Oliver Twist

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Oliver Twist
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Oliver Twist
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Czyta Cora McDonald
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10 – Oliver gewinnt Einblick in die Charaktereigenschaften seiner neuen Kollegen, bezahlt aber seine Erfahrung sehr teuer.

Für vie­le Tage lang blieb Oli­ver bei dem Ju­den und zupf­te die Mo­no­gram­me aus Ta­schen­tü­chern, die in großer Zahl ein­lie­fen, und nahm auch zu­wei­len an dem be­reits er­wähn­ten son­der­ba­ren Spiel, das die bei­den Jun­gen und der Jude Tag für Tag wie­der­hol­ten, teil. End­lich aber konn­te er es vor Sehn­sucht nach fri­scher Luft nicht mehr aus­hal­ten und bat den men­schen­freund­li­chen al­ten Gent­le­man, ihn doch ein­mal mit den bei­den Jun­gen aus­ge­hen zu las­sen.

Ei­nes Mor­gens wur­de ihm die Er­laub­nis dazu er­teilt, ver­mut­lich weil kei­ne Ta­schen­tü­cher mehr da wa­ren, an de­nen er hät­te ar­bei­ten kön­nen. Über­dies wa­ren der Bal­do­we­rer und Char­ley Ba­tes be­reits des öf­te­ren abends mit lee­ren Hän­den nach Hau­se ge­kom­men, und das hat­te je­des Mal den al­ten Herrn ver­an­lasst, ih­nen mit großem Nach­druck das Ver­werf­li­che ei­nes mü­ßi­gen Le­bens­wan­dels vor Au­gen zu hal­ten. Ge­le­gent­lich ging der Jude so­gar so weit, die bei­den so lan­ge durch­zu­prü­geln, bis sie wie­der die Trep­pe hin­un­ter­flo­hen.

Oli­ver mach­te sich also mit sei­nen bei­den Ge­fähr­ten auf den Weg. Der Bal­do­we­rer hat­te die Rock­är­mel wie­der auf­ge­krem­pelt und ba­lan­zier­te, wie es sei­ne Ge­wohn­heit war, sei­nen Hut auf dem Kopf, wäh­rend Char­ley Ba­tes, die Hän­de in den Ta­schen, lang­sam mit­schlen­der­te, so­dass Oli­ver zu der An­sicht neig­te, die bei­den müss­ten den gü­ti­gen al­ten Herrn of­fen­bar hin­ter­ge­hen und sich von der Ar­beit drücken. Über­dies hat­te der Bal­do­we­rer die gars­ti­ge An­ge­wohn­heit, klei­nen Jun­gen die Müt­zen vom Kopf zu rei­ßen oder sie in den Rinn­stein zu sto­ßen, und auch Char­ley Ba­tes be­nahm sich sehr son­der­bar und schi­en be­son­ders sehr ei­gen­tüm­li­che Be­grif­fe von Mein und Dein zu ha­ben, denn wo er nur konn­te, sti­bitz­te er Äp­fel und Zwie­beln in den Höch­ler­bu­den und ließ sie in sei­nen ge­räu­mi­gen Ta­schen ver­schwin­den. Das al­les miss­fiel Oli­ver der­art, dass er den bei­den schon sa­gen woll­te, es wäre wohl das bes­te, er gin­ge wie­der al­lein nach Hau­se, als er in sei­nem Vor­ha­ben durch eine plötz­li­che ge­heim­nis­vol­le Wand­lung, die im Be­neh­men des Bal­do­we­rers vor sich ging, ab­ge­lenkt wur­de.

Sie tra­ten eben aus ei­nem sehr en­gen Hof in Cler­ken­well, der noch heut­zu­ta­ge selt­sa­mer­wei­se die grü­ne Wie­se heißt, als der Bal­do­we­rer plötz­lich ste­hen blieb, den Fin­ger auf die Lip­pen leg­te und sei­ne bei­den Ge­fähr­ten vor­sich­tig zu­rück­dräng­te.

