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„Du hattest nichts bei dir, als du hier aufgetaucht bist. Keinen Ausweis, keinen Führerschein. Wir kennen nicht einmal deinen Namen.“

Er leckt sich nervös über die Lippen. Die Frage nach dem eigenen Namen, so banal und doch so anspruchsvoll.

Wer bist du? Wer du bist? Du bist wer!

Die Stimmen in seinem Kopf zischen durcheinander. In den letzten Tagen sind sie merklich leiser geworden, doch wie angekettete Tiere warten sie auf die Chance, dass die Ketten brechen.

„Alles in Ordnung?“ Frater Thomas zieht die Stirn kraus. Schaut ihm direkt in die Augen.

„Ja … nein, ich … ich, ich weiß es nicht.“ Er senkt den Kopf, lehnt sich an den Rand des Brunnens, der die Mitte des Parks bildet. Der Mönch legt ihm seine vernarbte Hand auf die Schulter.

„Niemand sollte Zweifel haben, wer er ist. Jeder muss jemand sein. Man braucht einen Sinn.“

Zweifel? Sinn? Ich bin die Zerstreuung allen Zweifels, Sirene allen Sinns. Er reibt sich die Stirn.

„Wieder Kopfschmerzen?“

Er nickt. Die Welt um ihn herum beginnt sich zu drehen, ihm wird schwarz vor Augen.

„Das reicht für heute. Du solltest dich noch etwas ausruhen.“ Frater Thomas greift ihm unter den Arm und führt ihn in Richtung des Klosters. „Du trinkst auch zu wenig. Der Arzt hat gesagt, dass du viel Flüssigkeit brauchst.“

Ich bin das, was du brauchst!

Widerstandslos lässt er sich von dem Mönch in sein Zimmer führen. Er denkt zurück an die Unmengen an Schweiß, Kotze und Fäkalien, die er immer und immer wieder in die weiße Bettwäsche abgesondert hat. Jedes Mal hat man ihm ein neues Bett bereitet.

„Frater Thomas?“

„Ja?“

„Danke.“

„Schlaf dich aus.“ Der Mönch setzt ihn auf den Rand des Bettes. „Wenn du morgen aufwachst, sprechen wir uns erneut.“

„Warte …“ Ihre Blicke begegnen sich noch einmal.

„Ich freue mich darauf, endlich jemand zu sein!“

„Das glaube ich dir, Stephan.“

Verwirrt schaut er den Mönch an. „Stephan?“

„Der erste Schritt, jemand zu sein, heißt, einen Namen zu tragen.“

„Ist das mein Name? Stephan?“

„Ich denke schon. Ich finde, er passt zu dir. Du fragst dich, warum? Lass es uns morgen gemeinsam herausfinden.“

15

Er sitzt fest. Definitiv. In einem riesengroßen Haufen aus Schrott. Dabei denkt Stephan nicht nur an den Container selbst, sondern vor allem an das ganze nutzlose Zeug, das er darin vorgefunden hat. Jetzt sitzt er vor einem Karton mit alten Zeitungen und Büchern.

Hauptsächlich stammen die Exemplare aus dem Jahr 1964. Stephan überfliegt die Schlagzeilen, die sich unter anderem mit einem Belegungsversuch befassen. 144 Menschen verbringen 144 Tage im Dortmunder Sonnenbunker, um den Ernstfall eines ABC-Alarms zu erproben.

„Na, super. Hoffentlich komm ich hier früher raus.“

War das ein Rascheln? Instinktiv dreht Stephan sich nach rechts und leuchtet in die Richtung, aus der er das Geräusch vermutet.

„Hallo?“ Er schüttelt kurz den Kopf und befasst sich weiter mit der Kiste, als das Geräusch sich wiederholt. Eine Art Schaben oder Kratzen. Ein Tier? Aber wie soll es in den Container gelangt sein?

„Hallo?“, wiederholt er lauter. „Ist jemand da draußen? Ich sitze hier fest! Bitte, öffnen Sie die Tür!“

Plötzlich ein Kichern. Leise, entfernt, hoch und schrill.

„Verdammt noch mal! Lass den Scheiß und mach die Tür auf! Das ist echt nicht witzig!“ Stephan erhebt sich, geht zurück zur Tür. Er schlägt erneut von innen dagegen.

„Wer bist du?“, zischt es ihm von außerhalb entgegen.

Stephan erstarrt.

„Bitte, öffnen Sie die Tür! Bitte!“, fleht er.

„Bist du wer?“

Stephans Puls schnellt in die Höhe. Was wird hier gespielt?

„Bitte“, wiederholt er, diesmal zaghafter.

„Du bist wer!“ Darauf erneut das Kichern.

