Renovatio Europae.

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6. Die »deplorables«

Während die gegenwärtige EU von einer politischen und intellektuellen Elite dominiert wird, welche man wohl als eine Art nomadisierter Führungsschicht betrachten kann, finden wir auf der anderen Seite des Spektrums jene vor, die wir als »deplorables« bezeichnen können – ein Begriff, der am 9.9.2016 von Hillary Clinton geprägt wurde, als sie von den Wählern ihres Opponenten, Donald Trump, in folgenden Worten sprach: »You know, to just be grossly generalistic, you could put half of Trump’s supporters into what I call the basket of deplorables. Right? They’re racist, sexist, homophobic, xenophobic – Islamophobic – you name it.«

Jene nicht-nomadischen Bürger, welche im Gegensatz zur gegenwärtigen Führungsschicht weiter fest in ihrem jeweiligen historischen und kulturellen Umfeld verankert bleiben, sind zur Verfügungsmasse jener neuen Elite geworden; sie gilt es nun, den Werten politisch korrekter Ideologie entgegenzuführen und sie für die Wohltaten von gender-diversity, LGBT-Rechten, Multikulturalismus, Säkularisierung, Globalisierung und Islamophilie zu erwärmen; und wenn jener Versuch manchmal scheitert, wie dies in den meisten polnischen oder ungarischen Dörfern und Kleinstädten der Fall ist, liegt dies angeblich nicht an den Problemen jener Ideologie, sondern daran, daß die Bürger noch nicht »weit genug« sind.

Es steht in keinem Widerspruch hierzu, daß 80% der Polen sich überaus positiv zur europäischen Einigung verhalten (also erheblich mehr als Franzosen oder Deutsche), verbinden sie wie viele Osteuropäer mit der EU doch vor allem die Hoffnung auf materiellen Wohlstand. Daß es nicht die Institutionen an sich sind, welche hier im Fokus der Aufmerksamkeit stehen, wird auch an der sehr geringen Beteiligung bei den Wahlen zum Europäischen Parlament deutlich, das von vielen Bürgern als ihrer eigenen Lebenswelt äußerst entfernt angesehen wird – ganz zu schweigen von einem flagranten Mangel an Wissen über den Aufbau jener Institutionen, der natürlich auch viele andere europäische Staaten prägt.

Freilich sind viele der einfachen »deplorables« heute kaum weniger mobil als jene nomadischen Eliten, aber die Unterschiede in Zielsetzung und Auffassung jenes Nomadismus springen geradezu ins Auge: Jene Polen, welche etwa nach London, Berlin oder Brüssel ziehen, um dort eine Zeitlang zu arbeiten, tun dies auf der einen Seite dazu, um in ihrem polnischen Heimatort ein Haus zu bauen und früher oder später ihre Aktivität auf besserer finanzieller Basis dort fortzusetzen; auf der anderen Seite ziehen sie aus ihren Erfahrungen im Westen eben nicht den Schluß, Multikulturalismus und Globalisierung seien wünschenswerte Erscheinungen und sollten daher auch möglichst in Polen verbreitet werden, sondern sprechen sich möglichst dagegen aus, daß Phänomene wie Ghettoisierung, Parallelgesellschaften und Islamisierung, deren Augenzeugen sie im Ausland wurden, nun auch in ihrer Heimat Fuß fassen.

7. Ausblick

Als die gegenwärtige polnische Regierung im Jahre 2015 die Wahlen gewann, kann man diesen Durchbruch am ehesten mit dem vergleichen, was geschehen würde, wenn es den Gelbwesten gelänge, in Frankreich an die Macht zu kommen – »lokale Menschen« und Verteidiger der »deplorables«, welche die Statthalter der globalistischen Elite aus ihrer Position verdrängten und zudem auch im Europäischen Parlament Präsenz zeigten. Es ist daher kaum überraschend, daß sich die bisherigen, »nomadischen« Eliten des Landes, allen voran die Politiker der Bürgerplattform, gerade auf europäischer Ebene überaus feindlich gegenüber der neuen nationalen Regierung zeigten, betrachten sie doch die EU als eine Art persönliches Eigentum, welche es gegen jegliche Form von Kritik (oder auch konstruktive Vereinnahmung) durch die gegenwärtige Regierung zu schützen gilt. Gerade meine eigene Funktion als Vizepräsident des Europäischen Parlaments wird hier häufig als eine Art kognitive Dissonanz, eine »contradictio in adiecto«, wahrgenommen.