»Was gibt es denn?« frag­te Oli­ver.

»Still«, flüs­ter­te der Bal­do­we­rer. »Siehst du den al­ten Schöp­fen drü­ben an der Bü­cher­bu­de, Char­ley?«

»Den al­ten Herrn drü­ben?« frag­te Oli­ver. »Ja, den sehe ich.«

»Das ist was für uns«, sag­te der Bal­do­we­rer.

»Das ist der Rich­ti­ge, pri­ma pri­mis­si­ma«, rief Mas­ter Char­ley Ba­tes.

Oli­ver mach­te ein ver­wun­der­tes Ge­sicht, konn­te aber nicht wei­ter fra­gen, denn die bei­den an­de­ren husch­ten über die Stra­ße und schli­chen sich hin­ter den al­ten Herrn. Oli­ver ging un­schlüs­sig eben­falls hin­über, blieb dann ste­hen und sah ih­nen stumm und ver­wun­dert zu.

Der alte Herr sah un­ge­mein ehr­wür­dig aus, trug eine Perücke, gol­de­ne Bril­le, einen fla­schen­grü­nen Rock mit schwar­zem Samt­kra­gen, wei­ße Ho­sen und ein schickes Bam­bus­stäb­chen un­ter dem Arm. Er hat­te ge­ra­de ein Buch zur Hand ge­nom­men und las eif­rig dar­in. Er schi­en für nichts an­de­res einen Blick zu ha­ben und blät­ter­te ver­tieft in dem Buch. Ent­setzt be­merk­te Oli­ver plötz­lich, dass der Bal­do­we­rer sei­ne Hand in der Ta­sche des al­ten Herrn ver­schwin­den ließ und sie gleich dar­auf mit ei­nem Ta­schen­tuch wie­der her­aus­zog, das er dann Char­ley übergab, wor­auf bei­de um die Ecke her­um Reiß­aus nah­men. Im Nu war ihm das Ge­heim­nis klar, von wo die Ta­schen­tü­cher, Uhren und Pre­tio­sen des Ju­den ka­men. Eine Se­kun­de lang stand er wie ge­lähmt da. Dann lief er er­schreckt da­von, so schnell ihn sei­ne Füße tra­gen woll­ten.


Das al­les dau­er­te kaum eine Mi­nu­te. Im sel­ben Au­gen­blick, als Oli­ver zu lau­fen an­fing, griff der alte Herr in sei­ne Ta­sche und dreh­te sich, da er sein Schnupf­tuch ver­miss­te, um. Er sah Oli­ver da­von­lau­fen, hielt ihn na­tür­lich für den Dieb und schrie: »Hal­tet den Dieb« und lief ihm mit dem Buch in der Hand nach. Kaum hör­ten der Bal­do­we­rer und Char­ley Ba­tes sei­nen Ruf, als auch sie aus ih­rer Ecke wie­der her­vor­ka­men und, um den Ver­dacht von sich ab­zu­len­ken, laut in das be­reits all­ge­mein wer­den­de Ge­schrei der Stra­ße: »Hal­tet den Dieb« ein­stimm­ten. So ein Ruf »Hal­tet den Dieb, hal­tet den Dieb« hat eine ma­gi­sche Wir­kung. Der Kauf­mann springt hin­ter dem La­den­tisch her­vor, der Fuhr­mann vom Wa­gen her­un­ter, der Flei­scher wirft sei­ne Mul­de weg und der Bä­cker sei­nen Brot­korb, der Milch­mann lässt sei­nen Ei­mer ste­hen, der Lauf­bur­sche ver­liert sein Pa­ket. Je­der wirft weg, was ihn am Lau­fen hin­dert. Der Schul­jun­ge sei­ne Mar­meln, der Mau­rer sei­ne Kel­le, das Kind sei­nen Gum­mi­ball, und to­bend, krei­schend und brül­lend geht die wil­de Jagd um die Ecke. Die Hun­de bel­len und ja­gen ein­her und ver­scheu­chen die Hüh­ner, und Stra­ßen und Plät­ze und Höfe wi­der­hal­len von dem Ruf: »Hal­tet den Dieb, hal­tet den Dieb.« Bei je­der Stra­ßen­bie­gung wächst die Men­ge an. Da­hin lau­fen sie und pat­schen durch Pfüt­zen und Rinn­stei­ne. Fens­ter flie­gen auf, und vor­wärts, im­mer vor­wärts stürzt der Knäu­el. Al­les kreischt vor Freu­de: »Hal­tet den Dieb.« Wenn sie den Ar­men end­lich ha­ben, zu Bo­den ge­wor­fen liegt er da, und die Men­ge um­drängt ihn. Und je­der trach­tet, ihm noch einen Hieb zu ver­set­zen. Weg da, Platz da! Wo ist der Herr? Da kommt er jetzt die Stra­ße her­un­ter, Platz für den Herrn. »Ist das der Dieb, Sir?«

