Blutsbande

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Z serii: Lindemanns #208
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Blutsbande
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Dieter Daub

Blutsbande

Roman


Dieter Daub, geboren 1943, arbeitete als Arzt in Aachen und Karlsruhe und war als Geschäftsführer an den Städtischen Kliniken in Karlsruhe und München tätig. Unmittelbar nach der Wende arbeitete er vorübergehend als Arzt beim Bezirk Halle / Saale und erlebte den Zusammenbruch der DDR hautnah mit. Schon damals kamen ihm Zweifel, ob hinter der Selbstauflösung diese Staates, der seine Bürger so lückenlos überwachte, nicht eine Strategie stehen könnte.

... sondern eine Erzählung nimmt

ihren Anfang und findet ein Ende.

1

(dpa) Düsseldorf, 21.01.1986:

Dramatischer Anstieg der Drogentoten in Nordrhein-Westfalen. Die Landesregierung informierte auf einer eigens einberufenen Pressekonferenz über den besorgniserregenden Anstieg von Opfern unter den Heroinabhängigen des Landes. Besonders betroffen seien die grenznahen Regionen zu den Niederlanden. Den höchsten Anstieg hätten die Gesundheitsbehörden im Stadt- und Landkreis Aachen feststellen können, wo sich die Zahl der an einer tödlichen Überdosis verstorbenen Fixer innerhalb von zwei Jahren mehr als verdreifacht habe. Eine solche Häufung sei bisher weder im In- noch im Ausland beobachtet worden, auch wenn die unterschiedlichen Meldesysteme und die hohen Dunkelziffern in den verschiedenen Ländern in Rechnung gestellt würden.

Eine Erklärung für dieses Phänomen konnte der Sprecher der Landesregierung nicht liefern. Er schloss jedoch aus, dass die Sterberaten auf einem zufälligen Zusammentreffen verschiedener Beobachtungen beruhen könnten. Bezogen auf die Zahl der Konsumenten illegaler Drogen seien weder in den USA noch sonst irgendwo auf der Welt solch hohe Zahlen von tödlichen Zwischenfällen berichtet worden.

Der Regierungssprecher war sichtlich bemüht, jede Kritik an der liberalen Drogenpolitik der Niederlande zu vermeiden, denn natürlich wurde ein Zusammenhang zwischen dieser und der Häufung der Todesfälle im grenznahen Bereich von den Medienvertretern hinterfragt. Er wies entschieden den Verdacht zurück, die erschreckende Zahl der Drogentoten im Raum Aachen sei dem Abbau der Grenzkontrollen im Rahmen des Abkommens von Schengen geschuldet. Die vorgestellten Zahlen beträfen einen Zeitraum vor dem Inkrafttreten des Vertrages. Die Landesregierung habe eine gemischte Kommission aus Mitarbeitern des Landesgesundheitsamtes und des Landeskriminalamtes eingerichtet mit dem Auftrag, die Vorgänge zu untersuchen und Abhilfe zu schaffen.

Diese nüchterne Meldung entsprach durchaus den Tatsachen, gab aber in keiner Weise die Atmosphäre wieder, in welcher die Pressekonferenz ablief, und erwähnte auch nicht den Eklat, der zu ihrem Ende führte. Es kam zu tumultartigen Szenen, weil sich einige Journalisten mit der reinen Beschreibung der Situation nicht zufrieden geben wollten und nach Erklärungen verlangten.

„Sind der Landesregierung neue Vertriebswege für illegale Drogen bekannt? Gibt es neue Lieferanten am Markt, die wesentlich reinere Substanzen anbieten, als dies bisher der Fall war?“

„Der Landesregierung liegen keine neuen Erkenntnisse in dieser Frage vor.“

„Wie hoch sind die Todesraten im grenznahen Bereich in den Niederlanden?“

„Wir haben das natürlich untersucht. Unseren niederländischen Kollegen sind keine Veränderungen aufgefallen. Die Zahl der Drogentoten in der Provinz Limburg blieb in den vergangenen Jahren konstant niedrig, sogar mit leicht fallender Tendenz. Auch in anderen Stadt- und Landkreisen der Niederlande unmittelbar an der Grenze zur Bundesrepublik haben sich innerhalb des Vergleichszeitraums keine auffälligen Veränderungen gezeigt. Es handelt sich hier eindeutig um ein deutsches Phänomen.“

„Also wieder eine Folge der völlig verfehlten Drogenpolitik in diesem Land! Die Kriminalisierung des Drogenkonsums schafft unsere Drogenprobleme.“