„Hey, wenn das ein Scherz sein soll … dann …“

Was dann? Er braucht Hilfe, er sitzt in dem dunklen Container fest und wer auch immer davor steht, ist seine einzige Hilfe.

„Mein Name ist Stephan. Ich bin hier eingesperrt. Ich bitte Sie, machen Sie die Tür auf!“

Stille.

„Hallo?“

Völlig panisch reißt er die Hände nach oben, um seine Ohren zu schützen, als donnernde Schläge gegen die Außenwände des Containers krachen. Rechts. Links. Vorne. Hinten.

Es scheint, als stehen reihum Menschen, die mit Baseballschlägern auf die Stahlwände eindreschen. Stephan sackt zusammen, schließt die Arme um seinen Kopf. Dann fängt er an zu schreien. Ja, er schreit.

16

Er erwacht in völliger Stille. Hektisch setzt er sich auf, sieht sich um. Er liegt auf einem abgewetzten Sofa. Auf den Anrichten, in Regalen und auf Schränken stehen Engelsfiguren aus Porzellan und zahlreiche goldene Putten. Eine kratzige Decke liegt auf seinen Beinen, die er zurückschlägt, als wäre sie infiziert. Stephan springt auf. Aus einem angrenzenden Zimmer hört er das Klappern von Geschirr.

Wo bin ich?

„Oh, Sie sind wach?“ Vor ihm steht eine ältere Frau mit grauen Locken, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trägt. Kleine Fältchen um ihre Augen lassen sie müde aussehen.

„Ich … äh … ja. Wo bin ich hier?“

„In Morsbach. Ich habe Sie laut schreiend in diesem Container gefunden. Da, auf dem Nachbarsgrundstück.“

Die Frau nickt mit dem Kopf in eine Richtung.

Er erinnert sich. Die Dunkelheit. Das Schaben. Die Schläge. „Die Tür. Sie muss hinter mir zugefallen sein.“

„Sie können froh sein, dass ich kurz in den Garten raus bin. Sonst, wer weiß …“ Sie stellt das Tablett mit einer Kanne und zwei Tassen darauf auf den schmalen Wohnzimmertisch und gießt dampfenden Tee aus.

„Wie bin ich …“ Stephan blickt unsicher an sich herab.

„Oh, ich habe sie in die Schubkarre gehievt. War gar nicht so einfach, aber glücklicherweise habe ich genug Kraft.“ Wie zum Beweis hält sie einen Arm in die Luft und spannt den Bizeps an. „Was haben Sie überhaupt dort zu suchen gehabt?“

Stephan setzt sich. „Wissen Sie, dieser Tag, heute, ist … ich weiß gar nicht, wie ich es beschreiben soll.“

„Einfach scheiße?“ Sie stellt die Kanne zurück und reicht ihm eine der Tassen. „Vorsicht, heiß.“

„Ja, richtig. Einfach scheiße. Danke für den Tee. Und danke, dass Sie mich da rausgeholt haben.“

„Zuerst war ich mir nicht sicher. Ich meine, das Ganze hätte ja auch ein mieser Trick sein können. Aber ich habe Sie direkt erkannt.“

„Mich? Erkannt?“, fragt Stephan erstaunt.

„Ja, Sie sind doch dieser Pfarrer aus Nümbrecht. Ich kenne Ihr Foto aus der Zeitung, ich war sogar schon einmal in einem Ihrer Gottesdienste.“

„Dass Sie sich daran erinnern“, murmelt er mehr zu sich selbst.

„Doch, die Predigt. Ihre Predigt, sie ist mir im Gedächtnis geblieben. Sie haben über das Paradies gesprochen. Darüber, welche Erwartungen wir daran haben und wie nah wir diesem auf Erden doch schon sind.“

Stephan errötet leicht. Die Predigt hat ihm damals eine Menge Ärger eingehandelt. Man hat ihm vorgeworfen, dass das Ganze geklungen habe, als sei es hier auf der Erde besser als bei Gott.

„Sie hat mir gefallen“, schiebt sie nach. „Sie war so … so realistisch, nicht so abgehoben.“

„Danke.“

„Jetzt bin ich aber gespannt zu hören, was Sie in dem Container zu suchen hatten? Einen kurzen Augenblick habe ich gedacht, dass meine Nachbarin wieder aufgetaucht sei.“

„Ich weiß selbst nicht so genau, was ich dort gesucht habe. Vor wenigen Stunden habe ich ihren Bruder kennengelernt. Also den Bruder von Carola Herzog.“

Die Frau löst das Haarband aus ihrem Lockenkopf, lässt ihn nach vorne baumeln und bindet den Zopf neu. Stephan schätzt sie auf Anfang sechzig. „Ich weiß gar nichts von einem Bruder.“

„Er hat mir ihre Geschichte erzählt, von dem Hauskauf und der Reise nach Portugal. Von den Containern.“

Und danach hat er sich in Luft aufgelöst …

Sie setzt sich im Schneidersitz ihm gegenüber, greift nach ihrer Tasse und pustet. Stephan schaut sie erwartungsvoll an.