»Ja.«

Von Schmutz be­deckt und blut­über­strömt lag Oli­ver da und starr­te in den Hau­fen der ihn um­rin­gen­den Ge­sich­ter. Da dräng­te man den al­ten Herrn vor ihn hin.

»Ja«, sag­te der Herr, »ich fürch­te, es ist der Jun­ge.«

»Wa­rum denn – fürch­ten«, mur­mel­ten ei­ni­ge. »Um den ist nicht scha­de.«

»Ar­mer Jun­ge«, sag­te der Herr, »er hat sich wohl weh ge­tan?«

»Ich hab’ ihm eine ver­setzt«, mel­de­te sich ein baum­lan­ger Strolch, »i bin ihm mit der Faust übers Maul g’fah­ren; i war’s, der wo ihn auf­g’hal­ten hat, Herr.«

Und grin­send griff der Lüm­mel an sei­nen Hut, ein Trink­geld er­war­tend. Aber der alte Herr warf ihm nur einen bit­ter­bö­sen Blick zu und sah sich ängst­lich um, als lie­fe er selbst am liebs­ten da­von, und er wür­de es wahr­schein­lich auch ge­tan und da­durch eine neue Hetz­jagd ver­an­lasst ha­ben, wenn sich nicht ein Po­li­zei­mann – wie im­mer in sol­chen Fäl­len – als al­ler­letz­ter ein­ge­fun­den und Oli­ver am Kra­gen ge­packt hät­te.

»Heda, auf­ge­stan­den«, sag­te der Po­li­zist grob.

»Ich bin es doch nicht ge­we­sen, Sir; wirk­lich, ich war es nicht. Es wa­ren zwei an­de­re Jun­gens«, rief Oli­ver ent­setzt, die Hän­de fal­tend und ver­stört um sich bli­ckend. »Ir­gend­wo hier her­um müs­sen sie sich ver­steckt ha­ben.«

»Na, hier her­um g’wiss nicht«, sag­te der Po­li­zei­mann, und wenn er sei­ne Wor­te auch iro­nisch mein­te, so hat­te er doch im All­ge­mei­nen recht, denn der Bal­do­we­rer so­wie Char­ley Ba­tes hat­ten sich längst ab­sen­tiert. »Auf­ge­stan­den jetzt!«

»Tun Sie ihm nichts zu lei­de«, sag­te der alte Herr mit­lei­dig.

»Na na, da­von kann ka Red sein«, ant­wor­te­te der Po­li­zei­mann und riss Oli­ver fast die Ja­cke vom Leib. »Marsch vor­wärts, dich kenn’ ich schon. Wirst gleich auf­ste­hen, Diebs­lüm­mel.«

Müh­sam er­hob sich Oli­ver vom Bo­den und wur­de am Kra­gen im schnells­ten Tem­po durch die Stra­ße ge­schleift. Der alte Herr ging ne­ben dem Po­li­zis­ten her, und ju­belnd be­glei­te­te sie die Gas­sen­ju­gend zum Kom­missa­ri­at.

