Die Wunderheilungen des Doktor Aira

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Die Wunderheilungen des Doktor Aira
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Bibliothek César Aira Band 10

Aus dem Spanischen

von Christian Hansen

César Aira

Die Wunderheilungen des Doktor Aira


Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

I

Eines Tages fand sich Doktor Aira bei Morgengrauen flanierend auf einer von Bäumen gesäumten Straße eines Viertels von Buenos Aires wieder. Er litt unter einer Art Somnambulismus, und es geschah nicht selten, dass er in fremden Nebenstraßen wieder zu Bewusstsein kam, die er in Wirklichkeit gut kannte, da sie allesamt gleich aussahen. Sein Leben war das eines halb zerstreuten, halb aufmerksamen (halb ab- und halb anwesenden) Spaziergängers, der sich in diesem Wechselspiel seine Kontinuität erschuf, will sagen, seinen Stil oder, mit anderen Worten und um den Kreis zu schließen, sein Leben; und das würde so bleiben, bis sein Leben endete und er stürbe. Da er schon hart auf die fünfzig zuging, konnte dieser nahe oder ferne Schluss in jedem Moment erfolgen.

Eine schöne Libanonzeder auf dem Gehweg vor einer prätentiösen kleinen Villa reckte ihre stolze runde Krone in die rosagraue Luft. Um sie zu betrachten, blieb er stehen, von Bewunderung und Zärtlichkeit durchdrungen. Er hielt ihr in pectore eine kleine Ansprache, in der sich Lobrede mit Verehrung (der Bitte um Beistand) mischte und die kurioserweise auch einige beschreibende Aspekte enthielt; ihm war nämlich bewusst geworden, dass die Verehrung mit der Zeit gern ein wenig abstrakt und automatisch ausfiel. In diesem Fall hatte er bemerkt, dass die Krone des Baums bloß und buschig zugleich war; man sah durch sie hindurch den Himmel, dabei hatte sie doch Nadeln. Als er sich auf die Zehenspitzen stellte, um einen besseren Blick auf die unteren Äste zu erhaschen (er war sehr kurzsichtig), sah er, dass die Nadeln, die an olivgrüne Flaumfedern erinnerten, halb in sich zurückgekrümmt waren; vielleicht würden sie bald abfallen; es war schon Ende Oktober, und die Bäume pfiffen auf dem letzten Loch.

»Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass die Menschheit diesen Weg noch lange weiterverfolgen kann. Unsere Spezies hat auf diesem Planeten zu einer solchen Dominanz gefunden, dass sie schon keine ernste Bedrohung mehr fürchten muss, so als bliebe uns nichts anderes zu tun übrig, als weiterzuleben und uns nach Kräften zu amüsieren, ohne dass existenziell noch etwas auf dem Spiel stünde. Und in dieser Richtung schreiten wir weiter voran, sichern das schon Gesicherte. Bei jedem Fortschritt oder Rückschritt aber, er mag noch so verhalten ausfallen, überschreiten wir unwiderruflich Schwellen, und wer weiß, welche wir schon überschritten haben oder gerade jetzt überschreiten. Überschreitungen, die die Natur zu einer Reaktion veranlassen könnten, wobei wir unter Natur das allgemeine Regelwerk des Lebens verstehen. Vielleicht ist ihr diese Frivolität, zu der wir gelangt sind, ein Dorn im Auge, vielleicht kann sie es nicht zulassen, dass eine Spezies, auch die unsere nicht, sich über ihre arteigenen Grundbedürfnisse erhebt … Das ist meinerseits natürlich eine unzulässige Personifizierung, ich hypostasiere und externalisiere Kräfte, die in uns selbst liegen, aber ich zumindest weiß, was ich meine.«

Was für Sachen, um sie einem Baum zu sagen!