„Jetzt lassen Sie uns nicht schon wieder über die Anti-Drogenpolitik in Nordrhein-Westfalen streiten. Wir befinden uns in Einklang mit den Grundsätzen im Bund und in der internationalen Staatengemeinschaft.“

„Sie lassen sich von den USA und deren puritanischen Frauenverbänden manipulieren, statt auf die Vernunft zu setzen und der Realität ins Auge zu blicken. Das Streben nach Glück lässt sich nicht durch Strafgesetze verbieten, und jeder hat das Recht, nach seiner Façon glücklich zu werden.“

„Aber unsere Verbündeten haben auch das Recht, ihre Soldaten, die sie zu unserem Schutz hier stationiert halten, auf ihre Weise zu protegieren.“

„Aber nicht, indem sie uns zwingen, unser Gemeinwesen in einen Polizeistaat zu verwandeln. Da hören Freundschaft und Dankbarkeit auf!“

„Meine Damen und Herren, bitte lassen Sie uns zum eigentlichen Thema zurückkommen!“

„O.K., legalize it!“

„Wie bitte?“

„Legalize it! Sonst bringen Sie mit Ihrer Drogenpolitik noch mehr Landeskinder um. Nicht das Heroin tötet unsere Abhängigen, das besorgt ausschließlich Ihre Politik!“

„Ich denke, auf dieser Basis macht es keinen Sinn weiter zu diskutieren. Die wesentlichen Fakten habe ich Ihnen übergeben und die Beurteilung der Landesregierung habe ich dargelegt. Ich schließe hiermit die Pressekonferenz.“

Die Nerven lagen blank in der Landeshauptstadt, aber besonders natürlich in Aachen, und Professor Valentin, der Direktor des Institutes für Gerichtsmedizin der medizinischen Fakultät an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule, verstand die Welt nicht mehr. Er saß in seinem Institut an seinem schweren, dunklen Eichenschreibtisch, schaute aus dem Fenster auf die Bäume des kleinen Parks jenseits der Straße und ließ die Ereignisse der vergangenen Tage Revue passieren. Er versuchte wieder Ordnung in seine Welt zu bringen, Ordnung, die er so dringend brauchte, um sich in ihr zurechtzufinden und um sich wohlzufühlen. Der Aufruhr in seinem sonst so beschaulichen Institut, welcher durch die Pressemitteilung ausgelöst worden war, hatte sein psychisches Gleichgewicht gestört und seine soziale Befindlichkeit massiv beeinträchtigt.

„Was war das für eine Woche?“, fragte er sich. „Ein solcher Trubel ist Gift! So etwas kann ich wirklich nicht brauchen; das macht mich fertig.“

Professor Dr. med. Heinrich Wilhelm Valentin hatte es immer als ein großes, manchmal sogar unverdientes Glück empfunden, dass er vor zehn Jahren den neu gegründeten Lehrstuhl für Gerichtsmedizin in Aachen hatte übernehmen können. Er hatte sich nicht, wie dies bei Berufungen an bereits etablierten Lehrstühlen notwendig war, an seinem Vorgänger messen lassen, hatte keinem altgedienten Mitarbeiter das Gnadenbrot bis zu dessen Pensionierung geben müssen, hatte keine kaum mehr vermittelbaren Oberassistenten zu versorgen. Sein Dienstantritt bedeutete die Stunde null für das Fachgebiet und die Organisation, und er hatte beiden seinen Stempel aufdrücken können. Er erinnerte sich, wie er stolz die Berufungsurkunde des Ministers entgegengenommen hatte, die ihm der Dekan in einer kleinen, aber bewegenden Feierstunde überreichte. Er fühlte noch das pergamentartige Papier in seinen Händen, erinnerte sich an den würzigen Geruch der Tusche, mit der die Urkunde ausgefertigt war, an das Siegel mit seiner festen Prägung, welches ihm die Unvergänglichkeit dieses Aktes verdeutlichte: Er war Ordinarius, Beamter auf Lebenszeit und praktisch unkündbar. Er hatte sein Lebensziel erreicht und hatte sich damals fest vorgenommen, sich in Zukunft niemals mehr zu beschweren, weil er so vom Glück verwöhnt worden war.

