Fundamentalismus – maskierter Nihilismus

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Fundamentalismus – maskierter Nihilismus
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Christoph Türcke

Fundamentalismus –

maskierter Nihilismus


Erste Auflage 2003

© 2003 zu Klampen Verlag · Springe

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

www.zuklampen.de · info@zuklampen.de

Satz: thielen VERLAGSBÜRO · Hannover

Umschlag: Groothuis, Lohfert, Consorten · Hamburg

Gesamtherstellung: FVA · Fulda

ISBN 9783866743328

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

1. The Fundamentals

2. Kleine Genealogie des Begründens

3. Ästhetischer Fundamentalismus

4. Weicher Fundamentalismus

5. Zionismus

6. Hollywoodismus

7. Kehrreim des Fundamentalismus

Abbildungshinweis

Weitere Bücher

Fußnoten

Vorwort

Die Twin Towers waren nicht nur eine praktische Unterbringungsmöglichkeit für viele Leute auf wenig Raum, sondern auch ein hoch aufragendes Symbol. Darin sollte anschaulich werden, wo die globalen Fäden zusammenlaufen. Von Anfang an war es als Weltattraktion gemeint: ebenso für das internationale Kapital wie für die Touristenströme aus aller Herren Länder. Aber auch die Herzen der Amerikaner sollte es höher schlagen lassen, auf schnörkellose Weise all das verkörpern, was die USA groß gemacht hat: den freien, gleichberechtigten, durch faire Regeln gezügelten Wettstreit der körperlichen und geistigen Kräfte, der Produkte, Erfindungen, Interessen, Überzeugungen, Ideen. Die Twin Towers standen da wie die wahren Interpreten der demokratischen Freiheit. Waren sie nicht die body guards der Freiheitsstatue, die sich in ihrem mächtigen Schatten wie ein Zuckerpüppchen ausnahm und nach ihrer glorreichen Obhut geradezu zu verlangen schien?

Gewiss, nicht alle mochten die body guards. Strahlten sie doch für diejenigen, die beim Wettstreit der Kräfte auf der Strecke geblieben waren oder den »freien Welthandel« lediglich als eine obszöne, alles entweihende Weltmacht hemmungslosen Schacherns, aber nicht als Nährboden menschlicher Würde erlebten, eine unmissverständliche Botschaft aus: Ihr seid die Verlierer; ihr gehört nicht dazu. Weltattraktion war die doppelte New Yorker Siegessäule von Anfang an auch in dem Sinne, dass sie weltweit Hass auf sich zog. Und wer sich nicht am gehassten Objekt selbst austoben kann, entschädigt sich gewöhnlich damit, dass er sich wenigstens ausmalt, wie es wäre, wenn er es zerstörte. So gehörte zu den psychologischen Gestehungskosten der Twin Towers auch ein Wust von mehr oder weniger heftigen Wünschen, Träumen, Halluzinationen ihres Zusammenstürzens – halb Kinderspiel, halb Wut im Herzen. Um ihnen ein ästhetisches Ventil zu geben, bedurfte es keines Übermaßes an Phantasie. Ein Griff ins Bild- und Dramaturgiearsenal von Hollywood genügte. Independence Day, der Film, der einen Großangriff aufs Pentagon durchspielt, war seit fünf Jahren auf dem Markt, als der Angriff wirklich stattfand. Die Fotomontage der brennenden Twin Towers, die die kalifornische Musikgruppe The Coup für das Cover ihres neuen Albums PartyMusic vorgesehen hatte, lag im Juni 2001 bereits vor. Das Album erschien im Oktober – mit anderem Cover. Der Clou war der Spot einer Hamburger Werbeagentur. »Man sah da ein stilbewusstes junges Paar in einem Straßencafé vor Hochhauskulisse Kaffee und Rotwein trinken, als plötzlich der Tisch zu zittern beginnt, Lärm anschwillt und zum Entsetzen der Umstehenden ein Airbus durch den Wolkenkratzer bricht. Die Pointe ist, dass er nicht nur das Hochhaus zerfetzt, sondern auch das an ihm befestigte Plakat mit der Service-Nummer 11880, für das der Spot Werbung machen wollte. […] Seine Fernsehpremiere erlebte der Spot am 9. September 2001. Zwei Tage später wurde er aus dem Programm genommen.«1 Unsinn also, dass am 11. September ein unvorstellbares Verbrechen geschah. Die vielfältigen Vorstellungen davon waren längst in Filmbildern geronnen.

