbildung genossen hatte. Nicht wenige meiner Mitschüler sind nach dem Abitur übrigens gute Chemiker geworden, wie sich bei einem Klassentreffen 2005 herausstellte.