11 – Der Polizeikommissär Mr. Fang zeigt sich als außerordentlich tüchtiger Justizbeamter.

Als der Zug auf der Wa­che an­lang­te, wur­de Oli­ver vor­läu­fig in eine Art Kel­ler ein­ge­sperrt, der nur so starr­te vor Schmutz. Ein vier­schrö­ti­ger Kerl mit ei­nem Ba­cken­bart und ei­nem Bün­del Schlüs­sel in der Hand trat vor. »Was gib­t’s denn schon wie­der?« frag­te er mür­risch.

»Ein jun­ger Ta­schen­dieb«, ant­wor­te­te der Po­li­zist, der Oli­ver am Kra­gen hielt.

»Sind Sie der Be­stoh­le­ne, Sir?« frag­te der Mann mit den Schlüs­seln.

»Ja«, sag­te der alte Herr. »Aber ich kann nicht ge­nau an­ge­ben, ob es auch wirk­lich der Jun­ge war, der mir das Ta­schen­tuch ge­stoh­len hat. Ich – hm – möch­te am liebs­ten den Fall nicht wei­ter ver­fol­gen.«

»Dös müs­sen S’ dem Herrn Kom­mis­sär sa­gen«, brumm­te der Mann. »Der Herr Kom­mis­sär wird gleich frei sein. Na, kumm amal her, klei­ner Gal­gen­vo­gel.«

Da­mit pack­te der Mann Oli­ver am Kra­gen und sperr­te ihn in den er­wähn­ten Kel­ler. Es war dies eine Art Schacht, der nur so strotz­te von Un­rat und Schmutz.

Der alte Herr sah eben­so be­küm­mert aus wie Oli­ver selbst, als der Schlüs­sel im Schlos­se kreisch­te, und warf mit ei­nem Seuf­zer einen Blick auf das Buch, das die un­schul­di­ge Ver­an­las­sung zu dem gan­zen Un­heil ge­we­sen war.

»Es liegt et­was in dem Ge­sicht des Jun­gen«, mur­mel­te der alte Herr und rieb sich nach­denk­lich mit dem Buch­de­ckel das Kinn, »et­was, was mich tief er­greift und rührt. Er ist viel­leicht ganz un­schul­dig. Aus­se­hen tut er da­nach. – Üb­ri­gens«, rief der alte Herr plötz­lich und sah nach­denk­lich zum Him­mel em­por, »an wen er­in­nern mich doch nur sei­ne Züge?«

 

Eine Berüh­rung an der Schul­ter weck­te ihn aus sei­nen Be­trach­tun­gen. Gleich dar­auf er­such­te ihn der Mann mit den Schlüs­seln ihm in die Wacht­stu­be zu fol­gen. Has­tig klapp­te der alte Herr das Buch zu und stand in der nächs­ten Mi­nu­te vor dem be­rühm­ten Po­li­zei­kom­mis­sär Mr. Fang. »Hier mein Name und mei­ne Adres­se, Sir«, sag­te er, ver­beug­te sich höf­lich und über­reich­te dem Ge­wal­ti­gen sei­ne Kar­te. Är­ger­lich über die Stö­rung blick­te Mr. Fang, der so­eben eine Zei­tung stu­diert hat­te, auf und frag­te: »Wer sind Sie?«

Ei­ni­ger­ma­ßen über­rascht deu­te­te der alte Herr auf sei­ne Kar­te.