Dass diese Bilder grauenhafte Realität wurden, und zwar so, dass die Weltöffentlichkeit daran teilhaben konnte, als säße sie vor einem Hollywood-Spektakel – dazu musste etwas anderes wirksam werden als Phantasie: ein eiserner, lang trainierter Wille zum Martyrium. Der allerdings war in der westlichen Welt kaum mehr vorstellbar. Wer ist dort noch von den Grundsätzen, zu denen er sich bekennt, so zuinnerst erfüllt, dass er bereit wäre, sein Leben dafür zu lassen? Die Attentäter vom 11. September hatten solche Bereitschaft. Man mag noch so betonen, dass sie ihr eigenes islamisches Credo missverstanden und sich derart pathologisch darauf versteiften, dass ein ganz gemeines Verbrechen daraus hervorging – sie haben im Namen Allahs ein ungeheures Zeichen gesetzt, dem sie ihr ganzes Leben weihten. Dafür werden sie in weiten Teilen des Nahen und Mittleren Ostens als Märtyrer verehrt, im Westen als fundamentalistische Terroristen gescholten.

Fundamentalisten – wie spricht man mit denen als aufgeklärter Mensch? Erzählt man ihnen etwas von Religionsfreiheit, Toleranz, Demokratie, also von Werten, die besagen, dass jeder nach seiner Façon selig werden kann, dass man die Überzeugungen anderer auch dann zu dulden hat, wenn man sie als pervers empfindet, dass die Mehrheit darüber entscheidet, was rechtens ist – und dass dies alles die Würde des Menschen ausmachen soll? Das ist vergebene Liebesmüh’ bei Leuten wie Mohammed Atta, der eine jahrelange Ingenieursausbildung in der verhassten westlichen Welt auf sich nahm und eigens einen Pilotenschein machte, um schließlich ein Flugzeug ins World Trade Center zu steuern. Es prallt ebenso an den Geistlichen und Lehrern ab, die in Palästinenserlagern Jugendliche auf Selbstmordattentate vorbereiten. Diskussion über die eigenen religiösen Grundsätze? Das ist würdeloses Palaver für sie. Was einem heilig ist, darüber diskutiert man nicht. Und so lautstark der aufgeklärte Westler diese Haltung als verbohrt von sich weisen mag, einen Stich versetzt sie ihm doch. Sie lässt ihn spüren, dass Diskussion nicht an sich gut ist, sondern allenfalls ein Zweitbestes. Wer sie nötig hat, dem fehlt das Beste: die sich von selbst verstehende Gewissheit, das wortlose Einverständnis. Und wer sehnte sich nicht danach?

Der Fundamentalismus suggeriert, dies Ersehnte zu haben. In der Empörung gegen ihn steckt auch verstohlener Neid. Ach, wäre man seiner eigenen Sache doch so gewiss wie er sich gibt. Ernst nimmt ihn erst, wer ihn als Prüfer auf Herz und Nieren, theologisch gesprochen, als Versucher der modernen Welt begreift. Über echte Versuchung ist niemand erhaben. Wie wehrt man sich denn gegen Fundamentalisten, wenn demokratisches Zureden nicht verfängt? Man ist genötigt, sie an Gewaltaktionen mit Gewalt zu hindern – sich ähnlich diskussionslos auf Menschenrechte und Toleranz zu versteifen wie sie auf den Djihad. So gesehen war der 11. September geradezu ein Etappensieg für den Fundamentalismus. In dem Maße, wie er in der demokratischen Weltpresse zum Bösen schlechthin avancierte, machte er auch Fortschritte darin, die demokratische Welt nach seinem Bilde zu gestalten. Da waren zunächst am Ort des Geschehens die hysterischen Hausdurchsuchungen und Kontrollen nach dem Attentat, die diffuse Verdächtigungsatmosphäre gegen alles, was irgendwie arabisch oder islamisch aussah. Es folgte, im Namen all dessen, was die Twin Towers verkörpert hatten, der Krieg gegen Afghanistan. Er wurde von urdemokratischen Intellektuellen wie Francis Fukuyama, Samuel Huntington und Amitai Etzioni als Kampf gegen Al Qaida deklariert und insofern als »moralisch gerechtfertigt«2, hinterließ ein Vielfaches der Verwüstungen, die auf dem Ground Zero entstanden waren, war völkerrechtlich mehr als zweifelhaft – und für viele Verbündete Amerikas eine gute Gelegenheit, brutales Vorgehen gegen missliebige Minderheiten als »Kampf gegen den Terrorismus« auszugeben. Unter diesem Etikett registrierte amnesty international bald eine sprunghafte Zunahme weltweiter Menschenrechtsverletzungen.3

