Die illegale Pfarrerin

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Flammenkrankheit

Den Sommer 1924 verbrachte Greti in einem Mädchenpensionat im Welschland, um Kochen, Haushalten und Französisch-Konversation zu lernen. Die Mitschülerinnen stammten aus England, Norwegen, Deutschland, Italien und der Schweiz, und waren zwischen sechzehn und achtzehn Jahre alt. Für die Bündnerin war es komplett neu, ausschliesslich unter jungen Frauen zu sein. Ist das ein Leben unter diesen Mädchen! Schön sind sie die meisten, einige ­sogar bildschön. Bewegung ist unter ihnen. Sie küssen sich, lachen und machen einen ungeheuren Krach. Ich habe aber bereits gemerkt, dass sie hinten herum übereinander schimpfen. (…) Diese Mädchen sind ganz anders als ich, oder bin ich nur nicht gewöhnt, mit Mädchen zu verkehren?,355 fragte sie sich. Verwundert beobachtete sie das Anhimmeln, Küssen und Schmeicheln. Beruhte die Zuneigung auf Gegenseitigkeit, dann gingen zwei junge Frauen eine Freundschaft ein, die exklusiv war. Erika ist verliebt in Alice, berichtete Greti ihrer Freundin Hildi. Alice aber hatte schon, bevor Erika kam, eine Deutsche als Freundin, und sie kommt nun zu spät. Immerhin erbarmte sich Alice und gab Erika abends einen Kuss, worüber Greti sich lustig machte: Habt ihr euch Zucker dazwischen gelegt, damit es süss wurde?356

Die Verliebtheiten unter jungen Frauen bezeichnete Greti im Tagebuch spöttisch als Flammenkrankheit.357 Die Beziehungen zu Jungen und die zu Mädchen beschrieb sie in ähnlichen Worten, sie sprach von Freundschaft, Verliebtheit und Liebe, von Küssen und Tränen, von wilder Sehnsucht und Eifersucht. Immer gab es ein Gebot der Exklusivität: So wie es undenkbar war, mit zwei Jungen gleichzeitig zu gehen, so konnte ein Mädchen auch nicht zwei Freundinnen zugleich haben. Trat eine zweite auf den Plan, versicherte sich das ursprüngliche Freundinnenpaar gegenseitig ihrer Bedeutung füreinander. Kannst Du Dich noch erinnern, dass ich zu Dir sagte: Wenn ich erfahren würde, dass ich Dich noch mit einem andern Mädchen teilen müsste, würde ich es nicht ertragen können?,358 wollte Greti von Hildi wissen. Trotz Verwandtschaft in der Wortwahl störte die Freundschaft zu einem Jungen diejenige zu einem Mädchen jedoch nicht. Beide konnten nebeneinander ­bestehen.

In der spärlichen Freizeit im Mädchenpensionat widmete sich Greti lieber ihren Büchern anstatt einer Liebschaft. Mich hat die grosse Lernwut ergriffen. (…) Jeden Tag müssen zwanzig Seiten Rousseau ge­lesen werden.359 Kein Wunder, galt sie zunächst als richtige, brave Pfarrerstochter.360 Doch seit sie bei einem Abendessen alle zum Lachen gebracht hatte, wurde sie scherzhaft nur noch die missratene Pfarrerstochter genannt. Und schliesslich fand auch Greti eine Flamme im Mädchenpensionat. Wer hätte das geglaubt! Ich glaube ganz sicher, die Flammenkrankheit ist ansteckend. Ich habe nämlich eine Flamme für Trudy Gassmann.361 Ich liebe sie, weil sie so schneidig und stark ist.362 Auch Trudy fand Gefallen an Greti. Sie liebt alle Bündner. (…) Und als sie heute Abend den letzten Tanz mit mir tanzte, sagte sie, sie liebe mich, weil ich so offen sei.363 Doch Gretis Flamme überdauerte die Sommerferien nicht. Die Flammenkrankheit war ein Fieber, das im Internat besonders schnell entflammte, zum Ende der Pensionatszeit aber ebenso rasch wieder erlosch. Gretis wahre Liebe galt Hildi, der Schulfreundin aus Chur.

Im Nachlass finden sich nur noch einzelne Seiten aus Gretis beiden ersten Jugendtagebüchern. Vor ihrem Tod steckte sie die Fragmente in einen Umschlag, den sie ins dritte Tagebuch legte. Offenbar war es ihr wichtig, genau diese Bruchstücke aufzubewahren. Dazu gehörten die Aufzeichnungen zum Generalstreik und ein Gedicht, das Hildi der Freundin 1923, im letzten gemeinsamen Sommer, bevor sie aus Chur wegzog, ins Tagebuch schrieb.