Verächt­lich stieß der Kom­mis­sär die Kar­te zu­rück. »Ge­richts­die­ner, le­sen Sie, wer die­ser Mensch ist.«

»Ich hei­ße Brow­n­low«, fiel der alte Herr mit ei­ner Höf­lich­keit, die stark von der Grob­heit des Po­li­zei­be­am­ten ab­stach, ein, »Sie wer­den wohl ge­stat­ten, dass ich mich nach dem Na­men des Ge­richts­be­am­ten er­kun­di­ge, der ei­nem acht­ba­ren Bür­ger ohne jede Ver­an­las­sung in die­sem Lo­kal Be­lei­di­gun­gen ins Ge­sicht wirft.«

»Ge­richts­die­ner«, rief Mr. Fang und leg­te sei­ne Zei­tung weg, »was liegt ge­gen den Men­schen vor?«

»Ge­gen ihn nichts, Euer Gna­den«, er­wi­der­te der Die­ner. »Er ist der An­klä­ger die­ses Jun­gen.«

»So, die­ses Jun­gen, so«, sag­te Mr. Fang und mus­ter­te Mr. Brow­n­low von Kopf bis zu Fü­ßen ver­ächt­lich. »Be­ei­di­gen Sie ihn.«

»Ehe man mich ver­ei­digt, muss ich bit­ten, die Sa­che er­klä­ren zu dür­fen«, pro­tes­tier­te Mr. Brow­n­low. »Ich wür­de nie­mals ge­glaubt ha­ben, wenn es mir nicht selbst wi­der­fah­ren wäre, dass -«

»Hal­ten Sie den Mund«, rief Mr. Fang ge­bie­te­risch.

»Das wer­de ich nicht tun, Sir«, op­po­nier­te der alte Herr.

»Sie schwei­gen au­gen­blick­lich, oder ich las­se Sie hin­aus­wer­fen«, schrie Mr. Fang. »Sie sind ein un­ver­schäm­ter fre­cher Kerl. Wie kön­nen Sie sich er­dreis­ten, in die­ser Wei­se mit mir zu spre­chen!«

»Was!« rief der alte Herr, vor Zorn er­rö­tend.

»Ve­rei­di­gen Sie den Kerl!« be­fahl Mr. Fang. »Ich will wei­ter nichts hö­ren.«

Mr. Brow­n­low war aufs äu­ßers­te ent­rüs­tet, über­leg­te sich aber, dass er Oli­ver nur scha­den müs­se, wenn er wei­ter so ener­gisch auf­tre­te, un­ter­drück­te da­her sei­nen Är­ger und ließ sich ru­hig ver­ei­di­gen.

»Nun«, frag­te Mr. Fang, »was liegt ge­gen den Bur­schen vor? Was ha­ben Sie vor­zu­brin­gen, Sir?«

»Ich stand vor ei­nem Bü­cher­la­den«, be­gann Mr. Brow­n­low.

»Hal­ten Sie den Mund«, rief Mr. Fang. »Wo ist der Wach­mann? So. Hier. Be­ei­di­gen Sie den Wach­mann. Also, Wach­mann, was hat’s ge­ge­ben?«

Der Po­li­zei­mann be­rich­te­te mit ge­büh­ren­der Un­ter­wür­fig­keit, wie er Oli­ver ver­haf­tet, durch­sucht, aber nichts bei ihm ge­fun­den habe, und wie al­les wei­ter ge­kom­men sei.

»Sind Zeu­gen da?« frag­te Mr. Fang.

»Nein, Euer Gna­den.«

Ei­ni­ge Mi­nu­ten saß der Kom­mis­sär schwei­gend da, dann wand­te er sich zu Mr. Brow­n­low und sag­te mit stei­gen­dem Är­ger:

»Wol­len Sie jetzt hier aus­sa­gen, was Sie ge­gen den Jun­gen vor­zu­brin­gen ha­ben, oder wol­len Sie es nicht? Man hat Sie ver­ei­digt. Wenn Sie Ihre Aus­sa­ge ver­wei­gern soll­ten, las­se ich Sie we­gen Ir­re­füh­rung der Be­hör­den be­stra­fen, ver­las­sen Sie sich dar­auf – ich schwör’s bei -«

Bei was oder bei wem er es be­schwö­ren woll­te, kam nicht her­aus, denn im rich­ti­gen Mo­ment hus­te­ten der Schrei­ber und Schlie­ßer so laut sie konn­ten, und au­ßer­dem ließ ers­te­rer ein schwe­res Buch zu Bo­den fal­len und ver­hin­der­te, dass man den Fluch ver­ste­hen konn­te.