Es ist anzunehmen, daß sich ähnliche Erscheinungen sehr bald auch in anderen europäischen Staaten zeigen werden, sollten sich die gegenwärtigen politischen Tendenzen weiterhin vertiefen, vor allem, wenn nunmehr zunehmend Vertreter euroskeptischer Regierungen in die Kommission entsandt werden, die man bei steigender Zahl nicht mehr wie bisher ignorieren oder marginalisieren kann. Wichtig ist freilich hierbei, daß die konservativen Bewegungen Europas nicht in einer sterilen und faktisch machtlosen Opposition verbleiben, sondern darauf bestehen, Europa als Teil ihres eigenen Erbes zu betrachten und damit auch eine aktive Mitsprache und Mitgestaltung der europäischen Institutionen zu beanspruchen. Gerade heute, wo die zunehmende Ablösung des alten Rechts/Links-Dualismus durch die Dichotomie universalistischer und traditionalistischer Bewegungen alle politischen Entscheidungen verwirrt, besteht hier eine einzigartige historische Chance, konstruktiv an Europa mitzuarbeiten und durchaus auch eine zumindest punktuelle, unerwartete politische Zusammenarbeit ins Auge zu fassen.

Selbst Emmanuel Macrons neue Europavision, so problematisch sie in vielerlei Hinsicht sein mag, könnte hier neue Möglichkeiten schaffen und die bisherige Dominanz der deutschen Europavision in Bewegung bringen. Die Einsicht etwa, daß angesichts der gegenwärtigen Weltlage und der zunehmenden Bedeutung Chinas die europäische Wirtschaft eines gewissen Schutzes bedarf, verrät einen Ansatz, der im richtigen Kontext durchaus vielversprechend verfolgt werden könnte, wie in Polen allzu schmerzlich erlebt wurde, als in den 1990er Jahren die rasche Liberalisierung des Landes durch den Balcerowicz-Plan einen großen Teil der heimischen Industrie zerstörte oder vom westlichen Kapital abhängig machte. Ähnliches ist zum Aufbau einer gemeinsamen Verteidigungsmacht oder zu einem besseren Schutz sozialer Rechte zu sagen – alles Punkte, welche auch von der gegenwärtigen polnischen Regierung als überaus bedeutsam betrachtet werden. Vielleicht ergibt sich ja trotz aller scheinbaren ideologischen Unüberbrückbarkeit doch so etwas wie eine gemeinsame Schnittmenge in einigen zentralen Reformbereichen Europas – eine schwache, aber nicht ganz unmögliche Hoffnung. Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte.

1Text zitiert nach: https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2019/03/04/fur-einen-neubeginn-in-europa.de

2 https://www.handelsblatt.com/politik/international/europapolitik-frank-reichs-finanzminister-macht-druck-auf-berlin-europa-muss-ein-empire-werden/23600498.html?ticket=ST-663712-PGyJOG5Umv7fCp9bYbeE-ap6

AUF DEM WEG ZU EINER NEUEN EUROPÄISCHEN VERFASSUNG?
VERFASSUNG UND IDENTITÄT

András Lánczi

1. Die zentrale Idee des modernen Konstitutionalismus

Wir alle wissen, daß die EU in den frühen 2000er Jahren dabei versagte, sich eine eigene Verfassung zu geben. Die EU kann daher kaum als ein eigener Staat mit einer eigenen Identität betrachtet werden, und sicherlich nicht als ein Imperium. Eigentlich ist die EU überhaupt kein Staat irgendeiner Art. Freilich erheben sich regelmäßig Stimmen, vor allem auf Seiten der oft schwer genau zuzuordnenden Linksliberalen, welche nach der Schaffung eines europäischen Staates oder Imperiums rufen (Imperium sowohl in moralischer als auch politischer Hinsicht), um die letzten Spuren der Nationalstaaten zu vernichten, welche als die scheinbaren Schuldigen der zwei Weltkriege des 20. Jahrhunderts betrachtet werden.