Von diesem Vorsatz war nicht mehr viel übrig geblieben. Sein Traumberuf erwies sich nicht als Quelle reinster Freuden, sondern brachte auch reichlich Ärger mit sich. Er konnte in seinem Institut nicht schalten und walten, wie er wollte, sondern musste eine Unzahl von Dienstanweisungen und Verwaltungsvorschriften beachten, er konnte niemanden einstellen oder gar feuern, das war Sache der Personalverwaltung, er war gegenüber dem Dekan und dem Rektor weisungsgebunden in allen Belangen außer in rein wissenschaftlichen Fragen und er musste um jeden Pfennig kämpfen, den er zur Bewältigung seiner Aufgaben brauchte. Dabei war er allein für jedes Ergebnis, welches in seinem Institut erarbeitet wurde, verantwortlich, für jeden Fehler musste er geradestehen, auch wenn dieser nachweislich durch fehlende Mittel verursacht war, die ihm die Verwaltung verweigert hatte.

Seine familiäre Situation belastete ihn außerdem. Weder seine Ehefrau noch seine beiden Söhne hatten sich wirklich in Aachen eingelebt und trauerten ihrer westfälischen Heimat nach. Auch er fühlte sich im Rheinland nicht wohl, machte sich Vorwürfe, dem Ruf gefolgt zu sein ohne zu bedenken, dass er und die Seinen in Münster fest verwurzelt waren und dort auch gerne geblieben wären. Er hatte sich über seine eigenen Gefühle und die Bedenken seiner Frau – die Einwände der Kinder glaubte er damals als unerheblich bewerten zu können, denn sie waren ja noch klein – hinweggesetzt, die Chance ergriffen und sich letztlich eingestehen müssen, dass er sich falsch entschieden hatte. Deshalb verletzten ihn die ständigen Klagen zuhause umso mehr: Seine Familie hatte ja recht. Eine westfälische Eiche verpflanzt man eben nicht ungestraft ins Rheinland.

Die massive Gestalt – seit seinem Dienstantritt hatte er bestimmt 10 kg zugelegt, der Bauch hing ihm über den Gürtel und seine Bewegungen waren behäbiger geworden – füllte den breiten Sessel völlig aus. Sein Gesicht war runder, das ehemals dunkle Haar licht und grau, und es fiel ihm zunehmend schwerer, die Stufen zu seinem Dienstzimmer zu überwinden, ohne eine Verschnaufpause einzulegen. Das Treppensteigen war die einzige körperliche Betätigung, der er noch regelmäßig nachging; seinen Söhnen machte es schon lange keinen Spaß mehr, mit ihm auf der Wiese hinter dem Haus Fußball zu spielen. Er war einfach zu langsam und schwerfällig geworden, er sah wesentlich älter aus, als es seinen 55 Lebensjahren entsprach, und heute fühlte er sich auch so.

 

Valentin ließ die vergangenen Tage in Gedanken noch einmal vorüberziehen, Tage, die ihn aus einem beschaulichen Gelehrtenleben im Schatten der allgemeinen Aufmerksamkeit quasi über Nacht mitten ins Licht der öffentlichen Wahrnehmung befördert hatten. Die ständigen Nachfragen aus der Politik, von den Medien, die Interviews, die er Rundfunk- und Fernsehsendern geben musste, belasteten ihn. Er hatte bereits mehrfach alles gesagt, was er zum Thema der Drogentoten beizutragen hatte, und er verstand nicht, dass immer wieder neue Reporter auftauchten und dieselben Fragen stellten. Mit seinen Antworten waren die Interviewer in unterschiedlichem Maße zufrieden, je nachdem, wie sie grundsätzlich zu der Drogenfrage eingestellt waren. Letztlich wollten alle nur ihre Meinung bestätigt sehen, und das entsprach so gar nicht seiner wissenschaftlichen Denkweise. Mit der Zeit konnte Valentin die erwünschten Antworten bereits aus der Art der Fragestellung herauslesen und hatte beschlossen, sich dieser Technik zu bedienen; denn so wurde er die lästigen Anrufer und unerbetenen Besucher am schnellsten wieder los. Was auf Grundlage seiner Mitteilungen dann in den Medien verbreitet wurde, hatte ohnehin mit dem Gesagten nur wenig Ähnlichkeit.

Im Gegensatz dazu waren die ermittelnden Kriminalbeamten penetrant und schienen ihm sogar Vorwürfe machen zu wollen, weil er keine Erklärung für die Häufung der Todesfälle hatte. Als sei es seine Schuld, dass Fixer sich Heroin spritzten und dann daran zu Grunde gingen. Das alles hatte doch nichts mit ihm zu tun, er war nur der Chronist, das ausführende Organ, er untersuchte, erstellte Protokolle und Gutachten. Er konnte und wollte niemanden mehr sehen, keinen seiner Mitarbeiter, auch nicht seinen Freund, Oberstaatsanwalt Roland Schwarz.