Des öf­te­ren un­ter­bro­chen und wie­der­holt be­schimpft, konn­te Mr. Brow­n­low end­lich die nö­ti­gen An­ga­ben ma­chen und schloss mit dem Be­mer­ken, er sei im ers­ten Au­gen­blick dem Jun­gen nach­ge­lau­fen, nur weil er ihn habe flie­hen se­hen. Dann gab er der Hoff­nung Aus­druck, man möge mit Oli­ver so ge­lin­de ver­fah­ren, wie es das Ge­setz nur ir­gend zulie­ße, falls es sich her­aus­stell­te, dass Oli­ver nicht selbst der Dieb sei, son­dern nur mit Die­ben in Ver­bin­dung stün­de.

»Er hat sich be­reits ernst­lich be­schä­digt«, schloss der alte Herr, »und ich fürch­te, glau­ben zu dür­fen, dass ihm nicht sehr wohl zu­mu­te ist.«

»Das kön­nen Sie frei­lich glau­ben«, rief Mr. Fang grin­send. »Hal­lo, lass jetzt den Fir­le­fanz, Bur­sche, es nützt dir hier nichts. Wie heißt du?«

Oli­ver woll­te ant­wor­ten, aber die Keh­le war ihm wie zu­ge­schnürt. Er war lei­chen­blass, und al­les dreh­te sich um ihn.

»Wie heißt du, Schuft, er­bärm­li­cher?« frag­te Mr. Fang. »Po­li­zei­die­ner, wie heißt der Bur­sche?«

Der An­ge­re­de­te, ein di­cker al­ter Mann mit ei­ner ge­streif­ten Wes­te, beug­te sich über Oli­ver und wie­der­hol­te die Fra­ge. Da er aber merk­te, dass der arme Jun­ge vor Ent­set­zen die Fra­ge kaum ver­stand, und er fürch­te­te, der Kom­mis­sär wür­de nur umso wü­ten­der wer­den, wenn er nicht bald eine Ant­wort be­käme, er­ging er sich in al­ler­lei Mut­ma­ßun­gen.

»Er sagt, er hei­ße Tom Whi­te, Euer Gna­den«, sag­te er end­lich.

»Er kann wohl nicht deut­lich ge­nug spre­chen, dass man’s hö­ren kann, was?« rief Mr. Fang. »Also gut, wo wohnt er?«

»Wo er ge­ra­de kann, Euer Gna­den«, ant­wor­te­te der Die­ner, trotz­dem Oli­ver kein Wort ge­spro­chen hat­te.

»Hat er El­tern?«

»Er sagt, sie wä­ren ge­stor­ben, wie er noch klein war, Euer Gna­den«, ant­wor­te­te der Mann mit der ge­streif­ten Wes­te, in­dem er sich auch die­se Wor­te wie­der er­fand.

Als das Ver­hör einen Mo­ment stock­te, hob Oli­ver mit fle­hen­dem Blick den Kopf und bat matt um einen Schluck Was­ser.

»Un­sinn«, rief Mr. Fang. »Dass du dich nicht etwa un­ter­stehst, mir da Lü­gen vor­zu­re­den.«

»Ich glau­be wirk­lich, er ist krank, Euer Gna­den«, wen­de­te der Ge­richts­die­ner ein.

»Das weiß ich bes­ser, schwei­gen Sie«, sag­te Mr. Fang.

»Ge­ben Sie acht auf ihn, Ge­richts­die­ner«, warn­te der alte Herr, »er wird gleich um­fal­len.«

»Weg da, Ge­richts­die­ner«, schrie der Kom­mis­sär. »Soll der Bur­sche nur um­fal­len, wenn’s ihm Spaß macht.«

Oli­ver je­doch mach­te von die­ser freund­li­chen Er­laub­nis wirk­lich Ge­brauch und fiel so­fort ohn­mäch­tig zu Bo­den. Die in der Amts­stu­be be­find­li­chen Un­ter­be­am­ten sa­hen ein­an­der an, aber kei­ner wag­te die Hand zu rüh­ren.

