Hygienearzt in zwei Gesellschaften

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Der Tod meines Vaters

Ende des Jahres 1949 erlitt mein Vater einen Herzinfarkt. An eine medizinische Behandlung nach heutigen Maßstäben oder auch nur einen Krankenhausaufenthalt war natürlich nicht zu denken. Der sehr engagierte Hausarzt, dem wir auch lange danach die Treue gehalten haben, machte einige Hausbesuche und verordnete Tropfen, ähnlich dem heutigen Medikament Nitrangin, die zwar die Beschwerden etwas linderten, aber weder die gestörte Herzdurchblutung verbessern noch die stark reduzierte Herzleistung günstig beeinflussen konnten.

Im Herbst 1950 nahmen seine Beschwerden trotz aller Behandlungsbemühungen wieder zu. Als ich am 28. September von der Schule kam, öffnete er mir auf mein Klingeln nicht. Meine bald danach eintreffende Mutter und ich fanden Vater dann, quer auf der Couch liegend, tot vor. Offensichtlich hatte er noch versucht sich aufzurichten, um besser Luft zu bekommen und verlor dann das Bewusstsein. Das war für mich Dreizehnjährigen natürlich ein Schock. So war meine Mutter mit mir allein.

Sie hat viel – sehr viel – als Alleinerziehende leisten müssen, um mich durchzubringen. Kindereinrichtungen und Schulhorte gab es kaum, ihr Gehalt war nicht üppig und die Arbeitszeit oft lang. Überstunden waren an der Tagesordnung, denn in der Verwaltung der Sozialversicherung liefen Wiederaufbau und Tagesarbeit nebeneinander her.

Später wurden dann bestimmte Aufgaben der Krankengeldberechnung in die Betriebe verlagert und meiner Mutter oblag es, die dortigen Buchhalter in das Sozialrecht einzuweisen. Auch daraus entsprang Mehrarbeit. Und das sei auch noch erwähnt: die heute für „normal“ gehaltenen langen Bearbeitungszeiten für Leistungen der Sozialversicherung gab es in der DDR nicht. Die Altersrente wurde, ohne vorherige Kontenklärung oder ähnliche Formalitäten, nach einem einfach auszufüllenden Antrag innerhalb weniger Wochen berechnet und ausgezahlt. Ich bin damals niemandem begegnet, der durch die Formalitäten so in Anspruch genommen war, dass er darüber geredet hätte.

Erste Erinnerungen

Ich wurde am 10. April 1937 in Berlin geboren. Abgesehen von sehr verschwommenen Eindrücken aus meiner früheren Kindheit erinnere ich mich an Vorkehrungen, die gegen Bombenangriffe auf Berlin getroffen wurden, an einige Bombennächte und ziemlich deutlich an eine durch Rundfunknachrichten und Meldungen vermittelte allgemeine Trauer. Mir fünfjährigem Jungen wurde zum ersten Male im Leben ein Zeitungsbild gezeigt. Zu sehen waren darauf weite Schneeflächen und eine Silhouette von Ruinen im Hintergrund. Erst später bekam dieses Bild für mich einen Namen: Stalingrad.

Im Sommer 1943 mussten meine Mutter, meine Großmutter und ich innerhalb einer Evakuierung von in Berlin entbehrlichen Personen den beginnenden Flächenbombardements auf die Stadt ausweichen und kamen in Deutsch-Nettkow beim Bruder meiner Großmutter unter, wo ich auch eingeschult wurde. Der Ort Deutsch-Nettkow/Nietkowice liegt etwa 150 Kilometer Luftlinie südöstlich von Berlin. Mein Vater musste wegen seiner Arbeit in Berlin bleiben.

Voller Angst horchten wir in manche Nacht hinein, wenn Bomberanflüge auf Berlin gemeldet waren, wir ein dumpfes Grummeln von dort hörten und sahen, wie sich der Himmel rötete. Auch andere Zeichen zeigten uns immer deutlicher die bevorstehende Niederlage Deutschlands, bis Ende Januar 1945 die Sowjetarmee das Gebiet in teils schweren Kämpfen eroberte.