„Was?“

Sie nimmt einen Schluck. „Was, was?“

„Oh Mann, ich will einfach nur wissen, was mit mir los ist. Am Ende ist es ein Hirntumor, und ich sehe einfach nur Gespenster.“

„Gespenster gibt es nicht.“

„Was Sie nicht sagen!“ Stephan verdreht die Augen.

„Es stellt sich mir die Frage, ob Sie halluzinieren oder Opfer einer Warnwahrnehmung geworden sind.“

Okay … das fehlt noch! Du bist in dem Haus einer Verrückten gelandet!

„Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.“

„Mein Name ist Greta Rausch, ich bin Heilpraktikerin für Psychotherapie.“ Sie grinst breit.

„Schön, und Sie sagen mir jetzt gleich, ich müsse nur drei von diesen winzig kleinen Zuckerkügelchen nehmen und alles ist wieder gut?“

Stephan hat selbst keinerlei negative geschweige denn positive Erfahrungen mit alternativer Medizin gemacht, und doch bereut er die voreilige Verurteilung sofort. „Entschuldigen Sie bitte, ich bin nur … ich meine, dieser Tag …“

„Schon gut. Wie wäre es, wenn Sie einfach davon erzählen?“

Stephan reibt sich das Nasenbein. „Ich denke, ich habe Ihre Zeit und Hilfe schon genug beansprucht. Ich werde mich jetzt lieber auf den Weg …“

„Was haben Sie zu verlieren?“, unterbricht sie ihn. „Ich höre Ihnen ein wenig zu, und wenn ich das Gefühl habe, einen Ratschlag geben zu können, frage ich Sie, ob Sie ihn haben wollen. Na, wie klingt das?“

 

„Dann beantworten Sie mir doch erst einmal die Frage, was denn der Unterschied zwischen einer Halluzination und einer, wie hieß es noch …“

„Warnwahrnehmung?“

„… und einer Warnwahrnehmung ist?“

Sie stellt die Tasse ab, lässt kurz den Kopf kreisen und spannt ihren Rücken. „Eine Halluzination bedeutet, dass Sie etwas sehen, was in der Realität nicht da ist. Die Warnwahrnehmung hingegen ist eine reale Erfahrung, die andere Menschen auch haben, der aber nur Sie eine Bedeutung zukommen lassen. Zum Beispiel hören Sie ein Hupen und meinen, dass dies ein Zeichen unbekannter Angreifer sei, Sie nun zu ergreifen.“

„Tja, an der Aggertalsperre habe ausschließlich ich den Mann gesehen, der gefallen ist. Als der Tote meinen Arm gepackt hat, ebenso. Mit dem lesenden Bruder von Carola Herzog habe nur ich gesprochen, und die Geräusche im Container habe ich wohl auch ganz exklusiv gehört.“

„Vier Halluzinationen an einem Tag? Donnerwetter.“

„Winkt mir nun ein Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde?“

„Eher ein Kapitel bei Oliver Sacks.“

Er schaut sie fragend an.

„Ein britischer Neurologe. Hat unterhaltsame Bücher geschrieben. Sie kennen sicher eins davon. Es gibt da diese Verfilmung mit Robert de Niro in der Hauptrolle: Zeit des Erwachens.“

Stephan muss an die Begegnung mit dem Nachbarn denken. Erst Citizen Kane, jetzt Zeit des Erwachens. Das Leben scheint eine Ansammlung aus Filmen zu sein.

„Aber kehren wir zum Ursprung zurück. Die erste Halluzination war die einer fallenden Person?“

„Von der Staumauer, ja.“

„In der Traumdeutung beispielsweise wird das Fallen oft als Mahnung verstanden. Zum Beispiel, dass man aufmerksam bleiben soll, auch wenn einem die Situation bekannt vorkommt.“

„Winter Wonderland“, murmelt Stephan.

„Bitte?“

„Ich habe alles nach der Person abgesucht, gefunden habe ich jedoch eine Schneekugel. Sie lag dort vergraben.“

„Hatte diese dann etwas mit dem toten Mann zu tun?“

„Im ersten Moment nicht. Nur durch den seltsamen Vergleich des Mannes, der mir vor dem Haus des Verstorbenen begegnete. Ihn erinnerte das Ganze an Citizen Kane. Ich kenne den Film nicht.“

„Rosebud“, entfährt es ihr.