Alle Übel werden dem Nationalstaat zugeschrieben und zugleich, schlimmer noch, allen anderen Formen bürgerlicher Gemeinschaft, sei es Familie, Kirche, Kulturgruppen, Erziehungsgemeinschaften usw., welche freiwillig oder unfreiwillig den Nationalstaat gestützt haben und daher nunmehr kollektiv als verantwortlich für die schrecklichen Kriege, die Europa gekannt hat, betrachtet werden. Und wenn wir auch weiterhin Nationalstaaten und nationalstaatliche Verfassungen kennen, spiegeln diese doch mittlerweile alle die gleichen Konzepte und Argumente wider: Menschenwürde, die Rechte des einzelnen, demokratische Institutionen, Rechtsstaatlichkeit usw. – der Nationalstaat ist ganz nach dem universalistischen Bild der liberalen Ideologie umgestaltet worden.

Die heutigen Verfassungen sind allesamt mit dem Gedanken der Überlegenheit demokratischer und liberaler Prinzipien durchtränkt, waren ihre Schöpfer doch überzeugt, daß legale Prozeduren allen anderen politischen Mitteln gegenüber vorzuziehen seien – kein Wunder, sind die Europäer doch immer noch vom Trauma des Zweiten Weltkriegs geprägt. Dies erklärt auch, wieso in diesen Verfassungen aus Angst vor einer angeblichen Rückkehr der Geschichte keine einzige konservative Idee formuliert wurde. Alles sieht so aus, als sei die Geschichte tatsächlich bereits an ihr Ende gelangt, und die Menschheit habe eine Ebene liberaler Entwicklung erreicht, wo jeder einzelne Staat dieser Erde die Sinnhaftigkeit des modernen Konstitutionalismus anerkennen würde.

Jedoch befinden wir uns vielmehr an der Schwelle, uns selbst über die fundamentalsten Grundzüge unserer eigenen, europäischen Kultur mehr Fragen stellen zu müssen, als wir Antworten erhalten können. Denn innerhalb der europäischen Kultur wächst die Skepsis angesichts des Weges, den Europa bereits seit einigen Jahrhunderten beschritten hat, denn auch 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich kein ewiger Friede eingestellt, selbst wenn die dominante linksliberale Ideologie das Gegenteil behauptet. Dies ist umso bedenklicher, als mittlerweile die Entwicklung der anderen Zivilisationen immer stärker diejenige der europäischen Kultur bedroht, während wir Europäer zu selbstzufrieden und gesättigt diese immer größer werdenden Herausforderungen geflissentlich übersehen, wobei es vor allem das, was man als Exzeß des liberalen Dogmas bezeichnen kann, die größte Gefahr darstellt. Diese Gefahr hat viele Gesichter, unter ihnen Masseneinwanderung, technologische und wirtschaftliche Entwicklungen und kulturelle Versuchungen, welche meist als pseudo-religiöse Versprechungen getarnt werden.

 

In der Folge möchte ich nachstehende Probleme diskutieren:

1. Die europäische Lebensart (d.h. die Frage, wie man sein Leben führen soll) hat ihren inneren Sinn verloren, weil das wirkliche und tiefe Wesen unserer Kultur durch bewußte Verdrängung der großen Fragen der menschlichen Existenz vernebelt worden ist.

2. Moderne Verfassungen sind politische Dokumente, die von liberalen und linken Ideen dominiert werden und keinerlei konservative Ideen enthalten dürfen, wobei selbst das Wort »Gott«, wenn es denn überhaupt erscheint, rein dekorativen Charakter hat.