Nachfolgend schlossen sich mehrere Monate mit allen Nebenerscheinungen des Krieges an: Ausplünderungen, Vergewaltigungen, ihrer Kleidung beraubte, tote Soldaten in den verschneiten Wäldern, Lebensmittelmangel, eine Frau, die mit sowjetischen Offizieren schlief, um ihr Kind zu ernähren, Verrat unter Deutschen (ganz gutmütige sowjetische Soldaten wurden zum Schutz der eigenen jungen Tochter weitergeschickt mit dem detaillierten Hinweis, wo andere Frauen wären), sowjetische Soldaten, die unter eigener Gefahr Zivilisten schützten, hilfsbereite und kinderliebe Soldaten verschiedener sowjetischer Nationalitäten, ein reiches Geburtstagsmahl aus Speck für mich in einer russischen Feldküche und wütende Ukrainerinnen, die Milch lieber auf die Erde gossen („Deutsche Schweine, geht zu Hitler“), als sie uns zu geben.

Das alles ist ausführlich in meiner Broschüre „1945 – Tag der Befreiung“ dargestellt(1), ebenso ist meine Rückkehr nach Berlin-Johannisthal (Südosten von Berlin, heutiger Bezirk Treptow-Köpenick) und die weitere Schulzeit skizziert.

Von der Volksschule zur Oberschule

Das damalige Schulsystem unterschied sich gewaltig vom heutigen. Wir kannten in Berlin 1945 die Grundschule (Volksschule), die alle besuchen mussten und die mit der 8. Klasse abschloss. Es gab die Möglichkeit, nach der 4. Grundschulklasse zur Oberschule zu gehen. Die Oberschule entsprach einem heutigen Gymnasium und führte nach zwölf Klassen, davon acht Oberschulklassen, zum Abitur.

Ich gelangte ohne besondere Schwierigkeiten bis in die 4. Grundschulklasse und durch die Aufnahmeprüfung auf die „Oberschule für Jungen“ in Berlin-Baumschulenweg. Der gemeinsame Unterricht von Jungen und Mädchen galt für Oberschulen noch als sittlich bedenklich und war auf die Grundschule beschränkt. Heute lächeln wir über solche Schulprinzipien. In der Oberschule, die bald nach Berlin-Niederschöneweide(2) umzog und dadurch für mich zu Fuß erreichbar wurde, lernte ich einige eindrucksvolle Lehrer mit gediegener altsprachlicher Bildung kennen. Es wurde von uns ziemlich viel verlangt, aber das Lernen machte auch meistens Spaß.

1951 erreichte ich planmäßig die achte Oberschulklasse. Indessen hatten sich die Schulpolitiker allerdings überlegt, die Oberschule auch in Berlin erst mit der neunten Klasse zu beginnen, wie in der gesamten DDR. So wurde uns eröffnet, dass wir gar nicht die Oberschule besucht hätten: „April, April!“ Wir bekamen noch eine Aufnahmeprüfung verordnet, die ich aber ebenfalls überstand. Indessen war die Oberschule ein wenig spezialisiert worden. Der A-Zweig war stärker sprachlich geprägt, der B-Zweig bot etwas mehr Naturwissenschaften, der in Berlin nur am Gymnasium zum Grauen Kloster (das hieß wirklich auch in Ostberlin „Gymnasium“) vertretene C-Zweig war stark altsprachlich ausgerichtet.

Da ich zunächst mit dem Gedanken spielte, Chemiker zu werden, trat ich in den B-Zweig ein, erkennbar an den Klassenbezeichnungen 9 B2 (es gab zwei parallele B-Klassen an meiner Schule) bis 12 B2. Das kam auch meiner Unlust entgegen, Sprachen zu lernen. Sie ist mir geblieben: Bis heute kann ich nur wenige Brocken Englisch, kläglichste Reste aus dem Unterricht in der 7. bis 8. Klasse. Auch mein Russisch habe ich fast vergessen. Schade! Aber es fand sich später eine unerwartete Abhilfe für mich Sprachmuffel, die mich rettete. Dazu nachher.