 

Wenn man sich auf »westliche Werte« ebenso versteift wie der Fundamentalismus auf heilige Schriften, dann verhält man sich nicht nur wie er, man gerät auch ins Hintertreffen. Besagte »Werte« vertragen solche Art von Zuspruch nämlich schlecht. Sie verlangen etwas anderes als die Identifikation mit ihnen. Man insistiere doch einmal ohne Wenn und Aber auf Toleranz, und schon befindet man sich in jener Zwickmühle, die die Philosophen »performativen Widerspruch« nennen. Die Bereitschaft, andere Meinungen zu dulden, hört nämlich spätestens dort auf, wo jemand erklärt, er halte nichts von Toleranz. Gegen den muss die Toleranz, um ihrer Selbstbehauptung willen, intolerant werden. Und ähnlich wie ihr geht es auch den andern demokratischen »Werten«. Solidarität: auch mit jedem Schuft? Freiheit: auch zu jeder Gemeinheit? Gleichheit: ohne Rücksicht auf jede individuelle Besonderheit? Solche Begriffe als »Werte« festschreiben zu wollen, ist bereits der Beginn der Versteifung. Sie sind viel zu wenig eindeutig, als dass man sich so auf sie berufen könnte, wie andere auf bestimmten Geschichten insistieren: etwa dass Mohammed Allahs wahrer Prophet oder Christus wahrhaft von den Toten auferstanden sei.

Wer sich zu demokratischen Grundbegriffen wie zu Glaubenssätzen verhält, der ist schon ins Kraftfeld des Fundamentalismus getreten. Dessen kategorische Ablehnung gehört in der westlichen Welt zwar zum guten Ton. Selbst moderne Kirchenleitungen profilieren sich als seine Gegner. Um so bemerkenswerter, wie er auf seine Widersacher abfärbt, wie seine Militanz auch sie militanter macht, sein Insistieren auf letzten Gründen auch sie härter auf Grundwerte pochen lässt und sie schließlich vor die Frage stellt: Wer es wirklich ernst meint mit Grundwerten, kann der sich anders zu ihnen verhalten als zu einem unbedingt gültigen Fundament, also fundamentalistisch? Oh, er ist ein großer Versucher, der Fundamentalismus. Denen, die hier demokratisch lavieren, raunt er zu: Macht euch doch nichts vor; auf die Dauer haltet ihr das hektische, unsichere moderne Dasein nicht aus, wenn ihr eure Existenz nicht auf ein stabiles Fundament gründet, das euch ein Leben lang Halt gibt. Und die demokratischen Grundbegriffe sind viel zu undefiniert und unpersönlich, um das zu leisten. Nur eine unbezweifelte, unzerredete höhere Macht ist dazu in der Lage. Entweder ihr habt ein Fundament oder ihr habt nichts. Und dass ihr eigentlich nichts habt, zeigt sich das nicht an der permanenten Unruhe, die euch umtreibt, am Zwang zu ständigem Wirtschaftswachstum, an der unablässigen Sucht nach Neuem, an der gigantischen Unterhaltungs-, Ablenkungs- und Zerstreuungsmaschinerie der Massenmedien, ohne die ihr euer Leben gar nicht mehr aushaltet? Klammert ihr euch nicht an diese Maschinerie, als wäre sie ein Gott, obwohl ihr genau wisst, dass sie keiner ist? Verrät nicht gerade euer Versessensein auf die flimmernde Unterhaltungs- und Spaßwelt, wie hohl und leer ihr innerlich seid: dass ihr in einer zutiefst nihilistischen Kultur lebt?