3. Es sind vor allem die Präambeln der Verfassungen, welche den eigentlichen politischen Charakter der jeweiligen Projekte aufdecken, so daß ein Vergleich dieser Texte bei der Frage nach »Identität« sehr vielversprechend ist.

4. Es war vor allem die im April 2011 angenommene ungarische Verfassung, welche zum ersten Mal die Dominanz liberaler Ideen infragestellte und sich mit den grundlegenden Problemen unserer Zivilisation auseinandersetzte, indem sie liberale Errungenschaften mit Traditionen aus Geschichte und Naturrecht zu verbinden suchte. Eine der Schlußfolgerungen aus dieser Untersuchung ist die Aufforderung, daß es gerade konservative Denker sein sollten, welche eine neue Europäische Verfassung mitgestalten sollten, welche dementsprechend sowohl konservative als auch liberale Elemente beinhalten sollte. Dies ist die große Herausforderung unseres gegenwärtigen Europas: Der »Illiberalismus« strebt nicht danach, die Freiheit zu beseitigen, sondern möchte Europa vor den Exzessen des Liberalismus schützen und somit die tatsächliche Freiheit garantieren, indem verhindert wird, daß der Einzelne zum Opfer irrationaler Kräfte zentraler Autoritäten wird, was in einem Weltstaat oder einer globalisierten politischen und wirtschaftlichen Institution mehr als wahrscheinlich ist.

5. Das grundlegende Problem ist folgendes: jeder hat sich zu entscheiden zwischen der Argumentation der modernen Menschenrechte auf der einen Seite und der des Naturrechts und der natürlichen Rechte auf der anderen. Es gibt keine Mittelposition, und nach vielen Jahrhunderten endloser Auseinandersetzungen haben sich sämtliche europäische Debatten auf diese eine Frage reduziert, welche bereits bei J.S. Mill in seinem Essai »On Nature« debattiert wurde: Entweder nimmt man die Natur als Leitbild, oder man läßt sie außer acht. Wenn man sie aber außer acht läßt, muß man der Relativität aller menschlichen Kompromisse zustimmen, was bedeutet, daß die Wahrheit unerreichbar wird. Niemand ist immun gegenüber Fehlern oder Irrtümern, aber Wahrheit muß erreichbar sein, ansonsten wäre nicht ein einziges Wort es wert, ausgesprochen zu werden. Die Wahrheit ist nicht außerhalb unserer Reichweite.

2. Wo liegt das Problem?

Es wird zunehmend deutlich, daß die Gefahren, denen wir Europäer ausgesetzt sind, ein doppeltes Gesicht tragen. Das eine ergibt sich, wenn wir rückwärts in die Vergangenheit unserer Kultur blicken: Unsere Geschichte entgleitet uns und prägt kaum noch unseren Geist und unsere alltäglichen Entscheidungen. Verlust der Tradition, Niedergang oder Verzerrung der drei Grundpfeiler europäischer Kultur wie Philosophie, Römisches Recht und Christentum, welche die Grundlagen für unsere Wissenschaften und unser Verständnis menschlicher Grundfreiheiten bildeten, sind die Folgen. Das andere Gesicht zeigt sich bei einem Blick voraus in die Zukunft, die voll von Gefahren ist, welche ihre Schatten schon auf viele Bereiche unseres individuellen und gesellschaftlichen Lebens geworfen haben. Wir mögen hier etwa an die Projekte der Transhumanisten denken, die Gender-Ideologie und zahlreiche weitere Praktiken, welche in der Tat »das Ende der Einheit der Menschheit heraufbeschwören könnten« – eine Idee, welche vor mehr als einem halben Jahrhundert von C.S. Lewis in seinem kleinen Meisterwerk »The Abolition of Man« beschworen wurde. Zum ersten Mal in der europäischen Geschichte ist sowohl unser Bezug zur Vergangenheit als auch zu unserer Zukunft zu einer bedrohlichen Frage geworden und erweckt zunehmende Ängste.