Mädchen im Klassenzimmer

Ab September 1951 begann gleichzeitig auch der gemeinsame Unterricht von Jungen und Mädchen, ein gerade für uns Pubertierende aufregendes Ereignis. Die Jungen unserer Klasse, die noch ein, zwei Jahre vorher verächtlich von „dusslichen Weibern“ gesprochen hatten, begannen eine der neuen Mitschülerinnen vorsichtig zu umwerben. Auch ich schwärmte für diese blonde, temperamentvolle und schlagfertige Schönheit mit den munteren Äuglein, gestand mir das aber nicht einmal selbst ganz ein. Außerdem war mein Vater 1950 gestorben und meine Mutter musste mich als Angestellte der Sozialversicherung mit ihrem recht schmalen Gehalt und meiner kleinen Halbwaisenrente allein durchbringen. Da war Lernen mit voller Konzentration angesagt, denn als einziges Kind war ich die lebende Altersversorgung meiner Mutter. Sie sah einer nicht besonders üppigen Rente entgegen, und ich durfte ihr und mir keine schulischen Pannen zumuten.

Feste Bindungen entstanden aber zwischen uns Vierzehnjährigen anfangs ohnehin nicht. Die Scheu vor dem unbekannten Reich der Liebe und gar der Sexualität war bei Jungen und Mädchen noch zu groß. Eine andere Mitschülerin hat beim Klassentreffen 2005 von versäumten Gelegenheiten der Schulzeit gesprochen und erhielt Zustimmung. Erst ab ungefähr der 11. Klasse gab es mindestens eine feste Beziehung, die nach der Schulzeit auch in einer Ehe mündete, die allerdings nicht das Leben lang hielt.

Ein Direktor

Indessen war mein einstiger Englischlehrer durch Staats- und Parteitreue zum Stellvertretenden Direktor und bald zum obersten Chef der Schule aufgestiegen. Er erteilte einen strikt am historischen Materialismus, das heißt der marxistischen Geschichtsinterpretation orientierten, aber in den Fakten und seiner inneren, glasklaren Logik exzellenten Geschichtsunterricht. Außerdem sorgte er für eine lückenlos staatstreue Orientierung der Schule und schonte sich dabei nicht. Für unsere Entwicklung schuf er auch die dazu nützlichen Verbindungen. Dabei kam ein Zufall gelegen.

Einige Schüler der 12. Klasse hatten an den tschechischen Schriftsteller deutscher Sprache, F.C. Weiskopf, geschrieben, der sich damals gerade in der Volksrepublik China aufhielt. Weiskopf antwortete und bald hielt er bei uns eine Schriftstellerlesung. Uns alle faszinierte seine Fähigkeit, aus seinem Leben ganz unkompliziert zu berichten und dabei vom freien Plauderton fast unmerklich auf den Text seiner veröffentlichten Erzählungen überzuleiten. Das festigte die Beziehungen zu Weiskopf, den ich heute noch gern lese, und zur Tschechoslowakei (ČSR, später ČSSR). Bald erhielt unsere Schule den ehrenvollen Namen „Klement Gottwald“ (des Staatspräsidenten und Vorsitzenden der KP der ČSR) und sie war „Schule der deutsch-tschechoslowakischen Freundschaft“.

 

Der Botschafter dieses Landes war bei den meisten Schulfesten freundlicher Ehrengast und man konnte bei uns auch Tschechisch lernen. Die Nationalhymne der Tschechoslowakei mit den damaligen Texten (ein Teil für Tschechien, der die Schönheit der Natur lyrisch besingt, danach eine Passage – der Slowakei gewidmet – die an den antifaschistischen Aufstand der Slowaken 1944 erinnern soll.) kann ich heute noch. Text und Melodie des tschechischen und des jetzt getrennten slowakischen Teils sind gleich geblieben.

Der Direktor tat noch etwas anderes für unsere Bildung. Aus seiner Jugendzeit kannte er einen Arbeiter des nahen Reichsbahnausbesserungswerkes (RAW) Schöneweide, der jetzt auch ehrenamtlich Rudertrainer war. Dem bot er Gelegenheit, an unserer Schule für seinen Sport zu werben und bald war fast unsere halbe Klasse, auch ich, in der Sektion Rudern der Betriebssportgemeinschaft (BSG) Lokomotive RAW Schöneweide. Das kräftigt die Arme: In dieser Zeit gab es für mich keine klemmenden Schiebetüren der Berliner S-Bahn. Spätestens beim zweiten Versuch waren sie immer offen, auch wenn Tunichtgute sie von innen heimlich zu blockieren versuchten. Die meisten Mitschüler ruderten aber nicht lange. Doch einmal auf den Geschmack gekommen, wechselten einige dann nur die Sportart – ich ging zur Leichtathletik und war ein leidlicher Mittelstreckenläufer – andere wechselten auch bloß den Verein.