„Frau Kohler, bitte stellen Sie heute kein Gespräch mehr durch und lassen Sie niemanden vor“, wies er seine Sekretärin an und machte Anstalten, die Tür zum Vorzimmer zu schließen, worauf er sonst meist verzichtete, weil er das autoritär empfand. „Ich muss mal in Ruhe nachdenken. Diese Hektik halte ich nicht mehr aus.“

„Mache ich. Allerdings hat Rother um einen dringenden Termin gebeten. – Wenn Sie ungestört sein wollen, dann fahren Sie am besten nach Hause.“

„Wissen Sie, was er will?“

„Nein, aber es schien wichtig zu sein.“

„Ich finde, er sollte sich etwas zurücknehmen nach dem Debakel mit seinem Artikel in ‚Blood‘. Er ist der jüngste und unerfahrenste der Assistenten und muss noch einiges lernen.“

„Aber Sie können ihn doch gut leiden? Wenigstens konnten Sie das früher ...“

„Er war einer meiner besten Doktoranden und ich war wirklich glücklich, als er sich bei uns beworben hatte. Aber jetzt hat sich die Situation grundlegend geändert.“

„Sie wollen ihn doch nicht etwa vor die Tür setzen? Er ist so ein sympathischer und liebenswerter Mensch.“

„Und ein gut aussehender Junggeselle.“

„Zweifellos“, erwiderte die Sekretärin verlegen. Valentin glaubte ein leichtes Erröten in ihrem Gesicht ausmachen zu können.

„Nein, kündigen kann ich ihm wegen der ‚Blood‘-Geschichte nicht. Der Personalrat würde dem außerdem nie zustimmen.“

Es wäre auch nicht gerecht gewesen, Rother allein die Schuld an der Zurückweisung ihres gemeinsamen Artikels anzulasten. Valentin selbst hatte ja, bevor er sich als Zweitautor auf das Paper hatte setzen lassen, alle Unterlagen mit der ihm eigenen Akribie untersucht und für richtig befunden. Es bestand überhaupt kein Zweifel, dass Rother gewissenhaft recherchiert hatte. Die Analyseautomaten waren neu und arbeiteten fehlerfrei. Dennoch hatte sich Valentin auch noch einmal mit seinem Fachkollegen von der Labormedizin besprochen und er hatte selbst am Mikroskop die Blutausstriche durchgemustert und fand auch dort die Ergebnisse der Automaten bestätigt: fast ausschließlich kleine Erythrozyten mit normalem Hämoglobingehalt. Er erinnerte sich nicht, ein solches Bild jemals gesehen zu haben, denn in der Regel sind bei Eisenmangel die Zellen zwar ebenfalls klein, aber immer mit deutlich vermindertem Farbstoffgehalt. Aber er war kein Hämatologe und hatte sich sein Leben lang wenig mit Blut beschäftigt. Gern hätte er diese Bilder Baron von Ferner gezeigt, dessen Steckenpferd die Erythropoese war, aber das kam überhaupt nicht in Frage. Valentin konnte doch unmöglich mit einer ernsthaften wissenschaftlichen Frage zu seinem Erzfeind pilgern. Er malte sich aus, mit welcher Arroganz und Schadenfreude dieser reagieren würde, wenn seine Sekretärin auch nur um einen Termin gebeten hätte. Sie hatten schon seit Jahren kein Wort mehr gewechselt, seit der Zeit, als von Ferner quasi im Alleingang die Habilitation von Valentins Oberassistent Pfeiffer sabotiert hatte. Nein, den Baron um Hilfe zu bitten, das kam nicht in Frage.

Die Präparate einem anderen Kollegen zu schicken hätte damals auch keinen Sinn ergeben, denn außer einem vagen Gefühl der Unsicherheit hatte er keinen konkreten Verdacht und einfach die Frage zu stellen „Sehen Sie auch abnormale rote Blutkörperchen?“, das war zu trivial. Es ist in der Wissenschaft üblich, wenigstens mit einer Hypothese aufzuwarten, bevor man Präparate auf Reisen schickt.

Unzufrieden mit sich und der Welt packte er seine Tasche und verließ das schmucklose Gebäude, in dem die Gerichtsmedizin untergebracht war, bis das neue Klinikum bezogen werden konnte beziehungsweise bezogen werden musste.