Echte Versucher pflegen die Wahrheit zu sprechen, nur nicht die ganze. Niemand deckt denn auch den nihilistischen Grundzug in der sich globalisierenden Unterhaltungs- und Spaßkultur schonungsloser auf als militanter Fundamentalismus. Es ist geradezu seine philosophische Leistung, dem abstrakten Gespenst des modernen Nihilismus größte Anschaulichkeit zu geben, indem er es in den grellen Farben industrieller Kultur malt. Nur eines verschweigt er dabei: dass er selbst jener Welt angehört, in der diese Kultur expandiert. Alle Mittel, die sie ihm an die Hand gibt, ergreift er bereitwillig. Moderne Waffen- und Informationstechnologie eignet er sich an, wo immer er ihrer habhaft wird. Er hat nicht die geringsten Skrupel, seinen Gläubigen durch modernste Massenmedien einzupeitschen, dass Ehebrecherinnen zu steinigen sind und Dieben die Hand abgehackt gehört, wie das alte islamische Gesetz, die Scharia, es befiehlt. Bis zum 11. September 2001 mag es absurd geschienen haben, Fundamentalismus mit Showbuisiness zu assoziieren. Dann assoziierte er sich selbst damit und inszenierte eine reality show ohnegleichen. Damit katapultierte er sich ins Zentrum der Weltöffentlichkeit und gab zu verstehen: Fundamentalismus ist nicht nur ein Problem von Schwellenländern, von Weltgegenden, wo Industrie, Marktwirtschaft und Demokratie noch nicht genügend Fuß gefasst haben. Er stellt diese »westlichen Werte« vielmehr dort in Frage, wo sie am meisten heimisch scheinen. Wären sie tatsächlich das fest in sich ruhende kulturelle Fundament des Westens, als das sie ständig beschworen werden, so hätte der Angriff aufs World Trade Center ihnen kaum etwas anhaben können. Doch was er angriff, ist längst schon angegriffen. Er hat die »westlichen Werte« weniger von außen erschüttert als ihre innere Unsicherheit offenbart. Und doch vermochte er das nur, indem er die Sprache der verhassten haltlosen Unterhaltungskultur sprach und Massenmord als Riesenspektakel veranstaltete. Damit hat er der westlichen Welt ihre eigene Melodie so drastisch vorgespielt wie niemand zuvor; der Komponist Karlheinz Stockhausen erblasste vor Neid.4 Aber zugleich kam heraus, dass diese Melodie auch seine ist: eben die des Fundamentalismus. Ins Zentrum der westlichen Welt dringt er nur vor um den Preis, dass er selbst macht, was er als Inbegriff nihilistischer Massenkultur schmäht: show.

Die ungeheure Assoziation mit dem Showbusiness, die er am 11. September geleistet hat, verändert seinen ganzen Aspekt. Der Fundamentalismus ist noch längst nicht voll durchschaut. Es muss neu durchbuchstabiert werden, was er ist und wie er es wurde. Der Philosoph Karl Jaspers hat den Begriff »Achsenzeit« geprägt. Er meinte damit die Epoche um 500 vor Christus, wo »annähernd gleichzeitig in China, Indien und dem Abendland, ohne dass sie gegenseitig voneinander wussten«, Konfuzius, Laotse und Buddha, die alttestamentlichen Propheten wie die griechischen Philosophen und Tragiker, einen singulären geistigen Durchbruch schafften. »In diesem Zeitalter wurden die Grundkategorien hervorgebracht, in denen wir bis heute denken, und es wurden die Ansätze der Weltreligionen geschaffen, aus denen die Menschen bis heute leben.«5 Wie, wenn sich, gleichsam im Kleinformat, auch für den Fundamentalismus eine Achsenzeit ausmachen ließe, wo völlig unabhängig voneinander und auf verschiedene Weltgegenden verstreut, Ereignisse stattfanden, denen zunächst nicht anzusehen war, dass sie »Grundkategorien« enthalten könnten, in die unser ganzes Denken wie in einen Sog hineinzugeraten droht? Diesem Verdacht wird im folgenden nachgegangen. 1910 ist das Jahr, in dem der Fundamentalismus seinen Namen bekam, aber auch das Jahr, in dem das erste Hollywood-Studio gegründet wurde. Die entscheidenden Jahre des Durchbruchs zur avantgardistischen Kunst sind die um 1910. Dies ist auch die Zeit, wo die zionistische Bewegung zur Kolonisierung Palästinas schritt. Vier disparate Begebenheiten, zugegeben. Sie hatten zunächst nichts miteinander zu tun und wurden zudem vom Heraufzug des Weltkriegs und der sozialistischen Revolution überschattet. Im grellen Licht des 11. September beginnen sie jedoch gemeinsam zu funkeln, als gehörten sie immer schon zusammen. Sie geben zu verstehen, dass die mörderische Assoziation von Fundamentalismus und Showbusiness keine bloße Laune ist, vielmehr Anlass, den Fundamentalismus in doppelter Hinsicht bitter ernst zu nehmen: als Kritiker ebenso wie als Angehörigen der modernen nihilistischen Unterhaltungskultur. Im folgenden soll nicht nur das Nihilistische deutlich werden, das von Anfang an im Fundamentalismus steckte, sondern auch wie der moderne Nihilismus allmählich fundamentalistische Züge gewinnt. Fundamentalismus und Nihilismus stecken tief ineinander. Entweder man begreift und bekämpft beide zusammen – oder keinen von beiden.