»Ich habs gleich ge­se­hen, dass er sich ver­stellt«, tri­um­phier­te der Kom­mis­sär, als ob er jetzt einen un­be­streit­ba­ren Be­weis in der Hand hät­te. »Lasst ihn nur lie­gen, er wirds schon satt krie­gen.«

»Wie ge­den­ken Sie in die­sem Fall zu ver­fah­ren?« frag­te der Schrei­ber mit lei­ser Stim­me.

»Sum­ma­risch, ganz sum­ma­risch«, ent­geg­ne­te der Kom­mis­sär. »Drei Mo­na­te Zwangs­ar­beit. Hin­aus mit ihm.«

Die Türe wur­de ge­öff­net, und man schick­te sich be­reits an, den be­wusst­lo­sen Oli­ver in sei­ne Zel­le zu tra­gen, als ein ält­li­cher Herr von an­stän­di­gem, wenn auch ärm­li­chem Äu­ßern in ei­nem ab­ge­nütz­ten schwar­zen An­zug has­tig in die Po­li­zei­stu­be stürz­te und zum Pult des Kom­mis­särs eil­te.

»War­ten Sie, bit­te, war­ten Sie, füh­ren Sie ihn nicht ab, um Got­tes wil­len, war­ten Sie einen Au­gen­blick«, rief der neu­an­ge­kom­me­ne Herr vor Eile noch ganz atem­los.

Der Kom­mis­sär war nicht we­nig em­pört, schon wie­der einen un­ge­be­te­nen Gast und noch dazu in so un­ehr­er­bie­ti­ger Wei­se ein­tre­ten zu se­hen.

»Was soll das hei­ßen?« rief er. »Werft den Kerl hin­aus. Ich will hier mei­ne Ruhe ha­ben.«

»Ich will aber spre­chen«, rief der Mann, »und las­se mich nicht ab­wei­sen. Ich habe al­les mit­an­ge­se­hen. Ich bin der Be­sit­zer des Buch­la­dens. Ich bit­te mich zu ver­ei­di­gen. Ich muss hier spre­chen. Mr. Fang, Sie müs­sen mich an­hö­ren. Sie dür­fen mir die Aus­sa­ge nicht ver­wei­gern, Mr. Fang.«

Der Buch­händ­ler war voll­stän­dig im Recht, und sein Be­geh­ren konn­te nicht ab­ge­schla­gen wer­den. Die Sa­che fing an, zu ernst­haft zu schei­nen, um ein­fach übers Knie ge­bro­chen zu wer­den.

»Also ver­ei­di­gen Sie den Men­schen«, brumm­te der Kom­mis­sär un­gnä­dig. »Nun, was ha­ben Sie vor­zu­brin­gen?«

»Fol­gen­des«, be­gann der Buch­händ­ler. »Also ich sah drei Jun­gen, zwei an­de­re und die­sen hier, und sie schlen­der­ten mei­nem La­den ge­gen­über auf der an­de­ren Sei­te der Stra­ße ent­lang, wäh­rend die­ser Gent­le­man hier ein Buch durch­blät­ter­te. Die bei­den an­de­ren Bur­schen ha­ben den Dieb­stahl be­gan­gen. Ich habe ge­se­hen, wie sie ihn aus­führ­ten, und habe auch be­merkt, dass die­ser Jun­ge hier dar­über ganz ent­setzt war.«

»Wa­rum sind Sie nicht frü­her her­ge­kom­men?« frag­te der Kom­mis­sär nach ei­ner Pau­se.