DIE FREUNDIN

Deine Briefe haben goldenen Rand

Und steht viel Törichtes drin!

Doch über das weisse Linnen hin

Ging Deine schmale Hand.

Du ahnst nicht, wie glücklich ich bin,

Da heut Deinen Brief ich fand.

Ist doch Dein ganzes Herz darin

Vertrauens Unterpfand.

Deine Briefe haben goldenen Rand

Gleich wie Dein krausbraun Haar

Als die Sommersonne ihr Licht so klar

auf Dich herniedergesandt,

Damals, als Du am Flussesrand

schlank lagst im feuchten Sand,

Da Dich, halbnackt am wellgen Strand

Mein heisser Blick verschlang.

Deine Briefe haben goldenen Rand

Wie Dein Ringlein mit rotem Rubin,

Das du gleich einer Königin

Trägst an der schmalen Hand.

Du ahnst wohl nicht, wie schlecht ich bin,

Du Kind aus Märchenland!

Doch Dein schlanker Leib, Dein Herz, Deine Hand,

S’liegt all mein Glück darin.

Aug. 1923

Eigentlich war es nicht dazu bestimmt, in diesem Tagebuch zu stehen. Aber nun – basta.

H. Hügli364

1924, ein Jahr früher als Greti, machte Hildi Matur und zog zum Studium nach Bern. Ich suche überall Hildi und sehe sie um jede Strassen­ecke biegen und bin doch allein,365 schrieb Greti im Tagebuch, und an Hildi: Im Nebenzimmer spielen Mama und Käti Klavier und Geige, und in jedem Ton liegt die Sehnsucht nach Dir.366

Doch die Freundschaft zu Hildi, die Greti so viel bedeutete, wurde jäh unterbrochen. Im Dezember 1924 verbot der Vater Greti jeden Verkehr mit der Freundin. Das Machtwort kam für sie aus heiterem Himmel. Hildi zu verlieren, war unvorstellbar. Als ich ihn nach dem Grunde des Verbotes fragte, antwortete er, sie bedeute für mich die grösste Gefahr. Darauf verlangte ich zu wissen, wieso er so plötzlich dazu gekommen, nachdem er zwei Jahre lang unsere Freundschaft ruhig mitangesehen. Er antwortete, er könne mir die Quelle seiner Befürchtungen nicht nennen, worauf ich ihn beschuldigte, heimlich Hildis ­Briefe gelesen zu haben. Er verteidigte sich mit keinem Wort, sondern sagte nur: «Du lieferst damit ein Geständnis!» (…) Am meisten schmerzte mich, dass mein Vater nicht offen war und nicht einfach sagte: Sie soll das und das getan haben. Weisst Du davon und wie stellst Du Dich ­dazu?367 Der Verdacht des Vaters, seine Tochter und Hildi hätten eine sexu­elle Beziehung, war unaussprechlich, und auch Greti wagte es nicht, ihn beim Namen zu nennen. Statt dessen betonte sie, als sie sich später an Hildi erinnerte, den nicht körperlichen Charakter ihrer Freundschaft: Wir gingen nie Arm in Arm, wie die Mädchen es sonst zu tun pflegen, und küssten uns auch nie.368

In ihrem Tagebuch liess Greti ihrer Wut auf den Vater freien Lauf. Was soll Dein Verbot nützen?, schrieb sie sich in Rage. Gedanken sind zollfrei, und ich werde täglich, stündlich an sie denken müssen.369 Was hatte ihn überhaupt auf seinen Verdacht gebracht?370 Diese Frage beschäftigte sie mindestens ebenso sehr wie das väterliche Verbot an sich. Nach der Standpauke kam der Vater nicht mehr auf das Thema zu sprechen. Greti war froh darum. Im Tagebuch hielt sie fest, was sie ihm hätte sagen wollen: Siehst Du, unser Briefwechsel war so eine Art Beichte, und wir legten so alles Böse ab, nachdem wir es niedergeschrieben.371 Zwischen Moral und Verderben, Fantasie und Realität lag nur eine feine Linie. Eine trennscharfe Unterscheidung zwischen dem, was die Freundinnen dachten und dem, was sie taten, gab es nicht: Meistens waren es nur Gedanken, notierte Greti in ihrem Tagebuch. Meistens.