Stephan nickt heftig. „Genau. Nur hat mein Toter das Wort Schwiegermuttergift gesagt.“

„Das hat nichts in Ihnen ausgelöst?“

„Nein, aber Rosebud. Es hat mich an einen Ort erinnert. An Marienstatt. Kennen Sie das Kloster dort?“

„Natürlich.“

„Es gibt diese Legende, dass in der Gründerzeit dem Abt im Traum ein blühender Weißdorn erschienen sei, der ihm den Ort verriet, an dem das Kloster stehen solle. Ein Mönch hat mir die Geschichte einmal erzählt, als ich dort einige Zeit verbracht habe.“

„Bei den Katholiken?“ Stephan meint echte Empörung in ihrer Stimme auszumachen.

„Das ist lange her, ich war damals noch nicht …“

„Noch nicht auf der hellen Seite der Macht?“, merkt Greta Rausch süffisant an.

„Sehr witzig.“

„Jetzt aber mal im Ernst! Sie sagten, Sie hätten einige Zeit in Marienstatt verbracht. Wieso sind Sie dann heute Protestant?“

„Ich bin kein Mann Gottes im klassischen Sinne. Ich bin dankbar für meine Rettung, dankbar dafür, eine zweite Chance erhalten zu haben. Aber als katholischer Geistlicher muss man doch auf so einiges verzichten.“ Stephan beißt sich auf die Lippen.

„Oh, ich verstehe. Wir sind alle eben nur Menschen.“ Greta nimmt verstohlen einen Schluck von ihrem Tee. „Und in Marienstatt sind Sie dann dem vermeintlichen Bruder von Carola Herzog begegnet?“

„Ja, er saß in der ersten Reihe und las ein Buch. 13 Minuten oder so. Irgendetwas von einem Amoklauf.“

„In der Kirche?“

„Das habe ich ihn auch gefragt.“

„Und jetzt sind Sie hier.“

Stephan nickt zustimmend.

„Haben Sie in dem Container irgendetwas gefunden?“

„Nur alte Zeitungsartikel. Es gibt haufenweise Kartons mit diesem Zeug.“

„Zu bestimmten Themen?“, fragt sie.

„Nein, nach Jahren geordnet …“ Stephan stockt.

„Was?“

„Na ja, wenn ich mich richtig erinnere, gab es zwar haufenweise Kartons, aber darin befanden sich ausschließlich Artikel aus dem Jahr 1964. Ich kann mich nur an Bruchstücke erinnern. An eine Bunkerübung aus der Zeit. Die anderen Kartons habe ich gar nicht wirklich beachtet, aber jetzt fällt mir auf, dass es entweder Artikel aus dem Jahr 1964 oder aus dem Jahr 1979 waren.“

„1964 und 1979? Sicher?“

„Ja. Ganz sicher. Warum? Sagt Ihnen das was?“

„Nein“, antwortet sie knapp.

„Großartig! Also bin ich schlicht und ergreifend verrückt?“

„Es steht außer Frage, dass dieser Tag ein besonderer in Ihrem Leben ist …“ Jetzt zögert sie.

„Stephan“, stellt er sich kurz vor.

„Er will etwas von dir, Stephan.“

„Wenn es so einfach wäre. Vielleicht sind das alles auch nur blöde Zufälle.“

„Tragen wir doch mal das Wichtigste zusammen: Wir haben die Schneekugel, das Wort Schwiegermuttergift, das Buch von einem Amoklauf und die Jahre 1964 und 1979. Erinnert dich das an irgendetwas?“

„Ich versuche doch die ganze Zeit schon, mir einen Reim darauf zu machen. 1964 muss ich ein kleiner Junge gewesen sein und außer der Aufhebung der Rassentrennung unter Johnson fällt mir kein wirklich großes Ereignis ein. 1979 muss ich so um die zwanzig gewesen sein. Ehrlich gesagt, liegt diese Zeit meines Lebens eher in einem dichten Nebel.“

„Warum?“, fragt Greta und greift wieder nach ihrer Teetasse.

„In dieser Zeit war ich stark drogenabhängig.“

„Nein! Ernsthaft?“

Stephan nickt nur. Er rutscht unsicher auf dem Polster hin und her. „Tja, was soll ich sagen. Wie sagtest du eben so schön: Wir sind alle nur Menschen.“

Greta steht auf, geht zu einem der Regale in dem Wohnzimmer, sucht, greift dann nach einem Foto und reicht es Stephan.