Das Haus war nicht als Institutsgebäude geplant. Es war in der Gründerzeit von einem handwerklichen Betrieb errichtet und die großen, hohen Werkshallen waren mit nicht geringem Aufwand umgebaut worden, sogar mit einem Zwischengeschoss an der Stirnseite, in dem sein Dienstzimmer, sein Sekretariat und der Besprechungsraum lagen. Die Zimmerhöhen waren im gesamten Gebäude großzügig bemessen, was sich für die Be- und Entlüftung der Arbeitsräume als sehr vorteilhaft erwies: In der Gerichtsmedizin stinkt es immer, denn dort werden ja nicht nur frische Leichen untersucht. Er war mit der baulichen Lösung sehr zufrieden, denn er war weit weg von den Kliniken, sein eigener Herr im eigenen Haus, und kaum jemand von der Verwaltung kümmerte sich um ihn und sein Institut. Er lebte ein Eigenleben, und das kam ihm und seinem Bedürfnis nach Selbstständigkeit und Ruhe entgegen. Er freute sich nicht auf den Umzug und hatte lange versucht, die Gerichtsmedizin davon auszunehmen. Aber dies widersprach der Vorgabe der Landesregierung, nicht nur ein Universitätsklinikum zu bauen, sondern eine Konstruktion zu errichten, in der unter einem Dach eine gesamte medizinische Fakultät untergebracht werden konnte. Unter diesen Umständen waren die Wünsche eines Einzelnen, selbst wenn sie preiswerter und vernünftig waren, nicht durchzusetzen. Er hatte, auch in dieser Frage, bereits seit langem resigniert.

Der Weg zu seinem Auto war kurz. Sein reservierter Parkplatz, mit dem großen Schild „Institutsdirektor“ gekennzeichnet, lag direkt neben dem Haupteingang im Hof des alten Fabrikgebäudes. Auch dieses Privileg des kürzesten Weges würde man ihm im neuen Klinikum nehmen. Auf dem riesigen Parkplatz vor dem Fakultätsgebäude würde er sich fortan einen freien Platz suchen müssen; denn der Verwaltungschef hatte eindeutig erklärt, reservierte Parkplätze werde es im neuen Klinikum nicht mehr geben. Ein Umstand, der gerade für ihn besonders ungünstig war, denn er pflegte nicht vor 9 Uhr am Morgen zum Dienst zu erscheinen, und bis dahin würden die klinischen Mitarbeiter schon lange die besten Plätze in Beschlag genommen haben. Der Umzug würde in der Tat nur Nachteile bringen.

Seit mehreren Tagen schüttete es unaufhörlich, es war grau und schon vor 16 Uhr so dunkel, dass er die Beleuchtung am Auto hatte einschalten müssen. Dieses Wetter war wirklich etwas, womit er sich in den nun fast zehn Jahren, die er hier schon lebte, nicht hatte anfreunden können. Wenn es in Aachen einmal regnete, schien es nie wieder aufhören zu wollen. Er hatte vor seiner Berufung an den neu geschaffenen Lehrstuhl in verschiedenen norddeutschen Städten gewohnt, aber diese Art von Dauerregen hatte er nirgends erlebt. Als er Münster verließ, das ebenfalls als besonders verregnet gilt, hatten ihm seine Mitarbeiter einen Gruß mitgegeben: eines sei sicher, nämlich dass an seiner neuen Arbeitsstelle das Wetter besser sein würde, denn schlimmer als in Münster könne es nicht werden. Da hatten sich seine Westfalen leider geirrt.

Der Regen prasselte auf das Dach seines Mercedes. Der Verkehr um das Hauptgebäude der Technischen Hochschule war noch mäßig; die Rushhour hatte noch nicht eingesetzt – in der Regel war dort der Flaschenhals auf dem Weg nach Hause – und er kam zügig auf die Ausfallstraße zu jenem Villenvorort, zu dem sich das alte Bauerndorf im Verlauf der vergangenen Jahre entwickelt hatte. Er lebte gern dort, denn der Stadtteil hatte seinen unverwechselbaren Charakter bewahrt; es gab auch noch echte Bauernhöfe neben herrschschaftlichen Häusern, und die Felder und Weiden zogen sich bis zum alten Ortskern. Die Landschaft und die Architektur erinnerten ihn an seine Herkunft, nur mit dem Menschenschlag, der hier im Rheinland und am Niederrhein heimisch war, kam er nicht zurecht, – nicht nur in der Karnevalszeit, der er sich, wenn möglich, durch Flucht entzog; wenigstens für die so genannten tollen Tage. Aber das bedeutete nicht viel, denn die Aachener verhielten sich so, als sei an allen Tagen des Jahres Fastnacht, wenigstens nach seinen westfälischen Maßstäben.