Erstaunlich offen beschrieb Greti die Episode in ihrem Curriculum Vitae zu Händen des Deutschlehrers vor der Matur. Womit auch immer der Vater ihr drohte, sie würde ihrer Freundin treu bleiben. Sie und der Vater seien schliesslich auch nicht frei von Sünde. Ich muss zu ihr halten; denn ich verdanke ihr zu viel, und wenn wir uns die Mühe nehmen wollten, vor unserer eigenen Türe zu kehren, würden wir vielleicht dort genug Unrat finden und sie ihre Sachen ­allein «auskäsen» (lösen) lassen. Ich denke auch keinen Augenblick daran, ein Urteil zu fällen. Ich bin im Gegenteil dem Schicksal dankbar dafür, dass es mich nicht in Versuchung geführt (…)372. Dem Vater zu gehorchen und den Kontakt zu Hildi abzubrechen, kam für sie so oder so nicht in Frage. Ich hätte mich selbst verachten müssen, wenn ich jetzt abgebrochen hätte. Ja, ich liebte sie noch mehr als vorher, denn meine Liebe wurde angetan mit dem Märtyrerstrahlenkranz.373

Als Greti ein Jahr nach Hildi die Matura machte, wagte sie es allerdings nicht, den Vater zu fragen, ob sie wie die Freundin in Bern studieren dürfe.374 Aus der innigen Verbindung wurde eine Brieffreundschaft, die die beiden auch dann noch aufrecht erhielten, als Hildi einige Jahre später mit ihrem Mann nach Amerika zog und eine Familie gründete. Sie wurde Dozentin, er Professor an der Universität von Chatanooga (Tennessee). Bis ins hohe Alter schrieben sich die beiden Freundinnen.

 

Möglicherweise wäre Joos Roffler ebenso eifersüchtig gewesen, hätte er entdeckt, dass seine Tochter einen Mann liebt. Schliesslich reagierte er auch auf Gian, der kurze Zeit später in Gretis Leben trat, mit Eifersucht. Fest steht jedoch auch: Die Selbstverständlichkeit, mit der Greti und ihre Freundinnen Frauenbeziehungen lebten, teilte er nicht. Damit war er ganz Kind des zwanzigsten Jahrhunderts, während in der Flammenkrankheit der Internatsschülerinnen die Kultur romantischer Frauenfreundschaften des neunzehnten Jahrhunderts nachzuwirken scheint. Die österreichische Historikerin Hanna Hacker stellt fest, dass innige Verhältnisse jedenfalls unter bürgerlichen und adeligen Frauen mindestens bis ins späte neunzehnte Jahrhundert kulturell nicht geächtet, sondern vielmehr unterstützt und gleichsam zelebriert wurden.375

Caroll Smith-Rosenberg, die Frauenbeziehungen im neunzehnten Jahrhundert in Nordamerika anhand von Briefen analysiert hat, schreibt: Die wesentliche Frage ist nicht, ob diese Frauen ­Geschlechtsverkehr miteinander hatten und so als hetero- oder homosexuell definiert werden können. Die Tendenz des zwanzigsten Jahrhunderts, Liebe und Sexualität im Rahmen einer dichotomisierten Welt von abweichendem und normalem Verhalten, von genitaler und platonischer Liebe zu sehen, ist den Gefühlen und Einstellungen des neunzehnten Jahrhun­derts fremd und vermittelt ein von Grund auf verzerrtes Bild von den emotionalen Beziehungen dieser Frauen. Diese Briefe sind wichtig, weil sie uns zwingen, solche Liebesbeziehungen in einem bestimmten historischen Kontext zu situieren.376 Ab Ende des neunzehnten Jahrhunderts begannen sich Ärzte und Psychiater mit gleichgeschlechtlichen Beziehungen zu beschäftigen und entwickelten den Begriff Homosexualität. Diese neue öffentliche Aufmerksamkeit brachte betroffene Frauen – und Männer – in die Defensive.

Dreissig Jahre, bevor Greti ihre Freundschaft zu Hildi rechtfertigte, hatte sich eine andere Bündnerin gegen ähnliche Vorwürfe ­gewehrt: Meta von Salis, geboren 1855 im Schloss Marschlins in Igis, anderthalb Kilometer vom Pfarrhaus entfernt, in dem Greti später aufwuchs.377 Als junge Erwachsene pflegte die Adlige eine schwärmerische Freundschaft zur Deutschen Theo Schücking. Die beiden Frauen besiegelten ihre Beziehung mit Blut und einem Ring und malten sich ein gemeinsames Leben aus. Ihre Wege trennten sich allerdings bald.378 Kurz darauf begegnete Meta von ­Salis an der Universität Zürich, wo sie später als erste Frau in Geschichte promovierte, der Fotografin Hedwig Kym, Tochter des Professors Ludwig Kym.379 Meta und Hedwig wurden Freundinnen fürs Leben. Sie unternahmen zahlreiche Reisen miteinander und waren in der Frauenbewegung aktiv.380 Auch andere ledige Akademikerinnen ihrer Generation lebten als Freundinnen zusammen, etwa die Ärztin Caroline Farner und ihre Lebensgefährtin Anna Pfrunder. Meta von Salis beschrieb die Frauenfreundschaft als Phänomen ihrer Zeit.