»Nicht, dass ich irgendetwas prophezeien würde, schon gar keine Katastrophen oder Plagen, nicht mal deren subtile Formen, keineswegs! Wenn meine Überlegung stimmt, spielen sich die Korrekturen innerhalb des Wohlbefindens ab, als ein Teil von ihm … Wie, weiß ich nicht.«

Er war weitergegangen und hatte das Bäumchen schon ein ganzes Stück hinter sich gelassen. In gewissen Abständen blieb er erneut stehen und richtete einen hoch konzentrierten Blick auf irgendeinen Punkt der umliegenden Nachbarschaft. Es waren abrupte Stopps von rund einer halben Minute, die keiner Regelmäßigkeit zu folgen schienen. Nur er wusste, welchem Impuls sie gehorchten, und es war unwahrscheinlich, dass er es jemals irgendwem verraten würde. Es waren Zwangspausen der Beschämung; sie koinzidierten mit der im gewundenen Verlauf seines müßigen Flanierens aufsteigenden Erinnerung an irgendeine Blamage. Nicht dass er an diesen Erinnerungen Gefallen fand, im Gegenteil; er konnte nicht verhindern, dass sie plötzlich durch die Dünung seiner Gedanken an die Oberfläche traten. Ihr Auftauchen besaß eine solche Wucht, dass es ihn lähmte und zum Stehenbleiben zwang, weshalb es immer eine Weile dauerte, bis er die Kraft fand, seinen Weg fortzusetzen. Von vergangener Scham erlöste ihn die Zeit … hatte ihn schon von ihr erlöst, ihn in die Gegenwart versetzt. Die Blamagen waren Stillstände der Zeit, in ihnen stockte alles. Es waren nur Erinnerungen; verwahrt im einbruchsichersten aller Tresore, einem, den kein Fremder zu öffnen vermag.

Es handelte sich um Erinnerungen an lächerliche, kleine Missgeschicke vollkommen privater Natur, Unvorsichtigkeiten, Fehltritte, die nur ihn selbst betrafen; sie hatten sich ihm eingeprägt, Bröckchen des Bedauerns im Strom der Ereignisse. Aus irgendeinem Grund waren sie unauflöslich. Sie widersetzten sich jeder Übersetzung, etwa der Überführung in die Gegenwart. Wenn sie gegenwärtig wurden, lähmten sie sein somnambules Treiben, also genau das, was sie aus ihrem labyrinthischen Vergangenheitsversteck aufscheuchte. Je länger seine Wege, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass er sich wider Willen eine einfing. Das machte seine endlosen Spaziergänge zu Durchquerungen des verzweigten Irrgartens seiner verflossenen Jugend. Vielleicht gab es am Ende doch eine Regelmäßigkeit, die eine irgendwie geartete Figur im Raum-Zeit-Gefüge beschrieb, wobei sein Innehalten leere Entfernungen erzeugte … Aber er würde das seltsame Theorem nicht lösen können, wenn er nicht zuvörderst eine Erklärung dafür fand, warum er jedes Mal ins Stocken geriet, sobald eine solche Erinnerung auftauchte; dass er dastand und einen Punkt fixierte, konnte man als Versuch deuten, sich nichts anmerken zu lassen und so zu tun, als würde ihn der Punkt so interessieren, dass er einfach stehen bleiben musste. Aber das Innehalten an sich, die Beziehung zwischen Blamage und Stillstand, blieb dunkel, da er nicht auf psychologische Interpretationen zurückgreifen wollte. Vielleicht lag der Schlüssel dazu ja in der Natur jener peinlichen Momente, in ihrem Wesen oder gemeinsamen Nenner. Wenn das stimmte, dann war hier der Wiederholungszwang in seiner reinsten Form am Werk.

Ging man der Frage weiter nach, kam man natürlich nicht daran vorbei, dass die Blamagen tatsächlich passiert waren. Allen passiert so etwas. Sie sind ein unvermeidlicher Betriebs unfall unserer Vergesellschaftung, und die einzige Lösung ist das Vergessen. Wirklich die einzige, denn die Zeit läuft nicht rückwärts, und ausbügeln oder ungeschehen machen lassen sie sich nicht. Da er in seinem Fall nicht mit dem Vergessen rechnen konnte (er besaß ein Gedächtnis wie ein Elefant), hatte er seine Zuflucht zur Einzelgängerei genommen, zu einer fast vollständigen Entfremdung von seinesgleichen, was zumindest dafür sorgte, die Auswirkungen seiner unverbesserlichen Tollpatschigkeit und Zerstreutheit gering zu halten. Und die Schlafwandelei musste, auf einer anderen Ebene seines Bewusstseins und seiner Absichten, in die gleiche Richtung zielen; als eine Erlösung a posteriori – wenn es stimmte, dass der Schlafwandler mit der Eleganz vollkommener Effizienz handelte.