„Papa, Papa! Wir haben dich im Fernsehen gesehen!“

„Aber lasst ihn doch erst einmal seinen Mantel ausziehen, er ist ja ganz nass.“

„Ich will aber alles genau wissen; meine Freunde werden mich das morgen in der Schule bestimmt fragen und da muss ich doch Antwort geben können“, beharrte Stephan, der ältere der beiden Söhne.

Valentin konnte gerade noch seinen Mantel an die Garderobe hängen, da wurde er schon aufs Sofa gezogen, das fast die gesamte Fensterfront zum Garten ausfüllte. Die beiden Jungs hingen förmlich an ihm und überschütteten ihn mit immer neuen Fragen. Obwohl ihm der Sinn so gar nicht danach stand, musste er ausführlich Bericht erstatten, wie die Reporter sein Institut gestürmt, Kabel verlegt, Lampen aufgestellt und immer wieder neue Einstellungen versucht hatten. Hingegen dass sie versucht hatten, ihn zu Aussagen zu verleiten, hinter denen er nicht stehen konnte, das verschwieg er den Kindern, denn er wollte sich nicht als ein Getriebener darstellen, sondern souverän und durchaus als Herr jeder noch so ungewöhnlichen Lage. Die Kinder sollten ihren Vater, wenn er schon gegen seinen Willen derart in die Öffentlichkeit gezerrt worden war, nicht als Opfer wahrnehmen, als das er sich selbst durchaus sah, sondern als den berühmten Professor, dessen Meinung national und international gefragt war.

Nachdem die Neugierde der Söhne hinreichend befriedigt war und sie sich wieder dem Spielen zugewandt hatten, konnte er seiner Frau das Wesentliche berichten. Sie hatte sich zu ihm aufs Sofa gesetzt, einen Schluck aus seinem Bierglas genommen, was er gar nicht schätzte, ihm aber dafür den Arm um die Schultern gelegt und ihn tröstend an sich gedrückt, – eine Geste, die er schon längere Zeit entbehren musste und die er jetzt dringend brauchte.

„Nimm doch nicht alles so schwer! Du bist doch kein Akteur in dieser Sache, lediglich der Berichterstatter. Dich macht doch keiner verantwortlich für diese Toten.“

„Du hast ja recht“, entgegnete er, „aber diese Situation belastet mich schon sehr. Ich weiß eben nicht, was die Reporter von mir wollen. Es bleibt mir doch nichts weiter zu sagen, als dass mir die auffällige Häufung von Drogentoten ein Rätsel ist. Offensichtlich ist für die Journaille ein ratloser Wissenschaftler ein gefundenes Fressen, nachdem der „Spiegel“ die Gefahr, die von der Heroinsucht ausgeht, publik gemacht und Horrorszenarien entwickelt hat, seit der Zusammenhang zwischen Sucht, AIDS und HIV offensichtlich geworden ist. Die Schreiberlinge wissen doch schon heute, wann der letzte Europäer durch AIDS ausgelöscht sein wird, und werfen der seriösen Wissenschaft Fahrlässigkeit und Ignoranz, ja Zynismus vor, wenn wir ihre Prognosen nicht bestätigen.“

„Da seid ihr aber selbst schuld, mit eurer wissenschaftlichen Korrektheit. Wenn du sagst, dieses oder jenes Ergebnis ist nicht auszuschließen, aber nicht hinzufügst, dass es völlig unklar ist, ob es morgen oder in 20 Jahren oder höchst wahrscheinlich überhaupt nicht eintritt, dann wird einfach behauptet: Valentin sagt das Ende der Menschheit für das Jahr 2000 voraus.“

 

„Mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung können weder Mediziner noch die Presse wirklich umgehen, und vom Bayes-Theorem hat anscheinend noch keiner gehört, geschweige denn das Prinzip der bedingten Wahrscheinlichkeit verstanden.“

„Ich befürchte, mein Lieber, mit dieser Tatsache wirst du leben müssen.“

2

Der Karneval ist die Zeit, in der sich die Bevölkerungsgruppen des Rheinlandes mischen, besonders in den Hochburgen, zu denen sich, letztlich zu Recht, jedes Dorf zählen darf. International als solche anerkannt sind am Niederrhein aber zweifellos Köln, Düsseldorf und – mit Abstrichen, was den Bekanntheitsgrad angeht, – auch Aachen. Die nationale oder gar internationale Reputation ist den Narren vor Ort aber völlig nebensächlich, denn sie wissen sich in ihrer Stadt als die Weltmeister in ihrer spezifischen und einmaligen Ausprägung der Narretei.