Zweierlei habe ich von da mitgenommen: Erstens, wer im Sommer auf dem Wasser Spaß haben will, muss im Winter bei der Bootspflege mitmachen. Seitdem habe ich was gegen Leute, die im Wald zwar jagen, aber sich vor der winterlichen Wildfütterung und anderen dazu gehörenden Arbeiten drücken wollen. Zweitens habe ich mir etwas Freude bewahrt, die Welt vom Wasser aus zu sehen und verdanke dem einige schöne Bootstouren, zuletzt mit 53 Jahren, mit dem Paddelboot auf den Seen Mecklenburgs.

Einige Mitschülerinnen und Mitschüler

Ich möchte den Leserinnen und Lesern nun einige meiner Klassenkameradinnen und -kameraden vorstellen. Um nicht zu viel Persönliches zu verraten, stehen in diesem gesamten Abschnitt keine oder nur veränderte Namen.

Eine Mitschülerin, nennen wir sie hier Annemarie, verschwand nach vielen Versammlungen der einzigen Jugendorganisation (Freie Deutsche Jugend = FDJ) oft eilig im Direktorzimmer und dieser erwies sich dann am nächsten Tage als wohlinformiert. Das war kein Geheimnis. Sie handelte aber aus fester Überzeugung und war sonst eine unauffällige, aber nicht allgemein beliebte Mitschülerin mit nur mäßigen schulischen Leistungen.

Ein anderer Mitschüler, Norbert, war findiger Organisator von Klassenfahrten, technisch begabt und hatte Geschick beim Anfertigen von Wandzeitungen. Da wir Fasermaler noch nicht hatten, malte und schrieb Norbert auf großen Flächen mit Tuschpinsel und Stempelfarbe oder Tinte. Norbert hatte auch eine tolle Methode fürs Abschreiben bei angekündigten Klassenarbeiten ersonnen. Unsere Bänke und Tische standen teilweise unmittelbar an der Fensterwand. Die Fensterbretter ragten handbreit in den Raum. Norbert spannte zu Hause ein Blatt Papier in die Schreibmaschine seiner Mutter, legte einen Kohlebogen verkehrt herum dahinter und tippte ohne Farbband einen Spickzettel. Dadurch erschien das Geschriebene auf der Rückseite des Zettels in Spiegelschrift. Das klebte er nun mit der Spiegelschrift nach außen unter das Fensterbrett und ließ auf seinem Tisch wie versehentlich einen Taschenspiegel liegen, in dem er natürlich seinen Spickzettel lesen konnte. So mancher Lehrer nahm ihm misstrauisch kurz den Spiegel ab und untersuchte ihn – ergebnislos, denn der Spickzettel erschien natürlich nur darin, wenn man genau auf Norberts Platz saß und der Spiegel entsprechend lag. Die heutige Pädagogik verurteilt übrigens Spickzettel nur noch bedingt, denn bei der Konzentration der Einträge auf einem kleinen Papierstück muss man den Stoff gut durcharbeiten, um auszuwählen. So tritt ein Lerneffekt ein und an manchen Volkshochschulen wurden die Kursteilnehmer schon aufgefordert, den erarbeiteten Stoff auf einem winzigen Papierstück zusammenzufassen.