Solange die Frau eine abhängige, gänzlich von der Familie bestimmte, in ihr begrenzte Stellung einnahm, konnte Freundschaft in dem weiten und tiefen Sinn (…) bei Frauen gar nicht aufkommen. Sie entstand nicht, weil ihr die Lebensbedingungen, Handlungsfähigkeit und Handlungsfreiheit fehlten. Kaum waren diese durch die berufliche Ausbildung und um sich greifende Befreiung der Frauen von männlichen Vormündern, Brüdern und Schwägern gegeben, so zeitigten sie auch die köstliche Frucht der Freundschaft à toute épreuve zwischen Frauen.381

Diese Freundinnenpaare waren gesellschaftlich respektiert – solange sie niemandem in die Quere kamen. Als Caroline Farner und Anna Pfrunder Mitte der 1880er-Jahre zwei Waisenkinder aus Pfrunders Verwandtschaft bei sich aufnahmen, zerrte sie ein ­Onkel der Kinder vor Gericht: Die Frauen hätten es nur auf das Ver­mö­gen der Waisen abgesehen. Im Prozess, der sogar in Deutschland wahrgenommen wurde,382 kam es zu einer Schlammschlacht gegen Caroline Farner. Der Kommentator der NZZ diffarmierte die Ärztin aufgrund ihres Äusseren. Dr. med. Karoline Farner erscheint mit Herrenkragen und weiter Krawatte383, das kurzgeschnittene Haar in der Mitte gescheitelt und auf die Stirn vorfallend. (…) Ihr durchaus männlich gebildetes Gesicht zeigt dabei den Ausdruck gespanntester Aufmerksamkeit.384 Meta von Salis verteidigte ihre Freundin in einer achtzigseitigen Broschüre mit dem Titel Der Prozess Farner – Pfrunder. Darin wehrte sie sich gegen den impliziten Vorwurf, die Frauen führten eine sexuelle Beziehung – und versuchte unausgesprochen auch sich und Hedwig Kym als keusch darzustellen.

Dass eines der entsetzlichen Entartungsgebilde der Hyperkultur auch den Namen Freundschaft trägt, ist zu bedauern, aber die beiden zu verwechseln, wird nur einem mit den raffiniertesten Lastern vertrauten ­Gesellen gegeben sein. Das Giftgeschwür heftet sich an die Existenzen beschäftigungs- und interesseloser, überreizter Genussmenschen, die keusche Blume der Freundschaft385 entspringt dem Boden einer arbeitsfrohen, pflichttreuen Lebensführung.386

Giftgeschwür, Entartungsgebilde, Hyperkultur: Meta von Salis benutzte Begriffe, die die körperliche Liebe zwischen Frauen als entsetzliche Seuche, genetischen Defekt oder Zivilisationskrankheit darstellten. Ihr Vokabular erinnert an zeitgenössische rassistische und antisemitische Schriften. Tatsächlich las die Bündnerin die Bücher des französischen Rassentheoretikers Arthur de Gobi­neau.387 Mit den Rassentheorien untermalten Aristokratinnen wie Meta von Salis ihre Machtansprüche, die in der Demokratie an Legi­timation verloren hatten.

1904 verkaufte Meta von Salis Schloss Marschlins ihrem Cousin, dem Rechtsprofessor Ludwig Rudolf von Salis-Maienfeld, und war nur noch sporadisch zu Besuch auf dem Anwesen. Sie liess sich und Hedwig Kym auf der italienischen Insel Capri eine Villa bauen.388 Meta von Salis war damals knapp fünfzig Jahre alt, Greti wurde erst zwei Jahre später geboren. Der neue Schlossbesitzer amtete lange Jahre als Kirchgemeindepräsident von Igis389.