Die fünfte Jahreszeit stellt eine Ausnahmesituation dar, ein Volksfest im wahrsten Sinne des Wortes, in dessen Verlauf alle Schranken fallen. Die Klassengesellschaft löst sich auf und deren Mitglieder verkehren ungezwungen, man kann auch sagen hemmungslos miteinander, und das nicht nur in gesellschaftlicher Hinsicht, nein, sie mischen auch ihre Gene. Aus dem Ischtar- und Astarte-Kult entstanden, hat sich der Brauch über die Mysterien des Dionysos sowie die Bacchanale der Römer weiterentwickelt und sich trotz oder wegen der Religiosität der Rheinländer bis in die heutige Zeit unverändert erhalten. Auch die Kelten kannten Fruchtbarkeitsrituale, die mit Wollust gefeiert wurden, und das mag auch noch heute die Fantasie der sinnesfreudigen Nachfahren aller Kulturen, die im Rheinland über Jahrtausende zusammengefunden haben, zusätzlich beflügeln.

In der übrigen Zeit des Jahres lebt die Arbeiterschaft des alten Aachener Industriereviers neben den Bürgern und alle neben den Studenten der Technischen Hochschule, ohne dass eine Gruppe von der anderen Notiz nehmen würde. Selbst die 68er-Jahre hatten keine nennenswerte Veränderung gebracht; die so genannte Revolution war fast unbemerkt an den Technikern und Naturwissenschaftlern vorübergegangen, und die wenigen Medizinstudenten der neu gegründeten medizinischen Fakultät waren auch nicht die revolutionäre Masse, die eine geistige Wende hätte herbeiführen können. Noch immer stand aus preußischer Zeit am alten Chemiegebäude der TH der Wahlspruch „mens movet molem“, der Geist bewegt die Masse; dass es auch umgekehrt gehen kann, das war den Studenten bisher entgangen.

Der eigentliche Höhepunkt des rheinischen Karnevals ist Weiberfastnacht, der Donnerstag vor Rosenmontag. Es ist der Tag der Möhnen, der Altweiber, besser: Es war ursprünglich der Tag, an dem die alten Weiber die Regentschaft übernahmen, Männer aus ihren Reihen ausschlossen und, wenn sie ihrer habhaft werden konnten, öffentlich „hinrichteten“, in dem sie jedem Mann gewisse Herrschaftszeichen abschnitten, symbolisch die Krawatte.

Rother hatte, wie alle Mitarbeiter des Instituts, gegen 12 Uhr das Gebäude verlassen, nachdem er ab 11 Uhr 11 von den dort allerorts herumstreifenden Möhnen heftig „gebützt“ worden war, was seinen Wangen zu etwas Farbe verholfen hatte. Er hatte sich nicht im eigentlichen Sinne verkleidet, er war ja kein „Eingeborener“, und er hatte seine Rolle eher als Opfer denn als Jäger definiert. Er hatte aber ein Ringelhemd unter seine Lederjacke angezogen und sich ein Hütchen aufgesetzt; das sollte genügen um zu zeigen, dass er dem Treiben durchaus positiv gegenüberstand, aber doch Wert auf eine gewisse Distanz legte. Er hatte sich nichts vorgenommen, wusste aber aus der Erfahrung der fünf Jahre, die er bereits in der Stadt verbracht hatte, dass er wahrscheinlich morgen in einem fremden Bett aufwachen würde, und deshalb hatte er sich mit Kondomen versorgt. Nur in dieser Hinsicht hatte sich das Karnevalsverhalten auf Grund der Bedrohung durch AIDS verändert: Man war vorsichtiger geworden, ließ sich aber seinen Spaß an der Freud nicht verderben, besonders nicht an „Wieverfastelovend“.