„Das bin ich. Da muss ich so um die zwanzig Jahre alt gewesen sein.“

„Wer ist die andere Frau?“

„Das ist Eva. Sie war meine beste Freundin.“

„War?“

„Ich glaube nicht, dass sie tot ist, aber wir haben uns aus den Augen verloren.“

Auf irgendeine Art erscheint Stephan das Gesicht vertraut. Die beiden jungen Frauen neigen die Köpfe zueinander und lachen. Sie wirken unbeschwert. Trotz der Zeit, in der das Foto an Farbe verloren hat, erkennt man Gretas roten Lockenkopf. Ihre Freundin Eva trägt die schwarzen Haare in der Mitte gescheitelt.

„Warum zeigst du mir das?“

„Kurz bevor ich Eva aus den Augen verloren habe, hat sie mich angerufen. Das werde ich nie vergessen. Sie wollte an diesem Tag jemanden treffen. Sie hat mir nie gesagt, wen oder warum. Wir standen uns damals schon nicht mehr so nahe, weil sie in die Fänge eines Typen geraten war, dem ich nicht getraut habe. Aber an diesem Abend ist irgendetwas geschehen, und sie hat es sich anders überlegt.“

„Hat sie das erzählt? Also, bei diesem Anruf?“

„Ich wohnte damals mit Dirk zusammen. Wir hatten so ein orangefarbenes Telefon. Als ich abnahm, brüllte Eva in den Hörer. Sie schrie, dass sie in einer Telefonzelle stehe, an irgendeinem Bahnhof. Dabei weinte sie bitterlich. Sie erzählte von dem Zug und von einem kleinen Mädchen. Ich habe schon damals nur die Hälfte verstanden. Irgendwann meinte sie, sie sei einfach nur froh, dass alles gutgegangen sei.“

„Ich verstehe nicht …“

„Erst später habe ich begriffen, dass Eva sich in dem Zug befunden haben muss.“

„Greta, warum erzählst du mir das alles?“

Sie stellt die Tasse ab und lockert wiederholt ihre Haare.

„Weil das im Jahr 1979 war und ich nicht an Zufälle glaube.“

17

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts trat auf verschiedenen Volksfesten in Berlin-Weißensee der Ingenieur Richard Fiedler auf. Er goss eine brennbare Flüssigkeit auf eine Wasseroberfläche und entzündete sie. Seine Attraktion nannte er den „Brennenden See“. Die Faszination, die von der offenen Flamme ausgeht, liegt wohl in der Vergangenheit begründet. So gilt das Feuer als Ursprung der heutigen Kultur. Unsere Vorfahren bändigten es, nutzten es, und mit der Zeit entstanden Mythen wie die des Prometheus. Es wurde zum Mittelpunkt zahlreicher Feste und Traditionen, beschert uns ein Gefühl von Gemeinschaft und Naturverbundenheit. In unregelmäßigen Abständen jedoch demonstriert es die furchteinflößende Seite seiner Macht. Den unstillbaren Hunger. Das zerstörerische Gebiss der Flammen. Es verwüstet. Verletzt. Tötet.

Rückblickend wundert sich Heiko tatsächlich nur darüber, wie simpel das Ganze doch bisher gelaufen ist. Die größte Schwierigkeit war das Besorgen der Batterie, was aber vor allem daran gelegen hat, dass er nicht genau wusste, was für eine Art von Batterie man dafür braucht. Der Verkäufer hat ihm erklärt, dass diese Akku-Lösung nicht lange halten wird, doch für seine Zwecke reicht sie völlig aus.

Als alle Komponenten in dem kleinen Schuppen liegen und er sie auf Vollständigkeit und Funktion überprüft hat, startet er den Zusammenbau. Ein herrliches Gefühl. Wie er es vermisst hat.

18

„Ich mag nicht so gerne die Kontrolle verlieren.“

„Ich kann dein Unbehagen verstehen, aber ich denke, wenn du wirklich daran interessiert bist, zu erfahren, was das alles soll, solltest du die Möglichkeit in Betracht ziehen.“

Greta steht auf und tritt an einen der Schränke heran, sie öffnet die rechte Tür und holt einen glänzenden, zylinderförmigen Gegenstand daraus hervor. Mit einem leisen Klicken löst sie den Deckel und stellt das Metronom auf den Tisch. Sie verschiebt das Gewicht des Pendels ein Stück nach unten und wendet sich dann wieder an Stephan. „Ich verspreche dir, dass ich vorsichtig sein werde. Ich will dir nur helfen, alles zu verstehen.“

Stephan seufzt. Beunruhigt rückt er vor und zurück. „Wie läuft das Ganze denn ab?“

„Ich starte das Metronom und zähle von zwanzig an rückwärts. Währenddessen konzentrierst du dich auf den Rhythmus und auf meine Stimme. Wenn du dich dann in der Hypnose befindest, stelle ich dir Fragen oder probiere, mithilfe von Impulsen deine Erinnerung zu stimulieren.“

„Okay, dann leg los.“ Stephan versucht, sich zu entspannen. Greta stößt das Pendel an. Er schließt die Augen und konzentriert sich auf das rhythmische Klacken des Metronoms.