»Ich hat­te nie­mand, der in­zwi­schen auf mei­nen La­den auf­ge­passt hät­te«, ent­schul­dig­te sich der Buch­händ­ler. »Alle Leu­te sind doch wie be­ses­sen die­sem Jun­gen hier nach­ge­lau­fen, um ihn ein­zu­fan­gen. Erst vor fünf Mi­nu­ten konnt ich je­mand auf­trei­ben, und den gan­zen Weg bis hier­her bin ich in ei­nem­fort ge­lau­fen.«

»Die­ser Herr hier las in ei­nem Buch, nicht wahr?« frag­te Mr. Fang nach ei­ner zwei­ten Pau­se.

»Ja«, er­wi­der­te der Buch­händ­ler, »in dem­sel­ben, das er jetzt hier in der Hand hat.«

»Was? In dem Buch?« frag­te der Kom­mis­sär. »Ist das Buch schon be­zahlt?«

»Nein, noch nicht«, ant­wor­te­te der Buch­händ­ler lä­chelnd.

»O Gott, das hab ich ja ganz und gar ver­ges­sen«, rief der alte Herr harm­los.

»Ein net­ter Mensch, der einen ar­men Jun­gen des Dieb­stahls an­klagt«, sag­te Mr. Fang und be­müh­te sich, höh­nisch ein men­schen­freund­li­ches Ge­sicht auf­zu­set­zen. »Ich nei­ge der An­sicht zu, Sir, Sie ha­ben un­ter höchst ver­däch­ti­gen Um­stän­den sich die­ses Buch an­ge­eig­net. Sei­en Sie froh, dass der Ei­gen­tü­mer des­sel­ben nicht ge­gen Sie An­kla­ge er­hebt. Schrei­ben Sie sich das hin­ter die Ohren, mein Lie­ber, sonst kanns Ih­nen das nächs­te Mal schlimm ge­hen. Der Jun­ge ist frei­ge­spro­chen. Ge­richts­die­ner, räu­men Sie die Kanz­lei.«

»Ja zum Teu­fel noch mal«, rief der alte Herr, des­sen lang un­ter­drück­ter Zorn jetzt her­vor­brach. »Don­ner und Do­ria, ich will Ih­nen -«

»Räu­men Sie die Kanz­lei«, rief der Kom­mis­sär. »Ge­richts­die­ner, die Kanz­lei ge­räumt.«

Ehe noch Mr. Brow­n­low et­was sa­gen konn­te, wur­de er, das Buch in der einen, das Bam­bus­stöck­chen in der an­de­ren Hand und ganz au­ßer sich vor Em­pö­rung, hin­aus­ge­scho­ben. Drau­ßen im Hof je­doch ver­flog sein Zorn im Nu: der klei­ne Oli­ver Twist lag mit dem Rücken auf dem Pflas­ter, man hat­te ihm das Hemd auf­ge­knöpft und bei­de Schlä­fen mit Was­ser be­gos­sen. Sein Ge­sicht war to­ten­blass, und ein kal­ter Schau­der schüt­tel­te sei­nen gan­zen Kör­per.

»Ar­mer Jun­ge, ar­mer Jun­ge«, rief Mr. Brow­n­low und neig­te sich über ihn. »Bit­te, ho­len Sie doch eine Drosch­ke, bit­te, bit­te gleich.«

Im Au­gen­blick fuhr ein Wa­gen vor, und nach­dem man Oli­ver sorg­sam auf den Rück­sitz ge­legt, stieg der alte Herr ein und setz­te sich ihm ge­gen­über.

»Darf ich Sie be­glei­ten?« frag­te der Buch­händ­ler mit ei­nem Blick in den Wa­gen.

»Selbst­ver­ständ­lich, lie­ber Herr«, sag­te Mr. Brow­n­low. »Ich habe ganz auf Sie ver­ges­sen. O Gott, o Gott, im­mer noch habe ich das un­glück­se­li­ge Buch in der Hand. So stei­gen Sie doch ein! Der arme Jun­ge, der arme Jun­ge, wir dür­fen kei­ne Zeit ver­lie­ren.«

Der Buch­händ­ler stieg in den Wa­gen, und die Drosch­ke fuhr da­von.