Zunächst zogen sie gemeinsam los, die Assistenten mit den Mädchen aus dem Labor und den Sektionsgehilfen. Sie hatten schon einige Runden Altbier im Besprechungsraum gezecht und waren ausgelassener Stimmung. Schon beim Verlassen des alten Fabrikgebäudes waren sie mitten drin in der grölenden Menge, die sich singend, trinkend, untergehakt langsam in Richtung Marktplatz schob. Es war ein schöner Vorfrühlingstag, sonnig und ungewöhnlich warm für einen Tag im Februar. Der stetige Westwind, der immer den Regen aus dem benachbarten Holland brachte, war heute kaum zu spüren und so versprach der Tag auch vom Wetter her etwas Besonderes zu werden. Eine gute Stimmung bemächtigte sich Rothers und er war bereit, sich ohne Vorbehalte durch die tollen Tage treiben zu lassen.

Je mehr man sich dem Marktplatz näherte, desto dichter wurde das Gedränge, und die Gruppe hatte Mühe zusammenzubleiben, zumal ständig die eine oder der andere von Bekannten oder Unbekannten angequatscht wurde und es danach regelmäßig zu längerem Austausch von Worten, Unsinn und Küssen kam. Als sie dann, ihre Reihen hatten sich unterwegs schon merklich gelichtet, weil niemand die Gruppe zusammenhalten konnte und wollte, den „Goldenen Schwan“ stürmten, wurde die Schar völlig gesprengt und Rother fand sich plötzlich im 1. Stock des alten Wirtshauses unter völlig fremden Menschen wieder, die ihn sofort in ihrem Kreis aufnahmen, ihm aber keine besondere Aufmerksamkeit schenkten; sie sangen fröhlich vor sich hin, erzählten und tranken. Kaum jemand hörte dem anderen wirklich zu und trotzdem fühlten sich alle bestens verstanden, denn der Inhalt der Gespräche war so unbedeutend wie der Wortlaut der Gesänge unsinnig war. Die rheinische Redseligkeit verband sich mit einer allgemeinen Vertrautheit, und was den intellektuellen Gehalt der ans Ohr brandenden Aussagen anging, näherte sich dieser gegen null. Alles war per Du, jeder war jedermanns Freund und Kumpel und jeder freute sich den andern zu sehen, obwohl man sich nicht kannte.

Für Mathias war diese allgemeine Verbrüderung, vorzugsweise Verschwesterung, noch immer ungewohnt. Bei ihm zu Hause in Schwaben war man korrekt und distanziert, und auch zur Fastnacht kam man sich nur näher hinter einer Maske, welche die wahre Identität verbarg. Beim „Schnurren“ sagte man zwar auch dem Gegenüber Dinge, die man sonst besser verschwieg, aber man war nicht nur unkenntlich durch Schminke und Maske, sondern verstellte dazu auch noch seine Stimme – daher der Ausdruck.

Der typische Rheinländer, wenn es den wirklich gibt, ist da offener, um die Aussage positiv zu fassen; anders ausgedrückt ist er in seinem Mitteilungsdrang hemmungslos und steht mit Gesicht, Stimme und Person hinter jeder seiner Aussagen, wohl wissend, dass sich am nächsten Tag kein Mensch auch nur an ein Wort erinnern oder sich überhaupt nach Fastnacht für das Geschwätz von gestern interessieren würde. Und Bützen, das Küsschenverteilen, bedeutet für ihn nicht, dass wenigstens eine Partei sich ernsthaft für den oder die andere interessierte.

Plötzlich war Sylvie da. Mathias hatte sie nicht kommen sehen und sie war ihm auch vorher nie begegnet. Er nahm sie erst wahr, als er bereits, ohne Bedacht, seinen Arm um ihre Schultern gelegt und sie ihm im Gegenzug einen festen Kuss mitten auf den Mund verpasst hatte. Das war kein Bützchen; dieser Kuss unterschied sich von denen, die man an Wieverfastelovend sammelt. Er war überrascht und zunächst gar ein wenig irritiert, denn hier hielt sich offenbar jemand nicht an die Spielregeln; es musste sich um eine Person handeln, der die rheinische Lebensart im Karneval fremd war, oder jemand verfolgte tatsächlich bereits zu dieser frühen Stunde eine unzweideutige Absicht. Der Überraschung folgte schnell eine gewisse Neugier und er versuchte in Erfahrung zu bringen, von welchem Mund dieses überraschende Signal ausgegangen war. Eigentlich war es noch viel zu früh, um bereits für die Nacht zu planen, aber dennoch war es sinnvoll, jedes Angebot, selbst schon am frühen Nachmittag, zu prüfen.