Maria Metz, geb. 1935, Tochter von Gretis Schwester Käti

Meine Mutter erzählte ab und zu von den Einladungen im Schloss Marschlins. Die Kinder (also Greti und ihre Geschwister) mussten sich in Gala stürzen und nobel tun. Sie gingen nicht gern dorthin, weil sie im Schloss nichts anfassen durften. Sie mussten ruhig dasitzen und darauf achten, dass sie richtig assen. Meta von ­Salis sass manchmal auch mit am Tisch. Die Kinder verstanden nicht, worüber die Erwachsenen sprachen. Was sie begriffen: Dass Meta von Salis eine hochgescheite Frau war.390


Igis,
Februar 1931

Ein Neugeborenes liegt nackt auf der Waage. Trotz der unter­gelegten Windel ist die Waagschale hart. Eben noch hat es auf dem weichen Kissen gelegen. Irritiert über den Vorgang, sucht es Kontakt zur Mutter, doch sie ist mit der Waage ­beschäftigt. Sechsmal am Tag legt sie das Kind auf die Schale, um sicherzugehen, dass es genug zunimmt. Kein Wunder, muss sie genau auf die Skala schauen, um die Gewichtszunahme von einer Wägung zur nächsten zu registrieren. Obschon das Kind reichlich Babyspeck hat – bei der Geburt ist es fast anderthalb mal so schwer wie ein durchschnittliches Neugeborenes –, sorgt sich die Mutter permanent um sein Gewicht und führt ­akribisch Buch über die Trinkmengen. Von Anfang an misst sie das Kind an vorgegebenen Normen. Entspricht es ihnen nicht, ist das für die Mutter ein Grund zur Beunruhigung. Ihre ­Sorge kann sie nicht unmittelbar mit dem Vater des Kindes ­teilen. Er ist noch in Brasilien, ihre Briefe dorthin sind mindestens zwei Wochen unterwegs. Brüderlein, ich glaube, es ist ­niemand so ein Angsthase wie eine Mutter. Wenn ich keine Waage hätte, würde ich es ja gar nicht merken. Das wird dann391 etwas für Dich. Statt ­Holzklötzlein kannst Du dann Deinen Sohn wägen.392

Später wird sich Enkel Andres daran erinnern, wie er seinen Grosseltern Gian und Greti im Altersheim stolz seinen Erst­geborenen präsentierte, ihren dritten Urenkel. Beide beugten sich über das Baby. Nani sagte nur: Nennt ihn ja nicht Dominic, er heisst Gian Domenic. Und Neni schaut das Kind an und beginnt gleich mit ihm zu spielen.393

Einsame Geburt

Igis, Pfarrhaus, Januar 1931. Tag um Tag verging, und jeden Tag ver­lor Greti Fruchtwasser.394 Immer wieder hatte sie Schmerzen in der Gebärmutter.395 Dr. Jeklin untersuchte sie und stellte fest, dass das Kind in Steisslage lag. Sie sehnte sich nach Gian und war doch froh, dass er sie in diesem Zustand nicht sah. Liebes, sei Du froh, dass Du nicht hier bist. Es wäre schwer für Dich, untätig meine stumpfe Verzweiflung zu sehen. Tagsüber, im hellen Sonnenschein, geht es, aber wenn es anfängt zu dunkeln und ich immer müder werde, dann muss ich allein sein, stehe in der dunkeln Stube und starre hinaus gegen die Berge, von denen noch ein mattes, blauweisses Licht fliesst.396

Sie mochte nicht müssig herumsitzen und nutzte die Zeit, um an einem Berufsbild für Theologinnen zu arbeiten.397 Darin wollte sie nicht nur begründen, warum sie Frauen für ebenso geeignet hielt wie Männer, um Gottes Wort zu verkünden, sondern auch einen Überblick über die Fortschritte in Sachen Pfarramt für ­Frauen geben. Sechs Tage nach dem Blasensprung spürte sie beim Erwachen Wasser zwischen den Beinen. Am Freitag morgen fing es an so stark zu gehen, dass ich unserem Kleinen vier Windeln einweihte.398

Ungeduldig wartete Greti auf die Morgenpost, die die Basler Nachrichten brachte.399 Darin fand sie den ersehnten Bericht der ­Synode: Verwendung der Frau im Kirchendienst400 war der zweispaltige Artikel überschrieben, der die Debatte ausführlich wiedergab und auch die erwartungsvolle Stimmung unter den zahlreichen Frauen auf der Tribüne beschrieb.401 Die Voten waren überwiegend positiv, ebenso das Resultat: Die Basler Kirche schuf ein neues Hilfsamt, Theologinnen durften fortan als Pfarrhelferinnen seelsorgerisch tätig sein und aushilfsweise auch Predigten und alle weiteren kirchlichen Amtshandlungen – Trauungen, Beerdigungen und Taufen – vornehmen. Sie erhielten so einen ähnlichen Status wie ihre Kolleginnen in Zürich, mit dem symbolischen, aber nicht unwichtigen Unterschied, dass die Basler Kirche auch eine Ordination der Theologinnen vorsah.