Eine weitere Schülerin, ich nenne sie Sandra, die erst etwas später zu uns stieß, hatte eine bemerkenswerte Kindheit. Ihr Vater war Spezialist auf irgendeinem auch waffentechnisch brauchbaren Fachgebiet, ich weiß nicht auf welchem. Er wurde 1945 samt Familie in der UdSSR interniert(3), um ihn dort für die Bewaffnung der Sowjetunion auszunutzen. Sandra war in der Gegend von Suchumi (heute Georgien beziehungsweise Abchasien) untergebracht. Auf meine Frage, wo genau, antwortete sie mir: „Dietrich, so etwas hat keinen Namen.“ Ihr dortiges Schulzeugnis stellte die Schulbehörde vor Probleme: Sandra wies es in Russisch vor, und nach dortiger Systematik war die 5 die beste, die 1 die schlechteste Zensur. Auf die Frage, ob sie keine Übersetzung hätte, drehte sie es um: Auf der Rückseite war es in georgischer Schrift – wunderschön, jedoch für deutsche Leser nicht hilfreich. Aber es konnte dann doch festgestellt werden, dass ihre dortigen Schulkenntnisse einen nahtlosen Übergang in die DDR-Oberschule zuließen, was sich auch praktisch bestätigte. Auch Sandra war – ausgehend vom Antifaschismus – staatstreu. Kein Wunder, die Nazis hatten 27 Mitglieder ihrer weitläufigen Familie umgebracht. Wohl deshalb verlor sie in der Schule auch kein Wort der Kritik darüber, dass die Sowjetunion ihre Familie jahrelang festgehalten hatte.

Es war die Zeit des Korea-Krieges (1950–1953). Eines Tages erschien Sandra mit einem seidenen Kopftuch, darauf sah man eine genaue Karte Koreas. In dieser Form wurden den US-Piloten Landkarten des Kriegsgebietes mitgegeben – wetterfest, unempfindlich gegen Knautschen und sehr einfach in die Tasche zu stecken. Wer je bei Regen oder kräftigem Wind im Freien eine hier übliche, papierene Wanderkarte zusammenlegen musste, wäre für solch eine Ausführung dankbar. Sandras Tuch war einem über Nordkorea abgeschossenen, gefangenen US-Piloten abgenommen worden und als Trophäe bis zu ihr gelangt.

Einen Mitschüler nannten wir wegen seiner Körpergröße meist „der Lange“. Hochintelligent, mit sehr schnellem, kritischem und sicherem Urteil, konnte er es nicht lassen, gelegentlich andere Mitschüler, auch mich, seine geistige Überlegenheit unangenehm fühlen zu lassen. Er war gläubiger Katholik, wovon er aber kein Aufhebens machte.

Schülerleben und Politik

Die FDJ war die einzige zugelassene Jugendorganisation der DDR. Entstanden im Exil während der Nazizeit und anfangs überparteilich aber jugendbezogen, wandelte sie sich bald zu einer völlig auf die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) fixierten Nachwuchsorganisation derselben. Man konnte mit 14 Jahren in die FDJ eintreten. Das taten aber in Berlin zu dieser Zeit längst nicht alle Jugendlichen. In meiner Klasse mit ungefähr acht Schülerinnen und 22 Schülern waren bis etwa 1953 nur elf FDJ-Mitglieder, wenn ich mich richtig erinnere. Erst dann traten einige von uns ein, so auch ich.

1953 war ein ereignisreiches Jahr. Am 5. März starb Stalin und auch an unserer Schule herrschte Trauer, teils echt empfundene, wie bei Annemarie, die leise weinte, teils war sie pro forma. Im Schulfoyer stand ein Stalinbild mit Trauerflor. Als Anzeichen der beginnenden Militarisierung der DDR (parallel zur alten Bundesrepublik!) wurde das Stalin-Bild von zwei Schülern mit Luftdruckgewehren bewacht, was teilweise diskretes Kopfschütteln hervorrief. Wenige Tage später, am 14. März 1953, starb Klement Gottwald und wieder war Trauer in der Schule, die seinen Namen trug, angesagt.

17. Juni 1953 in Berlin

Das war kaum vorbei, überschlugen sich die Meldungen über Ereignisse in der DDR. Die Regierung hatte die Preise für mehrere Grundnahrungsmittel angehoben, Personen, die als privilegiert galten, zum Beispiel Hauseigentümern, die Lebensmittelkarten entzogen und sie auf das viel teurere Angebot der HO(4) verwiesen. Wir kannten eine solche Frau persönlich. Ihr lebenslang mühsam zusammengespartes, altes Haus mit einem Vordereingang und Seitenflügel warf wesentlich weniger ab, als zur Gebäudeerhaltung notwendig war. So musste die Besitzerin von ihrer geringen Rente zuschießen. Sie wurde nun plötzlich vom Staat geschröpft, wie eine Schwerreiche mit unredlich erworbenem Besitz und war der Verzweiflung nahe. So ging es vielen, doch war die Kritik noch gedämpft, neben der staatlichen Repression auch durch die Einsicht in die komplizierte wirtschaftliche Lage der DDR. Dann wurden die Arbeitsnormen allgemein und ohne Diskussion um zehn Prozent erhöht.