„20… 19 … Entspanne dich, höre einfach auf meine Worte. 18 … 17 … Ich möchte mit dir eine Reise unternehmen. Eine gedankliche Reise. Eine Reise raus aus dem Hier und Jetzt, an einen Ort, an dem du dich wohlfühlst und Erkenntnis gewinnst. 16 … 15 … Vielleicht wirst du erkennen, was dich bewegt, was du suchst, was du dir wünschst und wie du es schaffst, zu erreichen, was gut für dich ist und anderen nicht schadet. 14 … Du brauchst nichts Spezielles zu tun. Du kannst loslassen. Lass jetzt los. 13 …“

19

Zuerst ist es ein Flackern. Sterne, die vor seinen geschlossenen Augen tanzen. Wie Mosaike setzen sie sich langsam zu einem vollständigen Bild zusammen. Immer lauter schwillt das Rauschen in seinen Ohren an, es kommt ihm bekannt vor. Wird differenzierter. Eine Gitarre, ein Riff. Eine Reibeisenstimme. Er spürt die Watte des Kopfhörers an seinen Ohren. Er greift nach den schmalen Bügeln und zieht ihn sich vom Kopf. Er sitzt auf Beton, spürt das Ziehen. Mein Gott, wie lange ist das her?

Vor ihm materialisiert sich eine schwarze Wand. Glatt. Langsam steht er auf. Sein Gesicht spiegelt sich darin. Er ist bleich, hager und jung. Zu jung für all die Narben. Er greift in die dunkle Masse hinein, um das Handgelenk bilden sich konzentrische Kreise. Ruckartig zieht etwas an seinem Arm, reißt ihn in das Schwarz hinein.

Vor ihm taucht ein zerzauster, bärtiger Mann auf. Er reicht ihm ein Schild, auf dem geschrieben steht: Jesus rettet.

Überall Kreise, Wellen, Farben. Die Stimmen, plötzlich laut, dringen durch seine Haut. Fütter uns. Fütter uns. Fütter uns. Immer eindringlicher fordern sie ihn auf, sie zu beachten. FÜTTER UNS! FÜTTER UNS! FÜTTER UNS!

Von draußen schweben neue, gutartige Töne heran.

„Stephan, was siehst du?“

Er will antworten, doch in seiner Kehle gluckert es nur. Er würgt.

„Wir gehen gemeinsam zurück in der Zeit. Es ist heute. Vor genau 30 Jahren.“

Stephan schreckt auf. Ein hydraulisches Geräusch, ein plötzlicher Druck in seinen Ohren. Eisen schnurrt. Aus dem Nebel formen sich Gestalten. Er liegt auf dem Boden, zwischen ihnen. Körper auf Körpern. Hilfe, mein Baby. Es kommt! Bitte!

 

Manche beten zu Gott, bedanken sich für die Rettung. Immer wieder kommen ihm Zahlen in den Sinn. 9,81. Genau an jenem Tag entstand der Drang, sie zu erfahren. Ihren Wert zu bemessen. 9,81. Ein Mensch im freien Fall.

Der Nebel verfliegt. Frater Thomas steht mit ihm vor dem blühenden Weißdorn, die vernarbten Hände zum Gebet gefaltet.

„Verstehst du es jetzt?“ Er öffnet den Mund, spricht, und doch ist es nicht seine Stimme, die er hört. „Stephan? Kannst du mich hören?“ Er will hierbleiben. Die Erinnerung ist zurück. Szenen der Vergangenheit, sie spulen sich nacheinander ab. Alles beginnt auf dem Bahnsteig. „Stephan, wach auf.“

20

Es ist ein zweites Erwachen, eine Wiedergeburt, der Start in ein neues Leben. Heiko ist dankbar für den Tipp mit den Hosenträgern. Vermutlich hätte es nicht lange gedauert, und das Ding wäre mitsamt der Hose nach unten gerutscht – und am Ende wäre das von der ganzen Geschichte hängen geblieben. Er in Unterhose. Lachend überlegt er, welche er heute überhaupt trägt. Woran man alles denken muss …

Seine Hände riechen nach Benzin. Er schraubt den Kanister wieder zu und wirft ihn in eine Ecke des Schuppens. Im Kopf geht er den Ablauf noch einmal durch. Wichtig ist das Timing.