Der Entscheid befriedigte Greti nicht ganz. Sie wollte sich nicht mit einem eingeschränkten Pfarramt zufriedengeben, sah aber auch, dass sie und ihre Mitstreiterinnen bei der politischen Grosswetterlage kaum auf mehr hoffen konnten.402 Sie arbeitete die Nachricht aus Basel in ihr Berufsbild ein. Mittags schlief sie zwei Stunden tief und fest. Dann setzte sie sich wieder an die Schreibmaschine und schrieb. Als ich die Korrektur403 las, fingen die leisen ersten Schmerzen an, und zwischen den beiden ersten starken Wehen schrieb ich mit zittriger Hand die Adresse. Sie war dankbar, dass das Kind so lange gewartet hatte. Mehr Verständnis kann ich von ihm nie verlangen!404

 

Dann ging es endlich richtig los.405 Die Wehen wurden schnell heftiger, die Abstände dazwischen immer kürzer. Bei jeder Welle hielt sich Greti mit beiden Händen an einer Stuhllehne fest. Als sie nicht mehr stehen konnte, führte Anny, die Hebamme, sie ins Schlafzimmer und zog ihr ein Nachthemd und das weisse Bettjäckchen an, das die Schwiegermutter aus Pontresina geschickt hatte. Bei jeder Wehe stützte die Hebamme Greti im Rücken. Um halb zehn Uhr abends kam Dr. Jeklin und untersuchte sie. Der Kopf des Kindes sei zuvorderst, alles komme gut. Wie es bei Sterbenden oft vorkommt, so trug ich heftiges Verlangen, aufzustehen, wegzugehen und alles zurückzulassen. Zum Ersatz richtete ich mich mühsam in die Knie auf und stemmte mit den Händen gegen die Bettstatt. Ich hörte den Arzt sagen: «Eine jede sucht sich anders zu helfen.» Nach einer Weile hiess er mich, mich wieder hinzulegen, weil er so keine Kontrolle habe. Ich wartete immer noch darauf, dass die Schmerzen nun so stark werden würden, dass ich schreien müsste. Die Hebamme presste nun Gretis angezogenen Knie gegen ihren Leib. Ganz unten hinaus, fest, so ist’s recht, tief atmen und grad noch einmal, redete sie der Gebären­den zu. Nach einer Weile merkte Greti, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie hörte den Arzt sagen: Es verhält irgendwo. Er versuchte nachzuhelfen, drückte vom Darm und von der Blase her, doch ohne Erfolg.

Ich kämpfte weiter, das Schwierigste war wieder einmal das Warum in meinem Leben: warum ging es denn nicht vorwärts. Eine Narko­se war vollkommen ausgeschlossen, da ich ja alles selber tun musste.406 Dazu waren die Schmerzen ja sehr leicht zu ertragen. Es verrann wieder eine Stunde, da plötzlich, ohne dass ich selber etwas Besonderes spürte, sagte der Arzt: Jetzt haben wir den Kopf und jetzt auch grad das Popeli. Es lag einfach plötzlich da und soll schon mit der Nase geschnuppert haben, bevor es brüllte. Ich sah zwei rosige Beinlein und zwei Ärmlein zwischen meinen Beinen in der Luft herumfahren und hörte zwei kräftige Kläpse klatschen, dann schrie ein hohes Stimmlein zweimal auf.

Sie fingen an, den Nabelstrang zu unterbinden, als ich unsern Sohn mit den Worten begrüsste: Könnt Ihr ihn nicht ein bisschen weiter wegnehmen? Er strampelte mit seinen Füsschen immer gegen meine wunde Stelle, so dass ich ihn von Herzen wegwünschte. Sie schnitten ihn ab und badeten ihn. Er wurde gewogen: Mami durfte ihn auf die Arme nehmen: Freudentränen rannen ihr über die Wangen. Sie wollte ihn mir bringen, ich schüttelte nur den Kopf, denn die wunde Stelle brannte mich entsetzlich, auch war die Nachgeburt noch bei mir. Nun kamen sie wieder zu mir. Dr. Jeklin machte ein paar Press- und Drückbewegungen auf meinem Bauch und plötzlich ging ein ungeheurer, warmer Blut­kuchen ab, und sofort war mir «vögeliwohl». Ich hatte aber noch etwas vor mir: Der grosse Bub hatte mir drei Dammrisse gerissen, sie mussten noch vernäht werden, ich gab aber keinen Laut von mir. Und nun begann ein allgemeines Lob über meine Tapferkeit während der ganzen Nacht. Als ob sie denn wüssten, wie wenig oder wie sehr es wehgetan. Wenn ich kein einziges Mal geschrien, so war dies sicher nur, weil ich eben nicht musste. Als der Dr. sagte: «Es ist doch nicht, dass es ein Bub ist?», antwortete ich: «Ja, aber das nächste muss dann ein Mädchen sein!» Ich dachte also schon an das nächste!