Am 9. und 11. Juni 1953 wurden die Preiserhöhungen bei zunehmendem Grummeln im Volke eilig zurückgenommen und die entzogenen Lebensmittelkarten wieder gewährt. Die Normerhöhungen aber blieben. Da lief das Fass über. So ließen die so oft glorifizierten Arbeiter nicht mit sich umgehen! Die Rücknahme von einigen Maßnahmen wurde auch als Schwäche gedeutet. Jetzt hieß es nachstoßen. Am 16. Juni 1953 streikten – so berichtet es die verbreitete Geschichtsschreibung(5) – die Bauarbeiter der bekanntesten Baustelle der DDR, der Stalinallee in Berlin (heute rückbenannt in Frankfurter Allee) und demonstrierten für ihre Forderungen. Die Rundfunksender Westberlins, speziell der RIAS(6) berichteten breit und intensiv. Auf den Straßen Ostberlins kochte, auch unter uns Jugendlichen, die Gerüchteküche bis in die Nacht.

Am 17. Juni 1953 früh kreuzten in Berlin-Johannisthal am Groß-Berliner Damm Kolonnen von Arbeitern mit Gesang meinen Schulweg. Irgendjemand versuchte anzustimmen: „Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wiederhaben“, was ich damals wie heute ziemlich unpassend fand und finde. Aber die meisten Menschenzüge auf den Straßen sangen nicht, sondern schritten still dahin. In der Schule war natürlich unter Schülern und Lehrern große Unruhe. Unsere Blicke gingen aus den Klassenfenstern zur S-Bahn: Fährt sie noch oder streikt sie auch? Noch bessere Sicht auf die Straße und S-Bahn hatten wir aus den Turnhallenfenstern, weil sie näher zur Hauptstraße lagen. Plötzlich ertönte durch unseren Sportlärm hindurch Kettengerassel: Ein einzelner Panzer rollte stadteinwärts. Ihn begleitete unser vielstimmiger, gellender Wutschrei!

Gegen Mittag endete unser Unterricht. Die S-Bahn fuhr nicht mehr, was wir freudig registrierten. Eine Reihe meiner Mitschüler griff sich ihre Fahrräder und strebte der Innenstadt zu, um sich ein eigenes Bild zu machen. Ich selbst blieb zu Hause, ich weiß nicht mehr, ob ich damals schon ein Rad besaß oder aus Vorsicht den gefährlichen Ereignissen fern blieb. Aber viele zeitgenössische und historische Beschreibungen der Ereignisse berichten über zahlreiche junge Radfahrer, die zwischen den Demonstrationszügen pendelten, Nachrichten zwischen ihnen übermittelten und das Geschehen beobachteten.

Die vereinzelte Behauptung, das seien westliche Agenten und Rädelsführer gewesen, kann ich insgesamt nicht beurteilen. Jedenfalls waren meine radelnden Klassenkameraden ganz bestimmt keine bewussten Täter, ganz gleich wofür, sondern einfach neugierig und auch jugendgemäß abenteuerlustig. Übrigens gibt es mindestens ein Bild der Novemberrevolution 1918 in Berlin, auf dem ebenfalls Jungen neben der Spitze eines Demonstrationszuges herlaufen (zum Beispiel unter www.preussen-chronik.de), allerdings damals noch ohne die seinerzeit teuren Fahrräder.

Im RIAS wurde berichtet, dass die Stahlwerker von Hennigsdorf, nordwestlich von Berlin, durch Westberlin hindurch nach Ostberlin gezogen kämen. Gleichzeitig ging aus den Meldungen hervor, dass DDR-Polizei auf Demonstranten schoss, dass der Blockpolitiker Otto Nuschke (DDR-CDU) mit seinem Auto kurzzeitig nach Westberlin abgedrängt wurde, dass unter den Demonstranten plötzlich an vielen Orten Personen auftauchten, die man als SED-gesteuert ansah, weil sie zum Abbruch der Kundgebungen aufforderten. Und die Präsenz von sowjetischen Panzern nahm zu. Es folgte die Verhängung des Ausnahmezustandes mit Versammlungsverbot und nächtlicher Ausgangssperre.