Um ehrlich zu sein, musste er zugeben, dass es sich nicht nur um Blamagen handelte; der gemeinsame Nenner erweiterte sich entlang einer eher gewundenen Linie, der nicht leicht zu folgen war. Oder man musste eben die Definition der Blamage weiter fassen: Denn hier ging es auch um kleine Gemeinheiten, Schäbigkeiten, Fehleinschätzungen, Feigheiten, kurz, um alles, was der innerpersönlichen und rückwirkenden Beschämung Nahrung gab. Nicht, dass er sich Vorwürfe gemacht hätte (obwohl es während jener Zwangspausen in ihm schrie: Du Hornochse! Du Hornochse!), denn er war sich ihrer Unvermeidlichkeit im Moment des Vorfalls bewusst. Immerhin blieb ihm der Trost, dass es sich um Belanglosigkeiten handelte, niemals um Verbrechen, und dass das Einzige, was dabei Schaden nahm, sein Selbstwertgefühl war.

Jedenfalls hatte er sich geschworen, dass ihm so etwas nicht noch einmal passieren sollte. Dafür musste er nichts tun, als nur gut aufzupassen, nichts zu überstürzen und sich stets den Regeln von Anstand und Manierlichkeit gemäß zu verhalten. Bei seiner Tätigkeit als Wunderheiler konnte eine Blamage fatale Folgen haben.

In einem Roman werden Blamagen genau kalkuliert und mit viel Umsicht und Scharfsinn eingefädelt, was umso paradoxer anmutet, da es doch viel unkomplizierter und spontaner wäre, eine Szene zu schreiben, in der sich alle korrekt verhalten. Für Doktor Aira war jeder moralische, intellektuelle oder gesellschaftliche Fehltritt gleichbedeutend mit einem Akt der Gewalt, der in der aufs Äußerste gespannten Haut seines Idealverhaltens klaffende Wunden hinterließ. Er gehörte zu jenen Menschen, denen Gewalt unbegreiflich ist. Obwohl er wusste, wie absurd die Vorstellung war, konnte er nicht anders, als sich einzubilden, er würde, wenn er etwa in eine Räuberhöhle geriete, unter die ruchlosesten Verbrecher, Gewalt vermeiden können, wenn er sich nur vernünftig benahm, mit ihnen redete, ihren Argumenten aufmerksam zuhörte und ihnen seine eigenen darlegte. Selbst wenn die Situation für sie zu sprechen schien, die Räuber ihn beispielsweise dabei überraschten, wie er ihnen nachspionierte … Aber wie sollten sie ihn überraschen, wenn er seine Nase nicht in fremde Angelegenheiten steckte? Er hatte doch geschworen, sich nie wieder in peinliche Situationen zu bringen. Sicher, er konnte irrtümlich in jene hypothetische Höhle geraten sein, weil er sie für leer und unbewohnt hielt; hier kam die Achtsamkeit ins Spiel, dass er stets die Augen offen halten musste, nicht mal blinzeln durfte. Was leichter gesagt ist als getan, obwohl man das durch Übung schaffen konnte, durch Askese, und eben das hatte er sich zum Lebensprogramm erkoren. Dennoch mochte sich der wundersame Fall ergeben, dass er die Augen aufschlug und sich plötzlich in einer Höhle voll geraubter Waren fand, und dass, noch bevor er Zeit zu reagieren hatte, eine Bande abgerissener Gestalten hereinkam … Natürlich bewegte er sich hier auf dem Gebiet reiner Imagination, abseitiger Wahrscheinlichkeiten. Und was hinderte ihn unter dieser Voraussetzung, mit den Räubern eine zivilisierte Unterhaltung zu führen, bis er ihnen erklärt hatte, was passiert war, die Raum-Zeit-Reise, der Somnambulismus …? Aber in diesem Fall wären auch die Räuber Teil der Fiktion, der Theorie, und sein persuasiver Erfolg besäße keine Beweiskraft. Die echte Wirklichkeit war aus Blut und Faustschlägen, Schreien und Türenschlagen gemacht. Auf lange Sicht bekäme der Firnis der Höflichkeit Kratzer, wenn nicht in dieser kausalen Ereignisfolge, dann in einer anderen, einer, die an einer Gabelung der Zeit ihren Ausgang nahm, das war unvermeidlich.