In São Paulo wartete Gian schon seit Tagen auf eine Nachricht. Am 24. Januar frühmorgens war es soweit.407

CABOGRAMMA

M. 1 LANDQUART 12 3.30 24 ZIR

CAPREZ

RUA 7 ABRIL 68 SPAULO

SOHN SAMSTAG 3 UHR BEIDE WOHL

GRETI

Auf dem Weg zum Polytechnikum ging er beim Telegrafenamt vorbei.

GROSSE FREUDE

WUENSCHE GUTE GENESUNG ERWARTE

LETTERTELE JETZTIGES BEFINDEN

FREUNDLICH WORT GIANIN

Im Büro behielt er die Neuigkeit für sich.408 Sie schien ihm zu kostbar, um sie mit jemandem zu teilen. Als er abends nach Hause kam, wartete die erbetene Antwort.

NORMALER VORGANG BEGINN NEUNZEHN ENDE DREI UHR

NEUN PFUND BEIDE MUNTER409 FREUDE

GRETI

Immer wieder schaute sich Gian die beiden kleinen Fotos an, die Greti ihm vor einigen Wochen geschickt hatte von sich und dem leeren Korb.410 Liebes, wie hast Du es überstanden, und «er», wie sieht denn «er» aus?, erkundigte er sich. Es ist schon so unrecht, dass ich hier wie ein Murmeltier schlafe und mich so wohl wie nur möglich fühle, währenddessen Du Dich in Schmerzen quälst. Wirst Du diese Nacht wohl schlafen können? Du musst mir dann jeden Abend erzählen, was Du alles erlebt und gefühlt hast, seitdem Du von mir fort bist, sonst verliere ich den Zusammenhang zwischen uns beiden und «ihm», und «es» soll mir doch nicht fremd vorkommen.411

Während Gian diese Zeilen schrieb, brach fast zehntausend Kilo­meter412 weit weg in Igis der Morgen an. Greti erwachte nach der ersten kurzen Nacht als Mutter. Auf dem Tisch stand ein Strauss roter Nelken, den ihre Freundin Verena mitgebracht hatte.413 Greti fühlte sich sehr müde, aber gleichzeitig munter.414 Neben ihr lag das Kind im Zainli und schlief.415 Komisches Gefühl, dass «es» nicht mehr bei uns ist und «selbständig» und so gross in seinem Korb.416 Sie nahm den Brief zur Hand, den sie drei Tage zuvor angefangen hatte, als sie noch verzweifelt am Warten war, und fügte mit zittriger Schrift ein paar Zeilen hinzu.

Sonntag, 25. Januar 1931

Brüderlein, hast Du mir einen «Gwaltgüggel» mitgegeben! Er ist sehr gross: neun Pfund. Durchschnitt eines Neugeborenen: 6,2 Pfund. Ich hatte nicht gewusst, dass so ein eintägiges Wesen so brüllen kann. Er hat die letzte, seine erste ganze, Nacht gebrüllt von zehn bis vier Uhr ohne Unterlass und von da an ein bisschen ergebener und mit Unterbruch. Brüderlein, wir werden beide fest zusammenstehen müssen, um seinen Starrkopf anheben zu ­mögen. Von der Geburt schreibe ich Dir morgen. Heute noch zu müde.417

Zwei Wochen später hielt Gian den Brief mit dem ausführlichen Geburtsbericht in Händen. Als er ihn las, war er erleichtert und stolz zugleich. Du gutes tapferes Greti, Liebste, weisst Du denn, welche Freude ich an Deinem Brief habe!418 Ich kauerte vor jedem Satz, las ihn langsam und gespannt und fand mich bald laut lachend, bald misstrauisch abwartend und ernst. Aber Du hast so glänzend geschildert, dass ich es miterlebte, als ob ich auch bei Dir gewesen wäre, dazu wusste ich ja auch, dass es nicht sehr schlimm kommen sollte, was ich, wenn ich bei Dir selbst gewesen, nicht hätte wissen können. Und wie das Kind419 in ­Nanis Arme gelegt wurde, da merkte ich, dass auch ich feuchte Augen hatte. Dass Du es von Dir weghaben wolltest, begreife ich gut, es freut mich «usinnig», wie Du Dich verhalten hast. Deine Sachlichkeit ist ganz glänzend.420