Das moderne Europa hat nach langem Kampf um sein klassisches Erbe schließlich seine eigenen Fundamente aufgegeben. Dieser Kampf gipfelte in der »Dispute des anciens et des modernes«, die freilich von einer großen Zahl analoger Debatten umgeben war, welche vom 16. bis zum 18. Jahrhundert vor allem in der französischen und englischen Öffentlichkeit ausgetragen wurden. Der wichtigste Punkt war die Frage, ob es entweder die Antike oder vielmehr die Neuzeit war, welche die grundlegenden Probleme des Menschen am besten zu lösen vermöchte. Der moderne Mensch, zu dem man auch die meisten der Denker der Aufklärung rechnen kann, behauptet, daß weder Natur, noch Gott dem Individuum vorschreiben könne, wie er sein eigenes Leben zu verbringen habe, und sicherlich nicht die Gesellschaft. Wer also sein Dasein ideal verbringen will, solle alle Regeln vernachlässigen und sich nicht mehr um die Sitten und Traditionen seiner eigenen Gemeinschaft scheren. Was jemand tatsächlich sei, wieso er sich auf Erden befinde, und was seine Verantwortung sein soll, hänge ausschließlich von ihm selbst und niemand anderem ab.

Wenn Pascal vor Descartes warnte, oder wenn Kant genau erklärte, was Aufklärung sei, oder wenn Edmund Burke von Tom Paine herausgefordert wurde, betrafen alle jene Debatten letztlich nur die Frage, ob es die Argumente der »Alten« oder der »Jungen« waren, welche am besten an die Notwendigkeiten der Individuen und Gemeinschaften angepaßt waren. Die fundamentale Frage hierbei war, ob eine Gemeinschaft sich selber adäquate Ziele zu setzen vermag, oder nicht. Die moderne Lösung dieser Frage besagt, daß eine Gemeinschaft dadurch geschaffen wird, daß sich ihre Bestandteile, also die Individuen, schon von Natur aus als rigoros gleich betrachten. Die klassische Lösung allerdings ist, daß ein Individuum danach streben soll, durch Tugend und Wissen herauszuragen.

Heute steht es um die Debatte so, daß der Exzeß an Individualismus die Verantwortungen und Pflichten des Einzelnen völlig verdrängt hat. Es wird als gegeben angenommen, daß die Gegenwart der Vergangenheit überlegen sei, und daß die Zukunft in unseren Händen liege – was natürlich falsch ist, wenn wir sie auch bis zu einem gewissen Grade formen können. Es ist auch falsch, daß die Verstorbenen kein Recht haben sollen, uns mitzuteilen, wie wir unser Leben führen sollten, wie Tom Paine suggerierte. Das Recht, etwas zu tun oder zu lassen, wird heute zwar auf Mehrheitsbeschlüsse gegründet, aber auch das eigentlich nur, wenn es linksliberale Sichtweisen sind, welche über eine solche Mehrheit verfügen. Selbst demokratische Entscheidungen werden also als Richtlinien bei der Etablierung richtiger und falscher Handlungsweisen angezweifelt, während die faktisch dominante Sichtweise jene ist, der zufolge nur die Elite über Wahrheit und Irrtum entscheiden könne – eine Elite, die selbstverständlich ein Produkt der dominanten politischen Weltsicht und Machtstruktur ist. Und so ist denn die heutige Machtausübung ganz von einer Reihe bis zum Exzeß getriebener liberaler Dogmen dominiert, welche das eigentliche Problem unserer Gesellschaft darstellen.

3. Vier Exzesse oder Dogmen des Liberalismus

Die gegenwärtigen politischen Debatten bezüglich der Transformation der politischen Landschaft Europas sollten im Lichte von vier Faktoren betrachtet werden, welche ich gerne die »vier Exzesse des Liberalismus« nennen möchte. Die unterschwellige Vorstellung besteht dabei aus der dominanten linksliberalen Perspektive darin, daß das Ideal der Gleichheit eine absolute Wahrheit ist und um jeden Preis verteidigt werden muß. Man kann sogar die Demokratie kritisieren, aber nicht ihren eigentlichen Unterbau, die Idee der Gleichheit.