 

Ein großer Hund, der vor dem Eingang einer Werkstatt lag, richtete sich auf, als er ihn näher kommen sah, und bleckte die Zähne. Augenblicklich brach ihm kalter Schweiß aus. Was für eine unglaubliche Rücksichtslosigkeit seitens der Halter solcher Tiere, sie auf dem Bürgersteig frei herumlaufen zu lassen und auf jede Beschwerde mit dem sattsam bekannten »Er ist lammfromm, er tut nichts« zu antworten. Sie sagen das in aller Offenheit, mit dem Brustton der Überzeugung, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, dass die restliche Menschheit keinen Grund hat, diese Überzeugung zu teilen, schon gar nicht angesichts einer schwarzen Wolldecke von der Größe eines Motorrads, die über sie kommt …

Seine erste Berührung mit der Welt der paranormalen Medizin hatte mit Hunden zu tun gehabt. Während seiner Kindheit in Coronel Pringles waren diese Tiere seinerzeit auf Anordnung des Polizeipräfekten Uthurralt ausnahmslos und ohne Pardon aus dem Stadtgebiet verbannt worden. Nur die Angst bewirkte (es war die Zeit der schrecklichen Polio-Epidemie), dass dem Befehl trotz der üblicherweise zwischen Herr und Haustier bestehenden Anhänglichkeit Folge geleistet wurde. Zudem besaß die Verbannung nur provisorischen Charakter, obwohl sie sich am Ende auf drei Jahre erstreckte, auch musste niemand sich wirklich seines Lieblings entledigen, da es genügte, sie von der Stadt aufs Land zu verschicken; und in einem Ort, der von der Landwirtschaft lebte, gab es niemanden, der nicht einen Verwandten oder Freund mit einem Hof in der näheren Umgebung besessen hätte, und dort kamen die Hunde unter. Das Problem war nur, dass Pringles’ einziger Tierarzt auf diese Weise von seinen Patienten abgeschnitten blieb, und auch wenn er weite Wege in Kauf nahm, um sie zu behandeln (und er hatte keine andere Wahl, wenn er seinen Beruf ausüben wollte), gestaltete sich die Angelegenheit mühselig und teuer. Das machte die Kastration der männlichen Welpen zum Problem, wenn sie geschlechtsreif wurden, Operationen, die unter den gegebenen Umständen von besonderer Dringlichkeit waren. Angesichts der wahrhaft schaurigen Alternative, sie Landarbeitern anzuvertrauen, die nur auf Brachialchirurgie vorbereitet waren, mit glühendem Eisen und ohne die mindeste aseptische Vorsicht, stürzten sich die einen in Unkosten, andere verschlossen die Augen und die meisten zauderten … Diese Gelegenheit nutzte ein ortsansässiger Fotograf, den man El Loco nannte, um ein Geschäft mit Kastrationen auf Distanz aufzuziehen, die, zumal schmerzfrei, seinerzeit in Pringles die große Sensation waren. Doktor Aira, damals ein Kind von acht Jahren, erfuhr davon durch Hörensagen, was die Sache im Hallraum seines kindlichen Umfelds monströs verzerrte. Zu jener Zeit sprach man wenig über solche Dinge, noch weniger in einer respektierlichen Mittelschichtsfamilie wie der seinen; seine Freunde, die alle aus ärmlichen Verhältnissen stammten, deshalb, weil er in einem bäuerlichen Viertel wohnte, litten nicht unter diesem Nachteil, glichen ihn aber durch die erstaunliche Ignoranz und Leichtgläubigkeit ihrer Familien aus.

Die Methode von El Loco war von beispielhafter Absurdität, bestand sie doch in einer recht langen Abfolge von Penizillin-Impfungen, die dem Hundehalter verabreicht wurden, woraufhin sich das Tier in Abwesenheit kastriert fand. So viel zumindest konnte man sich aus den damals kursierenden Geschichten zusammenreimen. Mehr hatte er nie herausfinden können, und vielleicht gab es auch nicht mehr herauszufinden. Er erfuhr auch nie mit letzter Gewissheit, ob sich überhaupt jemand der seltsamen Behandlung unterzogen hatte. Aber diese Auskünfte genügten ihm, um die Möglichkeit einer Einwirkung auf Distanz, einer diskontinuierlichen Wirksamkeit, auf eigene Faust nachzuerfinden, die zwischen ungleichartigen Elementen ein neues Kontinuum erzeugte, und seine gesamte geistige Landschaft bildete sich fortan auf der Grundlage dieser Prämisse. El Locos Methode kam bald darauf im Zuge eines Skandals, der hohe Wellen schlug, außer Gebrauch (wenn denn jemals von ihr Gebrauch gemacht worden war). Auf einem Hof nahe der Stadt wurde nämlich ein Hund ohne Kopf geboren, ein Cockerspaniel, dessen Körper am Hals aufhörte und der trotzdem lebte und zu einem erwachsenen Tier heranwachsen konnte.