1. The Fundamentals

Zuerst muss etwas da sein, dann kann es benannt werden. So auch beim Fundamentalismus. Er ist ein Kind der industriellen Revolution. Ab der Mitte des 19. Jahrhundert begannen sich in Mitteleuropa allmählich seine Konturen abzuzeichnen, aber es dauerte noch ein halbes Jahrhundert, bis das Wort fiel, das ihm dann als sein Eigenname anhaften sollte. Das geschah in den USA und war ein Musterfall von american sponsoring. Ein streng protestantischer Ölmillionär aus Südkalifornien, Lyman Stewart, begründete 1910 eine Schriftenreihe, die ein großes »Zeugnis der Wahrheit« geben, »die besten und loyalsten Bibellehrer der Welt« versammeln und deren »Meisterstücke« veröffentlichen sollte. Und »um sicherzustellen, dass die Wahrheit nicht wegen Unerschwinglichkeit darbe«, ordnete er freie Verteilung an jeden Pastor, Missionar, Theologieprofessor, Theologiestudent, College- und Sonntagsschullehrer in der englischsprachigen Welt an: »insgesamt etwa drei Millionen Einzelbände«.6 Er ließ sich »die Wahrheit« wahrlich einiges seiner Ölprofite kosten, gab der Schriftenreihe den programmatischen Titel The Fundamentals, verlangte, sie möge für jeden verständigen Menschen klar herausarbeiten, worauf in der Zeit des großen sozialen und mentalen Umbruchs einzig unbedingter Verlass sei, nämlich auf Gottes in der Bibel aufbewahrtes Wort – und setzte mit dem Gottvertrauen eines calvinistischen Geschäftsmannes auf den Erfolg seiner Investition. Der war zunächst nicht sehr durchschlagend. Dafür stellte sich eine Langzeitwirkung ein. Wie das Bestehen auf unverbrüchlicher Gültigkeit und Wahrheit der heiligen Schrift das gedankliche Zentrum der neuen Schriftenreihe war, so wurde die Reihe selbst allmählich zum Sammelbecken all der protestantischen Strömungen, die die moderne industrielle Welt als Ausverkauf ihres Glaubensfundaments erfuhren.

Dass nur die gepredigte und geglaubte Schrift selig machen könne, war zwar seit Luther allgemeiner protestantischer Grundsatz, aber die kirchliche Hierarchie und Staatstreue, die der europäische Protestantismus sogleich zu pflegen begann, versetzte die Kirchenoberen sehr bald wieder in die Rolle von Hirten, die den Schafen sehr deutlich sagten, wie sie die Schrift zu verstehen hatten. In den nordamerikanischen Kolonien war das anders. Ihre Besiedlung war durch Flüchtlinge erfolgt, Leute, die sich der Hierarchie der anglikanischen Kirche und der englischen Staatsraison nicht unterwerfen, sondern allein Christus als Herrn anerkennen wollten. Sie hatten, als sie ihre kleinen Schiffe nach Westen bestiegen, nichts mitgenommen als ein paar persönliche Habseligkeiten, das Vertrauen, von Gott zu einem neuen Exodus geführt zu werden – und, natürlich, die Bibel. Sie war für sie das höchste Gut, das sie über den Ozean gerettet hatten. An ihr machten sie die Pfeiler ihrer Lebensweise fest: die patriarchale Familienstruktur und das protestantische Arbeitsethos. Das neue Land war groß und fruchtbar, es gab genug Platz für alle Varianten des protestantischen Grundgedankens, für Presbyterianer, Baptisten, Methodisten, Quäker, keine Oberinstanz, die eine davon zur Staatsreligion hätte erheben wollen, zwar Theologen und Prediger, aber viel weniger theologische Gelehrsamkeit und Bevormundung als in Europa. In den weit verstreuten ländlichen Gemeinden wurde das eigene unreglementierte Lesen der heiligen Schrift zur Keimzelle einer neuen basisgemeindlichen Selbstständigkeit, der Familienvater zum zentralen Vorleser der Schrift. Und so fand eine viel größere libidinöse Besetzung der Schrift als in Europa statt – mit allen Skurrilitäten, die das mit sich brachte, wenn eine unbedarfte ländliche Bevölkerung glaubte, unmittelbar zu verstehen, was mit den Texten, die jüdische Gelehrte zweitausend Jahre zuvor aufgezeichnet hatten, gemeint sei.