Gegen Abend strahlte der schon tagsüber hochaktive RIAS einen Kommentar aus, der den Demonstranten riet, die Aufmärsche abzubrechen. Dazu wurde gesagt, dass erst nach dem Ende der Demos die Sowjetmacht die DDR-Führung für politisches Versagen maßregeln würde und deshalb bald äußere Ruhe eintreten sollte. Ich weiß nicht, wer da sprach, aber nach eigenem Bekunden hat damals Egon Bahr(7) die Forderungen der Arbeiter der DDR prägnant zusammengefasst und intensiv verbreitet.

 

Er könnte auch gut und gern diese Argumente geliefert haben, einen Aufstand abzubrechen, der bei seiner weiteren Fortsetzung nur noch mehr sinnloses Blutvergießen kosten würde. Falls der RIAS wirklich, wie die DDR-Oberen behaupteten, mit dem US-Geheimdienst verquickt war, benutzte er jedenfalls eine psychologisch geschickte Argumentation, um den Demonstranten den unvermeidlichen Rückzug schmackhaft zu machen.

Die Nacht zum 18. Juni 1953 war für mich lange schlaflos. Auf der südöstlichen Ausfallstraße durch Grünau, Adlershof, Schöneweide (damals Adlergestell und Grünauer Straße, heute Michael-Brückner-Straße) rollten vom Abend bis in die tiefe Nacht ununterbrochen Panzer. Diese Straße lag von meiner Wohnung vielleicht 1 200 Meter Luftlinie entfernt. In der Stille der Nacht hörte man einen Panzer damaliger Bauart auf befestigter Straße etwa vier bis acht Kilometer weit. An einer bestimmten Stelle erreichten sie anscheinend anderen Straßenbelag oder wechselten die Fahrweise, hörbar durch den anderen, grelleren Klang ihrer Ketten. So konnte ich durch das dröhnende Grundgeräusch der Kolonnen hindurch mühelos die Kettenfahrzeuge mitzählen. Es waren viele Hundert, ehe ich endlich unruhig einschlief.

An den Folgetagen war die Lage in Berlin noch gespannt. Die Treskowbrücke über die Spree zwischen Nieder- und Oberschöneweide wurde von sowjetischen Soldaten in einer Maschinengewehrstellung bewacht. Panzer waren in den Außenbezirken, zu denen Schöneweide gehörte, aber selten, in der Innenstadt schon häufiger zu sehen. Die S-Bahn fuhr noch tagelang nicht. Das führte zu einem traurigen Nachspiel. Ein junger Lehrer, Herr Hachfeld, wohnte in Eichwalde, am Stadtrand von Berlin und kam sonst mit der S-Bahn zum Unterricht. Als sie ausfiel, benutzte er sein Fahrrad. Zwischen Grünau und Adlershof gab es damals eine Brücke über den Teltowkanal, die heute Stelling-Janitzky-Brücke heißt und inzwischen umfassend erneuert wurde. Sie hatte aber damals unter den jungen Radfahrern einen üblen Ruf: Steiler Anstieg von der Straße zum Brückenscheitel, dazu Übergang von Asphaltbelag auf Kopfsteinpflaster und fast oben wechselte der einseitige Radweg auf die andere Fahrbahnseite.

Unser junger Lehrer muss dieses Hindernis wohl schlecht gekannt haben und glaubte, den Seitenwechsel des Radweges noch rechtzeitig zu schaffen. Dabei geriet er unter einen LKW und wurde tödlich verletzt. Die ganze Schule trauerte, Lehrer wie Schüler. Ich werde seine Beisetzung nicht vergessen: Wir trauernden Schüler, meist in ungewohnten, dunklen Anzügen mit langen Hosen, standen bei glühender Hitze lange auf dem Friedhof. Mehrere kollabierten und mussten in die etwas kühlere Feierhalle gelegt und mit Wasser besprüht werden.