Das Fimo stinkt, während es unter der Flamme seines Zippos aushärtet. Das Ganze dauert doch länger, als er gedacht hat. Wie gut, dass er schon so früh das Stahlrohr im Baumarkt besorgt hat. Womit wir wieder beim Timing sind, denkt er sich. Eine verdammt gute Idee ist es gewesen, sich heute Morgen krankzumelden. Er muss gähnen, sein Schädel brummt. Wie sagt man immer so schön? Das letzte Bier muss schlecht gewesen sein.

Endlich ist die Masse fest geworden. Am Anfang traut er sich nicht, aber er stellt schnell fest, dass das Rohr bombenfest sitzt. Zufrieden greift er nach der Bohrmaschine und wechselt den Bohrer. Scheiße, denkt Heiko, er hat den Rucksack vergessen. Er schaut sich um. Dann atmet er auf. Er legt den Bohrer auf den Boden, greift nach dem Rucksack, zieht den Reißverschluss auf, dreht ihn und kippt den ganzen Inhalt auf den Boden. Das gelbe Büchlein erscheint. Faust.

Da kommt ihm eine Idee. Er nimmt einen Edding aus seinem Mäppchen, zieht mit dem Mund die Kappe ab, spuckt sie aus und bückt sich dann nach der Reclam-Ausgabe. Ziellos schlägt er eine Seite auf.

Ich gehe durch den Todesschlaf. Zu Gott ein als Soldat und brav.

Oh mein Gott, wie geil ist das denn bitte? Heiko nimmt das Buch in die linke Hand, schnappt sich den Stift und schreibt den Satz in großen Buchstaben auf das knapp sieben Zentimeter lange Stahlrohr. Frau Berghaus wird begeistert sein. Dass er so kreativ sein kann, hat er selbst gar nicht gewusst. Lachend wirft er Buch und Stift weg und schnappt sich erneut den Bohrer. Zeit, den Flaschenboden aufzubohren.

21

„Es war vollkommen verrückt, ich meine, ich bin in meine Vergangenheit eingedrungen, wie in einen Traum!“ Stephan schüttelt anhaltend den Kopf, seine Gedanken und Erinnerungen kreisen wie die Figuren eines Kinderkarussells vor seinen Augen.

„Das ist das Prinzip. Du solltest dich erinnern.“ Greta lockert ihre Schultern.

„Ich bin sogar Frater Thomas begegnet“, murmelt er.

„Wer ist das?“

Stephan erhebt sich, greift nach einem der Engel, die im Regal vor ihm stehen. Genau das ist es, was Frater Thomas für ihn rückblickend bedeutet. Er war sein Schutzengel. „Ein Mönch aus Marienstatt. Er lebt leider nicht mehr. Thomas hat mir damals sehr geholfen, wieder auf die Beine zu kommen. In der Zeit nach den Drogen.“

„Wie hast du die Hypnose erlebt?“

„Am Anfang ganz surreal.“ Stephan stellt den Engel zurück ins Regal. Geht im Zimmer nervös auf und ab. „Als ob ich mich in einer Art Parallelwelt befunden hätte, die Verknüpfungen herstellt. Dann kamen die Erinnerungen hoch, ich konnte sie sehen. Anschauen wie einen Film“, sagt er aufgeregt. „Ich habe sogar diesen Obdachlosen gesehen, der immer dieses Schild bei sich getragen hat“, fügt er leiser an.

„Das heißt, du kannst dich an alles erinnern?“

„Na ja, an die cleanen Passagen schon. Auf Droge wirkte es wie … wie überbelichtete Fotos.“

„Ich habe dich aktiv in das Jahr 1979 zurückgeführt. Bist du dort vielleicht Eva begegnet?“, fragt Greta erwartungsvoll. „Nein. Zumindest kann ich mich nicht wirklich erinnern. Es war so laut, so grell. Es haben Menschen mit mir gesprochen. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie hat sich Sorgen um ihr Baby gemacht.“ Und die Zahl: 9,81 … ein Mensch im freien Fall.

„Hmmm.“ Greta klingt enttäuscht.

„Tut mir leid.“

Jetzt steht sie auf, stellt das Bild zurück in das Regal.

„Einen Versuch war es wert.“

Stephan schaut aus dem Fenster. Mittlerweile ist es stockfinster draußen. Er spiegelt sich in der Scheibe. Seine Haut wirkt fahl, die Reise in die eigene Vergangenheit hat ihn müde gemacht.

„Wie spät ist es eigentlich?“, fragt er.