In diese Welt eines ebenso bodenständigen wie versponnenen Biblizismus begann die kapitalistische Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit atemberaubender Geschwindigkeit einzudringen. Wellen von Einwanderern katholischer und jüdischer Herkunft strömten ins Land, große Städte bildeten sich und sogen die Landbevölkerung an. Die traditionellen protestantischen Milieus lösten sich auf oder sanken zu Subkulturen ab – und empfanden das als Untergrabung ihrer Lebensleistung, all dessen, was Amerika groß gemacht hat. Sie verkannten freilich, dass ihre dezentrale basisgemeindliche, biblizistische Lebensweise nicht nur der kulturelle Nährboden der amerikanischen Demokratie war, der die USA zu God’s own country gemacht hatte; auch die aufkommende kapitalistische Industrialisierung hatte im protestantischen Arbeitsethos und der demokratischen Verfassung ihre stärksten Verbündeten. Sie selber hatten die USA zum Land der unbegrenzten Möglichkeiten gemacht, sie selber waren der Magnet, der all das Fremde anzog, was nun in die USA eindrang und ihnen den Lebenshalt zu rauben drohte: fremde Menschen, Sitten, Lehren.

 

Fundamentals heißt »Grundsätze«. »Fundamentalist« war zunächst kein Schimpfname für verbohrte Fanatiker, sondern ehrenvolle Selbstbezeichnung: Wir sind Leute, die noch Grundsätze haben, keine charakterlosen, haltlosen Gesellen, wie sie die moderne Lebensweise massenhaft produziert. Spiel, Tanz, Prostitution und Berufstätigkeit der Frau wurden als Wahrzeichen der neuen Haltlosigkeit wahrgenommen: als Zersetzung der Familie, der Keimzelle der basisgemeindlichen Gesellschaft. Das Milieu, das sich um The Fundamentals formierte, war ein protestantisches Protestmilieu. Es ging ihm um den Erhalt einer jahrhundertelang bewährten civil society. Und die war eben ohne vitalen Biblizismus nicht zu denken. Deshalb wurde unter den modernen Theorien, die mit jeder neuen Einwanderungswelle aus Europa herüberkamen, eine als besonders einschneidend empfunden: die Lehre Darwins.

Darwins Entstehung der Arten von 1859 bestreitet bekanntlich die Sonderstellung des Menschen. Der Mensch ist bloß eine höhere Tierart. Alle Arten sind geworden: aus einfacher gebauten hervorgegangen, Modifikationen von Früherem. Das gilt auch, wenn strittig bleibt, ob Modifikationen zielgerichtete Anpassungsvorgänge an die Umwelt sind, oder ob die Modifikationen, die jeweils genügend angepasst waren, das Glück hatten, zu überleben. Auch die Spezies Mensch ist eine Modifikation, will sagen, aus einer einfacheren Tierart hervorgegangen. Und die ihnen am ähnlichsten bezeichnet sie selbst als »Menschenaffen«. Alles andere als abwegig, dass wir in ihnen unsere Vorfahren anschauen – selbst dann, wenn sich herausstellt, dass sie nicht die unmittelbaren Vorfahren sind, sondern nur eine entfernte Seitenlinie davon.

Darwins Evolutionstheorie hatte überall heftigen Protest der christlichen Kirchen hervorgerufen. Selbstverständlich wurde sie in den Syllabus errorum aufgenommen, ein Verzeichnis von achtzig Irrtümern in Religion, Wissenschaft, Politik und Wirtschaftsleben, das der Vatikan 1864 herausgab. Aber dort war sie nur ein Lapsus unter vielen neben Galileis Astronomie und Kants Vernunftkritik, französischem Materialismus und deutschem Sozialismus. Das katholische Lehramt bestand aus hochgebildeten Intellektuellen mit einem enormen Überblick über das neuzeitliche Denken. Nur so konnten sie es überall dort zensieren, wo es das komplexe katholische Dogmengebäude angriff. Sie hatten natürlich gelesen, was sie dem Kirchenvolk zu lesen verboten. Ein solches großintellektuelles Warnsystem fehlte dem amerikanischen Protestantismus. Um so vitaler fühlte sein schlichter Biblizismus sich angegriffen, als Darwins Lehre mit Macht in den USA vordrang. Sie wurde zu seinem intellektuellen Hauptgegner.