Es war unvermeidlich, dass die Einbildungskraft der Leute das eine mit dem anderen in Verbindung brachte, und El Loco, vielleicht selbst erschrocken über die Auswirkungen seiner Machenschaften, ließ das Verfahren vorerst in der Versenkung verschwinden. Was aus dem Hund geworden war, wusste Doktor Aira nicht; er dürfte wie jeder andere Hund zu seiner Zeit gestorben sein. Es gab viele Leute in der Stadt, die ihn sich anschauen gingen (ihn hatte man nicht mitgenommen). Anscheinend war das Tier sehr lebhaft; außer kopflos auch hypermotorisch. Sein Nervensystem kulminierte in einer Knolle am Hals, und dieser Auswuchs war wie ein Rosettastein von Einkerbungen bedeckt, welche Augen, Nase, Mund und Ohren darstellten, und mit diesen Schriftzeichen behalf er sich. Unter anderen Umständen hätte die Tatsache, dass ein solches Monstrum lebensfähig war, die Neugier von Wissenschaftlern aus aller Welt geweckt; man hätte es als eine Art Wunder ansehen müssen. Aber an derartige Wunder waren die Leute auf dem Land gewöhnt – oder besser gesagt, sie waren früher daran gewöhnt, als sie noch abgeschottet lebten, ohne Radio, Fernsehen oder Zeitungen; damals war die ganze Welt die kleine Welt gewesen, in der sie lebten, und ihre Gesetze ließen Ausnahmen und Ausdehnungen zu, wie die Totalität sie immer zulässt.

Wenn es mit einem Hund hatte passieren können, warum dann nicht auch mit einem Menschen? Die Möglichkeit, die unendliche und unendlich fantastische Möglichkeit, markierte die immer ganz unmittelbaren Grenzen der Vernunft. All die höflichen Vernunftgründe, von denen er sich vornahm, sie den Räubern in der Höhle gegenüber anzuführen, entpuppten sich lediglich als eine mögliche Anrainer-Form der verschiedenen verrückten Gewaltsamkeiten des Lebens. Die Vernunft ist eine bestimmte Art des Handelns, sonst nichts, ohne besondere Vorrechte. Dass er sie ausgedehnt hatte, bis sie alles abdeckte, als Allheilmittel gegen die Übel des Handelns, entsprach lediglich einer persönlichen, sehr symptomatischen Wesensart: Sie kennzeichnete ihn vollkommen, kennzeichnete aber nur ihn selbst und die Täuschung, in der er lebte. Denn diese außerordentlich vernünftigen Menschen, die er so bewunderte und sich zum Vorbild nahm (Mariano Grondona etwa), waren vernünftig nur pour la galerie, verdienten sie damit doch ihr Geld, hatten daneben aber noch ein wirkliches Leben, in dem sie nicht vernünftig waren, zumindest nicht ständig und nicht rigoros, den Umständen entsprechend eben, wie es unvermeidlich war. Um zweckmäßig zu handeln, musste man die Sphäre des rein Vernünftigen verlassen, das immer ein abstraktes Schema ohne echten praktischen Nutzen sein würde.

Ausweg bot der Realismus. Natürlich war der Realismus eine Repräsentation, aber eben deshalb konnte er, wenn sich ein vollständiger Diskurs bildete, etwas Spontanes werden, eine Seinsweise. Der Realismus war eine Kurskorrektur des Vernünftigen; die Theorie wies einen Weg in gerader Linie, der realistische Mensch aber, der zu leben verstand, folgte einem indirekten Weg mit Kehrtwenden und Kurven … Wesen und Motor jeder dieser Abweichungen von der geraden Linie war das Böse; unerheblich, ob es sich um ein moderates und folgenloses Böses handelte, seinem innersten Kern nach war und blieb es das Böse und musste es sein, damit die Abweichung Wirkung zeigte, der Realismus zum Zuge kam und mittels des Realismus schließlich die Wirklichkeit in den Blick kommen konnte, die von den bleichen Fantasien der Vernunft ach so verschiedene wirkliche Wirklichkeit … Vielleicht bestand darin, in dieser so überaus segensreichen Zweckmäßigkeit, die Funktion des Bösen.