Wenn ein Nobelpreisträger etwa die Gleichheit der Rassen auf wissenschaftliche Weise in Frage stellt, wie es bei James Watson der Fall war, der für seine bahnbrechenden Arbeiten zur DNA den Nobelpreis gewonnen hatte, diesen (zusammen mit anderen Ehrentiteln) aber nach einigen umstrittenen Äußerungen wieder verlor. Dabei hatte sich Watson weder geirrt, noch eine wissenschaftlich fragwürdige Analyse geliefert, aber ihm wurde vorgeworfen, er habe die Wissenschaft »mißbraucht«, um »Vorurteile zu schüren«. Gleichheit ist also aus dieser Perspektive entweder keine wissenschaftliche Frage, sondern hat ohne wissenschaftliche Erklärung als gegeben angenommen zu werden; oder aber, Gleichheit ist als wissenschaftlich korrekt hinzunehmen, darf aber nicht in Frage gestellt werden. Dies erklärt auch, wieso immer mehr westeuropäische Universitäten sich beklagen, daß die Forschungsfreiheit zunehmend bedroht ist.

Ferner wird moralische Gleichheit immer genau so weit gedehnt und interpretiert, daß sie den Liberalen zur Begründung ihres jeweiligen Interesses dienen kann. Gerade die gegenwärtige Immigrationsfrage ist ein gutes Beispiel für jene liberale Argumentationstaktik. Liberale glauben, daß jedes einzelne Individuum genau dieselben Rechte besitze, unabhängig von seinem jeweiligen historischen, wirtschaftlichen, politischen und moralischen Hintergrund. Sie glauben dies, weil ihre gesamte Weltanschauung ausschließlich auf die Dimension des Einzelmenschen reduziert ist, der zudem als genuin rationeller Mensch verstanden wird. Solch ein abstrakter Zugang zu überaus komplexen und gefährlichen Problemen sollte eigentlich überaus vorsichtig stimmen. Denn wenn alle Menschen nicht nur im Prinzip, sondern auch tatsächlich, jetzt, im konkreten Fall, gleiche Rechte genießen sollten, würde dies unmittelbar jeden Menschen, der eine echte Person und nicht bloß ein Individuum ist, zerstören. Die meisten Liberalen stellen eine quasi-naturwissenschaftliche Analogie zwischen den Atomen und den Individuen her: Während ein Atom als kleinste unteilbare materielle Einheit gesehen wird, wird das Individuum als die kleinste organische Einheit der Gesellschaft betrachtet. Aber diese Analogie ist falsch. Der Mensch ist nur dann eine Person, wenn er die nötigen mentalen und moralischen Tugenden erwirbt, welche ihm durch die Erziehung seiner Gesellschaft vermittelt werden. Ein vollständiger Individualist hingegen glaubt, er selbst habe sein Ego geschaffen. Doch nein: Keine einzelmenschliche Leistung kann ohne die Voraussetzungen, welche durch die Gesellschaft hervorgebracht wurden, geschaffen werden. Daher sind moderne Liberale auch so zögerlich bei der Anerkennung der Tatsache, daß der Mensch zunächst ein Gemeinschaftswesen ist; ein Sachverhalt, welcher jenseits unserer Entscheidung oder unser Wünsche liegt.

Als die Liberalen daher vor einigen Jahrzehnten das Individuum zum Zentrum des modernen Konstitutionalismus machten, waren sie vollständig von den historischen Gegebenheiten der damaligen Nachkriegs-Situation bestimmt. Sie hatten zwar recht in der Forderung, daß der einzelne Schutz und Unterstützung braucht, aber die menschliche Natur ist viel komplexer, als daß sie sich nur auf das scheinbare Sein des Individuums reduzieren ließe, also eines rationellen, selbstbewußten einzelnen, der angeblich erheblich weniger Irrtümer begehe als alle anderen, zusammengesetzten Körperschaften.

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