Das lag zum einen daran, dass Darwin eine ganz besondere Attraktion bot, genauer: nicht er selbst, sondern der Sozialdarwinismus mit seinem Analogieschluss: Wie im Tierreich, so in der menschlichen Gesellschaft. Wie es dort den Arten ergehe, so hier den Individuen. Auch das soziale Leben sei ein beständiges Fortschreiten, und wer sich dem Fortschrittstempo der modernen Gesellschaft nicht anpasse, gehe unter. Das sei das Gesetz der Evolution. Dies »Gesetz« hatte in den USA Ende des 19. Jahrhunderts enorme Plausibilität. Man konnte es geradezu calvinistisch interpretieren. Sich dem rasanten Fortschritt anpassen – war das nicht die einzige Chance, einen göttlichen Wink zu bekommen, ob man zu den Erwählten gehört? Andrerseits bestand kein Zweifel: Das Gesetz der Evolution war zutiefst gottlos, denn es widersprach der Bibel. Man musste nur das erste Kapitel aufschlagen: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde«. Darauf hatte sich jahrhundertelang die Sicherheit der eigenen Lebensweise gegründet. Nun kamen Einwanderer, die diese Lebensweise nicht teilten, und mit ihnen eine Lehre, die vorschlug, sich an etwas so Unbeständiges wie den Fortschritt zu halten. Dagegen starteten The Fundamentals ihre Offensive der Wiederbelebung. Wie jeder einzelne Protestant durch persönliche Begegnung mit der heiligen Schrift zu gottgefälligem Leben, so sollte nun eine ganze protestantische Lebensweise und Kultur wiedererweckt werden.

Dazu musste vor allem dreierlei unterbunden werden: Einwanderung von Nichtprotestanten, haltloser Kapitalismus und German Kultur.7 Kam doch aus Deutschland, neben dem fatalen Einfluss von German beer, eine dreifache Gefahr: historisch-kritische Bibelforschung, Sozialdarwinismus und Weltkrieg. Als Inbegriff dieser Gefahr galt Friedrich Nietzsche, von dem als »Antichrist«, Immoralist und kriegstreibender »blonder Bestie« die verzerrtesten Vorstellungen umgingen.8 Fremdenfeindliche, sozialkritische und pazifistische Momente mischten sich im Wirkungsbereich der Fundamentals auf bizarre Weise. Die Schriftenreihe wurde zwar 1915 eingestellt, aber es ist durchaus als ihr Nachhall anzusehen, dass sich 1918 eine World’s Christian Fundamental Association bildete. Das fundamentalistische Protestpotential begann sich zu organisieren. Seinen amerikanischen Höhepunkt erreichte es 1925, als in Dayton jenes Gerichtsverfahren lief, das als »Affenprozess« in die Geschichte eingegangen ist. William Jennings Bryan, der 1896 amerikanischer Präsidentschaftskandidat gewesen war, später unter Wilson Außenminister, bis er 1917, als der Kriegseintritt der USA drohte, sein Amt niederlegte – er setzte nun alle juristischen Hebel gegen Darwins Evolutionstheorie in Bewegung. Sie sollte als unvereinbar mit der Lehre von Gottes Schöpfung an allen öffentlichen Schulen verboten werden. Das Gericht gab der Klage jedoch nicht statt.

Mit dem ganzen Scharfsinn eines modernen Juristen – und Bryan war einer der brilliantesten Anwälte seiner Zeit – auf den Wortlaut der Bibel zu klagen: das ist nicht nur einfach verbohrt. Es ist auch ein Rückgang des artifiziellen modernen Argumentierens an seine anfänglichsten Quellen. Der Daytoner Prozess legt schlagartig die existenzielle, um nicht zu sagen, theologische Tiefendimension allen menschlichen Begründens offen. Warum plagt man sich eigentlich mit Gründen, warum behauptet man nicht einfach bloß? Offenbar, weil man sich mit bloßem Behaupten auf die Dauer nicht behaupten kann. Solange man behauptet, was nicht bestritten wird, etwa dass das Wetter heute gut und das Gras grün ist, ist alles in Ordnung. Behauptet einer aber, dieses Land, Vieh, Haus etc. sei seines, und ein anderer sagt, es gehöre ihm, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Kampf oder Begründung. Letztere ist eigentlich schon zweite Wahl. Wo man seinen Anspruch ohne Umschweife durchsetzen kann, hat man Begründung nicht nötig. Erst wo man zu große Widerstände fühlt, begründet man, tut man dar, dass einem das Beanspruchte zusteht; man appelliert an ein Recht. Ein solches gibt es erst zwischen ungefähr gleich Starken. Erst zwischen ihnen gedeiht Begründungskultur. Recht haben wollen ist zunächst nichts als Sicherheit haben wollen, das, was einem zusteht, unbehelligt genießen wollen.