Über die Luft des stillen Vorstadtmorgens war die Sirene eines Krankenwagens aufgestiegen, der es furchtbar eilig zu haben schien, scheinbar aber auch kreuz und quer durch die menschenleeren Sträßchen irrte, als könne er sein Ziel nicht finden. Man kennt das akustische Phänomen, wonach eine Sirene ganz unterschiedlich klingt, je nachdem, ob sie sich nähert oder entfernt, auch wenn die Entfernung die gleiche ist. Dieser Unterschied erlaubte es Doktor Aira, die verschlungene Route des Krankenwagens nachzuvollziehen. Unbewusst hatte er das schon die ganzen letzten Minuten getan, während er seinen Gedanken und Erinnerungen nachhing, und jetzt, wo der Hund auf ihn zustürzte, begriff er mit Schrecken, dass der immer wieder an- und abschwellende Klang die Figur eines Kreises beschrieb, der sich um ihn schloss … Schon wieder dieser verdammte Krankenwagen, der ihn im Schlafen und Wachen, in der Fantasie und in der Wirklichkeit verfolgte, immer mit Vollgas und gellender Sirene auf der unscharfen Grenze zwischen beiden Reichen! Glücklicherweise holte er ihn nie ein. Wie in einem Alptraum, der sich nie vollendete und gerade daraus seine Alptraumhaftigkeit bezog, konnte er im letzten Moment, wenn er ihn schon fast erwischt hatte, durch die Mitte des Labyrinths entkommen, ohne je zu wissen, wie … In diesen Augenblicken höchster Gefahr, wo die Panik bereits die Nähte der Wirklichkeit sprengte, geschah es, dass er das Gefühl der Bedrohung auf ein anderes Element übertrug, so wie jetzt bei dem Hund, um ein Kontinuum zu erzeugen und über diese Brücke auf die Kehrseite der nämlichen Angst zu gelangen …

Das plötzliche Eskalieren der Sirene in Ultraschall, gepaart mit einer quietschenden Vollbremsung wenige Zentimeter neben ihm, riss ihn aus seiner Träumerei. Die Szene landete unsanft in einer Gegenwart, in der für das Denken kein Platz war. Er brauchte daher einige Sekunden, um zu begreifen, dass der Krankenwagen ihn gefunden hatte und dass er nicht wusste, was er tun sollte. Das Undenkbare war am Ende doch eingetreten. Der Hund, mitten im Sprung von Obertönen getroffen, die außer ihm niemand hören konnte, vollführte eine Bruchlandung mit Purzelbaum und begann, um sich selbst zu kreiseln.

Er wandte den Kopf und sammelte seine zerstreuten Reflexe zur Verstellung, um seinem Gesicht den Ausdruck beiläufiger, fast gleichgültiger Neugier zu verleihen. Zwei junge Ärzte sprangen eben aus dem Krankenwagen und näherten sich ihm mit entschlossenen Mienen (immerhin waren sie noch einen Schritt entfernt), während der Fahrer, ein hünenhafter Schwarzer in Pfleger-Uniform, auf der anderen Seite ausstieg und um den Wagen herumging. Er erstarrte, bleich und der Mund wie ausgetrocknet.

»Herr Doktor Aira?«, sagte der eine der beiden Ärzte in einem weniger fragenden als konstatierenden Ton.

Er nickte knapp. Sich zu verleugnen lohnte nicht. Dass der Krankenwagen ihn nach so langer Zeit, nach so vielen Umwegen, doch noch erwischt hatte, konnte er immer noch nicht glauben. Aber da war er, Gestalt geworden und weiß, auf fast unerträgliche Weise wirklich. Und entriss ihn (das bewiesen die Worte des Arztes) jener großstädtischen Anonymität, mit der man Krankenwagen vorbeifahren sieht …

 

»Wir suchen Sie schon eine ganze Weile. Sie ahnen nicht, was für Arbeit Sie uns gemacht haben«, sagte er.

»Bei Ihnen zu Hause hieß es, Sie seien spazieren, und da sind wir los, Sie zu suchen …«, sagte der andere.