Noch immer konnte Greti kaum glauben, dass sie dieses Kind empfangen, ausgetragen und geboren hatte. In Gedanken nannte sie die Zeugung das Wunder vom 14. April.421 Dass sie den Zeitpunkt der Empfängnis genau geplant hatte, daran wollte sie sich mittler­weile nicht mehr erinnern. Es ist zu mir gekommen aus Eigenwillen, da wir meinten, sein Dasein noch nicht verantworten zu können. Da «es» nun aber wider unseren Willen uns geworden war, konnte es nicht anders sein als dass «es» uns geschenkt worden.422 Das Wunder hatte jetzt einen Namen: Gian Andrea Caprez. Gretis Vater bedauerte, dass der Enkel nicht Roffler hiess.423 Sie pflichtete ihm insgeheim bei, trauerte aber nicht um den Stammhalter, sondern um die Aner­ken­nung ihres Beitrags an dem kleinen Wunder. Ganz recht ist es nicht: die Mühen haben wir Frauen, aber unseren Namen dürfen wir dem ­Erfolg der Schmerzen nicht geben. Aber Name ist Schall und Rauch. Wie der Mensch ist, ist die Hauptsache.424 Für beide Grosselternpaare war Gian Andrea das erste Enkelkind. Sie nannten es liebevoll Hans-Hühnchen und wussten sich nicht zu fassen vor Freude.425

Die Erziehung war für Greti vom ersten Tag an ein Kampf. Gemäss der modernsten Säuglingspflege sollte eine Mutter ihr Kind alle vier Stunden stillen, angefangen um sechs Uhr früh. Um zehn Uhr abends gab sie ihm die letzte Mahlzeit, danach für acht Stunden nichts mehr. Hebamme Anny blieb die ersten drei Wochen nach der Geburt im Pfarrhaus und unterstützte Greti dabei, den Stillrhythmus einzuhalten. Die Grossmütter zeigten sich skeptisch, ein solch strenges Regime war ihnen fremd. Doch Greti wollte das Kind früh ans Durchschlafen gewöhnen.426 Es sei ja zum Besten für alle, rechtfertigte sie sich vor Gian. Wenn die beiden ­Nanis erzählen, dass sie bei ihren Kindern ein ganzes Jahr jede Nacht fünf bis sechsmal aufgestanden seien, so will ich lieber jetzt noch ein paar Nächte das Geschrei und die Bächlein meiner Milch, dafür aber nachher Ruhe für mich, Dich und es.427

So leicht, wie Greti gehofft hatte, gewöhnte sich Gian Andrea allerdings nicht an die Stilldisziplin. Hans-Hühnchen versucht es noch jede Nacht, unsere Herzen zu erweichen, berichtete sie Gian am vierten Tag nach der Geburt. Aber weder die «Gluggeri» noch die Mutter sind barmherzig. Sie schweigen, wenn sie auch nicht schlafen können. Freilich wenn man bedenkt, dass er von vier bis halb sechs brüllt, schmatzt und mit offenem Mäulchen in der Luft herumfährt, es an seinen Fäustchen und dem Kopfkissen versucht und unterdessen aus der übervollen Brust der Mutter zwei Bächlein rinnen, so ist dies viel geopfert für den Götzen Erziehung.428 Sie fühlte sich ohnmächtig, und in ihr regten sich leise Zweifel, ob der eingeschlagene Weg der richtige sei. Doch dann riss sie sich zusammen. Es muss werden, wir müssen es zum Durchschlafen, zu acht Stunden Ruhe bringen.429

Am sechsten Tag war Greti der Verzweiflung nah. Das Kind brüllte nachts immer noch zwei Stunden, obschon es tagsüber viel trank. Sie befürchtete, die Erziehung werde so nie gelingen.430 Die Nächte waren eine Qual, und auch tagsüber kam Greti nicht zur Ruhe. Der Besuch gab sich die Klinke in die Hand, Gians Mutter hatte sich gleich für mehrere Tage einquartiert. Sie sehnte sich danach, zwei Tage am Stück ganz allein zu sein mit dem Kind.431 Nur über den Besuch ihrer Freundin Verena freute sie sich. Verena, die Weggefährtin, mit der Greti alles besprechen konnte, was sie bewegte: die Arbeit als Theologin, Ehe und Mutterschaft und die Möglichkeit, alles miteinander zu verbinden.

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