Dazu bedarf es der begründenden Rede, griechisch: logos, im Gegensatz zur bloß erzählenden Rede, mythos. Begründende Rede ist ein Zeichen von Schwäche, aber auch ein Mittel, Schwäche in Stärke zu verwandeln. Logos ist sowohl Substitut der Faust als auch ihre Sublimierung. Er dient sozialer wie persönlicher Beruhigung, Befriedung, Sicherheit. Man argumentiert nicht einfach, um zu argumentieren. Man begründet nicht bloß um des Begründens willen. Wenn wir Erkenntnis wollen, sagt Nietzsche, wollen wir eigentlich etwas anderes: »etwas Fremdes soll auf etwas Bekanntes zurückgeführt werden. […] Das Bekannte, das heisst: das woran wir gewöhnt sind, so dass wir uns nicht mehr darüber wundern, unser Alltag, irgend eine Regel, in der wir stecken, Alles und Jedes, in dem wir uns zu Hause wissen: – wie? Ist unser Bedürfnis nach Erkennen nicht eben dies Bedürfnis nach Bekanntem, der Wille, unter allem Fremden, Ungewöhnlichen, Fragwürdigen Etwas aufzudecken, das uns nicht mehr beunruhigt? Sollte es nicht der Instinkt der Furcht sein, der uns erkennen heisst? Sollte das Frohlocken des Erkennenden nicht eben das Frohlocken des wieder erlangten Sicherheitsgefühls sein?«9 Was Nietzsche hier offen legt, daran rührt auf seine Weise auch der »Affenprozess«. Seine Kläger haben etwas vom Sicherheits- und Ruhebedürfnis in allem Erkennen innerviert. Alles Begründen will einmal aufhören, es will sein Ende – sein gutes Ende: ruhen in einer letzten Begründung wie Gott am siebten Tag. Die Sabbatruhe ist das Bild des ans Ziel gekommenen Begründens. Es hängt in der Luft, wenn es keinen letzten Grund gibt. Also muss es einen geben, und sei es, dass man ihn herbeiklagt, gerichtlich darauf besteht, dass es einen Text gibt, der ihn unverbrüchlich verzeichnet: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde«.

Das Ungeheure an Darwin ist, dass er den letzten Grund raubt. Raubt er damit aber nicht auch sich selbst das Fundament? Das haben die Biblizisten nicht versäumt, gegen ihn einzuwenden. Selbst wenn unabweisbar ist, dass alle komplexeren Arten allmählich aus einfacheren entstanden sind: Wo und wie ist dieser Prozess denn in Gang gekommen? Je plausibler die Evolution im Detail, desto rätselhafter wird ihr Anfang. Aber irgendeinen muss sie ja haben. Wäre sie nie losgegangen, dann gäbe es sie gar nicht. Damit wird die Evolutionstheorie in eine alte metaphysische Streitfrage hineingezogen: Hat die Welt einen Anfang oder ist sie ewig? Sie muss einen Anfang haben, sagen die einen. Wäre sie nie in Gang gekommen, existierte sie nicht. Sie kann keinen Anfang haben, sagen die andern. Ein absolut erster Zustand, der kein Davor hat, ist ein Widersinn in sich. Also muss das Umgekehrte gelten: Die Welt ist ewig, denn es gibt keinen ersten Zustand. Doch ewig – kann sie ebenso wenig sein. In einer ewigen Welt ist zu jedem Zeitpunkt gleich viel Zeit verstrichen: eine Ewigkeit. Es gibt kein »Ewig und drei Tage«. Ewigkeit kennt kein Danach. Sie ist nicht steigerbar. Und so stellt sich heraus: Ob Anfang oder Ewigkeit der Welt – beides ist denknotwendig und beides ist denkunmöglich. Jede Seite ist im Recht, sobald sie die andere angreift, und im Unrecht, sobald sie von ihr angegriffen wird. Mit andern Worten: Es herrscht hier jener Widerstreit der Vernunft mit sich selbst, den Kant die »erste kosmologische Antinomie«10 genannt hat.