„Fast 20 Uhr.“

„Ich sollte nach Hause fahren“, merkt Stephan an. Er spürt Gretas Ernüchterung. „Es tut mir leid, dass ich nicht mehr über Eva erfahren habe.“

Greta nickt. „Ja, ich wüsste wirklich gerne, was damals mit ihr passiert ist. Warum sie sich nie wieder gemeldet hat.“

Stephan dreht sich zu Greta um, und dabei beginnt das Zimmer zu schwanken. Schnell stützt er sich an der Lehne des Sessels ab.

„Vorsicht! Eine Hypnose ist ein Eingriff in deinen Körper. Vielleicht solltest du lieber noch nicht fahren?“

Stephan sammelt sich kurz. „Es geht schon, danke.“

„Ich habe genug Platz, du kannst gerne hier übernachten.“

„Nein, es wird Zeit für mich.“ Doch als er den ersten Schritt nach vorne tut, legt der Kreisel in seinem Kopf einen Zahn zu, und noch bevor er ein Wort herausbringt, schlägt er ungebremst auf dem Wohnzimmerteppich auf.

22

„Stephaaaan, Stephaaaaan …“ Leise dringen die Töne zu ihm vor. Eine schräge Symphonie. Er schlägt die Augen auf. Bläuliches Licht schimmert wellenförmig durch den Raum. Sein Schädel brummt. Schmerzverzerrt greift er sich an die Stirn. Eine dunkle Flüssigkeit benetzt seine Fingerkuppen. Ihm war schwindelig, daran erinnert er sich. Ist er gestürzt?

Wer bist du? Bist du wer? Du bist wer!

Seine Kehle wirkt ausgetrocknet. „Stephaaaan“, schallt es aus weiter Entfernung. Sirenengesang.

„Greta?“ Es scheint, als hätte er ihren Namen nur in Gedanken ausgesprochen. Seine Glieder fühlen sich seltsam an. Tonnenschwer.

Wie in Zeitlupe hebt er Kopf und Oberkörper an, lugt über die Rückenlehne des Sofas, auf dem er liegt. Die Terrassentür steht sperrangelweit offen. Unter einem der Bäume erkennt er sie. Ihre Locken wehen im Wind. Greta trägt ein weißes Nachthemd. Langsam dreht sie ihren Kopf zu ihm, unnatürlich weit. Ihr Mund öffnet sich. Es wirkt, als riefe sie ihn. Eine schwarze Wolke dringt zwischen ihren geöffneten Lippen hervor, verteilt sich wie Rauch, dazwischen flimmern glühende Funken.

„Greta?“ Wieder lässt sich das Wort nur in seinem Kopf formen. Er versucht aufzustehen. Vor ihm auf dem Tisch steht die Schneekugel. Sie beginnt zu leuchten, die kleine Lokomotive legt los. Die Melodie setzt ein. Seltsam verzerrt. Die Tonfolge kommt ihm bekannt vor, ist aber nicht die, die er erwartet hat. Sie erinnert ihn an ein Lied, das er vor vielen Jahren das letzte Mal gehört hat.

„Stephaaaaaan …“

Jetzt steht er im Türrahmen. Es ist kalt. Die Sterne glänzen am dunklen Firmament. Die Äste der Baumkrone ächzen im Wind, der stetig zunimmt.

Greta steht weiterhin unter dem Baum. Den Kopf unnatürlich verdreht, streckt sie ihre Arme nach hinten aus, als wollte sie ihn umarmen. Schlagartig wird es hell. Die Baumkrone entzündet sich. Hohe Flammen züngeln an den schweren Ästen und Zweigen entlang. Eine heiße Welle schlägt ihm entgegen. Er versucht, die Hitze mit seinen Armen abzuschirmen. Greta bleibt, wo sie ist. Ihre Haare fangen Feuer, dann ihr Nachthemd. In Bruchteilen von Sekunden steht sie völlig in Brand. Stephan muss zusehen, kann sich nicht abwenden. Ihr Mund formt einen stummen Schrei, während die Haut zerfließt wie heißes Wachs.

Stephan schaut sich um. Auf der Terrasse stehen unzählige rechteckige Metalldosen. Er greift nach einem der grünlich gestreiften Behälter. In roten Buchstaben prangt E605-Staub auf der Vorderseite. Unter dem Wort Vorsicht! steht Universal-Stäubemittel. Es gelingt ihm nicht, den Deckel zu öffnen, der wellig und verrostet in der Oberseite eingedrückt steckt. Gretas Körper ist nur noch schemenhaft zu erkennen, vollführt einen wilden Tanz. Plötzlich reißt er den Deckel aus der Dose. Das Pulver stäubt wie Mehl aus der Öffnung. Unter beißenden Schmerzen kneift er die Lider zusammen, lässt die Dose fallen. Durch den dichten Tränenschleier ist kaum etwas zu erkennen. Verzweifelt reibt er sich die roten Augen. Blinzelt.