Der Fahrer, der sich zu der Gruppe gesellt hatte, warf scherzend ein:

»Auf die durchgeknallte Idee, dass Sie einfach geradeaus die Straße langlaufen, sind wir nicht gekommen!«

Die anderen stießen ein gezwungenes Lachen aus, sie wollten zur Sache kommen; alle drei hatten gleichzeitig geredet und fanden, der Einleitungsworte seien schon genug gewechselt.

»Ich bin Doktor Ferreyra, sehr erfreut«, sagte einer der Ärzte und reichte Doktor Aira die Hand, die dieser mechanisch schüttelte. »Wir haben einen verzweifelten Fall, und man hat darum gebeten, Sie hinzuziehen.«

»Kommen Sie, wir reden in unserer ›guten Stube‹ weiter, um keine Zeit zu verlieren.«

Und mit beunruhigender Selbstverständlichkeit befanden sie sich einen Augenblick später im Innern des Krankenwagens und der Schwarze wieder hinter dem Lenkrad, schon rasten sie davon wie der geölte Blitz, mit heulender Sirene, Bäume und Häuser flogen wie Screenshots vorbei, umrahmt vom wütenden Gebell des Hundes … Doktor Airas Aufmerksamkeit streckte vor diesem Überangebot die Waffen. Die beiden jungen Ärzte redeten die ganze Zeit, abwechselnd oder durcheinander, mit leuchtenden Augen, die kindlich adretten Gesichter glänzend von unsichtbarem Schweiß. Er hörte sie (nur allzu sehr), nahm aber nicht wahr, was sie sagten, ohne dass ihn das gerade im Mindesten gestört hätte, war er doch davon überzeugt, dass sie ein einstudiertes Drehbuch abspulten, das sie beliebig oft wiederholen konnten; vielleicht wiederholten sie es ja bereits. Das Erste, was er sich fragte, als er wieder denken konnte, war, warum er sich in den Wagen hatte verfrachten lassen. Er rechtfertigte das vor sich damit, dass es das Einfachste war und ihm größere Probleme ersparte. Jetzt musste er nur aussteigen und nach Hause gehen; sie würden dieses Theater nicht viel weitertreiben, weil es sonst Entführung wäre und sie Scherereien mit der Polizei bekämen. Seine einzige Sorge war jetzt (und das bildete keine unüberwindliche Hürde), ihren Bitten und Ansinnen zu widerstehen, sich allem zu verweigern.

Wenn ein plötzlicher Zwischenfall ihn aus dem Takt brachte, geriet er immer in heillose Verwirrung; da ihm das ziemlich häufig widerfuhr, hatte er für Abhilfe gesorgt und sich ein kleines Stärkungs-Kit gebastelt, das er stets bei sich trug. Das diesem Hilfsmittel zugrunde liegende Kalkül bestand darin, die Funktionstüchtigkeit seiner Sinne Stück für Stück wiederherzustellen, im Vertrauen darauf, dass, wenn er nur erst wieder Herr seiner Sinne wäre, die Ideen sich von allein sortierten. Das Kit enthielt: ein Fläschchen mit französischem Parfüm, in dessen Gummipfropfen ein in die Flüssigkeit tauchendes Stäbchen stak, das man herausziehen konnte, um sich damit die Nasenlöcher zu betupfen; ein silbernes Glöckchen, fingerhutgroß, mit einem hölzernen Stiel; einen Talisman in Form eines Teddybären mit Kaninchenfell und Samtmütze, um daran die Fingerspitzen zu reiben; einen Würfel aus Quarz mit phosphoreszierenden Punkten, alle einundzwanzig in verschiedenen Farben; zu guter Letzt ein Pfefferminzbonbon. Es war so praktisch, dass er innerhalb weniger Sekunden von allem Gebrauch machen konnte. Er verwahrte es in einem Blechdöschen, in einer Tasche seines Sakkos. Doch musste er es heimlich verwenden, was bei dieser Gelegenheit unmöglich war, weshalb er es in der Tasche ließ. Außerdem brauchte er kein besonderes Maß an Geistesgegenwart wiederzuerlangen, ganz im Gegenteil. Er wusste, dass er eher dazu neigte, zu viel zu denken, und es konnte passieren, dass er am Ende in seine eigenen Fallen tappte.

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