Vertuschter Skandal

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1.1.4 Einholen eines Sachverständigengutachtens

Einer der Gutachter legte im Juni 1979 einen ersten Entwurf des Gutachtens vor. Der Entwurf war „im Ergebnis der zwischenzeitlichen Konsultationen zwischen unserer Abteilung, der Abteilung K [Kriminalpolizei] des MdI [Ministerium des Innern] und den Sachverständigen“ von dem Staatlichen Kontrollinstitut für Seren und Impfstoffe verfasst worden.200 Das 22 Seiten umfassende Sachverständigengutachten lag am 27. Juni 1979 vor. Darin wurde zunächst auf die Herstellung von Anti-D-Immunglobulin eingegangen und festgehalten, dass die Gewinnung der Ausgangsplasmen in Einrichtungen des Blutspende- und Transfusionsdiensts in der DDR erfolgte. Als Anforderung an die Ausgangsplasmen wurde auf Punkt 17.1 der Gütevorschrift verwiesen. Nach diesem durften nur Personen als Spender zugelassen werden, die der Anordnung über den Blutspende- und Transfusionsdienst entsprachen. Diese wiederum setzte voraus, dass die Spender keine übertragbaren Krankheiten aufweisen durften.201 Gleichzeitig legte die Anordnung eine Kontrolle des Sozialversicherungsausweises, einen Siebtest auf Hepatitis und eine Nachuntersuchung vor jeder weiteren Spende fest. Neu war der Hinweis der Gutachter, dass auch ein Nachweis auf Abwesenheit von HBs-Antigen im Serum des Blutspenders für „unbedingt erforderlich“ gehalten werde.202 Als Grundlage hierfür wurde eine Mitteilung der Gesellschaft für Hämatologie und Bluttransfusion der DDR zum Australia-Antigen herangezogen. Das Gutachten hielt fest, dass der Leiter der Technischen Kontrollorganisation das Endprodukt nach der Gütevorschrift zu prüfen hatte. Anschließend war das Präparat mit den im Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) erhaltenen Prüfergebnissen an das Staatliche Kontrollinstitut zur Prüfung und Freigabe abzugeben. Wie die staatliche Prüfung aussah, wurde im Gutachten nicht thematisiert.

Die Gutachter wandten sich vor allem gegen den Begriff der „Hepatitissicherheit“. Schubert hatte diesen in einem Artikel aus dem Jahr 1976 verwendet. Auch Experten der Weltgesundheitsorganisation benutzten den Begriff. Die Gutachter gingen aber davon aus, dass hierbei mehrere Faktoren berücksichtigt werden mussten und nicht nur die „Fällung der Immunglobuline mittels Äthanol“ im Fraktionierungsverfahren.203 Die Gutachter wiesen darauf hin, dass es keinen Anhaltspunkt für die Annahme gebe, dass die Hepatitissicherheit der Immunglobuline ausschließlich auf die Einwirkung des Äthanols zurückzuführen sei. Die Forderung nach einer Wärmebehandlung zeige, dass die alleinige Einwirkung des Äthanols zur Inaktivierung von Hepatitisviren nicht ausreiche. Durch den Einsatz der Plasmen von nur zehn Spendern werde die Verdünnung des Plasmas außerdem sehr gering gehalten. Bei der Mischung von 1.000 und mehr Plasmen seien der Verdünnungseffekt sowie die Wahrscheinlichkeit höher, dass in dieser Mischung Plasmen mit Antikörpern vorhanden seien, die „eine neutralisierende Wirkung ausüben“ könnten.204 Schubert wurde nachteilig ausgelegt, dass er in seinem Schreiben an das Kontrollinstitut vom 23. Juni 1978 nur von einer „Senkung des Hepatitisrisikos“ ausgegangen war. Er sei damit selbst nicht von einer „Hepatitissicherheit“ überzeugt gewesen, wodurch die Entscheidung zur Umarbeitung der Chargen 6 und 7 unverständlich werde. Zwar räumten die Gutachter ein, dass eine Produktionssteigerung notwendig sei, dies aber nicht „unter Einbeziehung eines derartigen Risikos“ geschehen könne.205

1977 hatten 19.814 Frauen eine Immunprophylaxe erhalten, wobei nicht alle „gefährdeten Mutter-Kind-Kombinationen“ in die Prophylaxe einbezogen worden waren.206 Die Gutachter behaupteten, dass das Bezirksinstitut in Halle (Saale) entsprechend den gesetzlichen Regelungen den Bedarf mit dem Präparat abdecken konnte. Auf die Frage nach möglichen Importen wurde nicht eingegangen. Stattdessen wurde die Produktion des Jahres 1978 detailliert dargestellt. Daraus ging hervor, dass die Chargen 8 bis 15 zwischen August und Mitte Dezember 1978 ausgeliefert worden waren. Gesperrt wurden sie am 11. Januar 1979. Die Chargen 16 bis 22 wurden im Zeitraum von 14. Dezember 1978 bis zum 2. März 1979 ausgeliefert und am 14. März 1979 gesperrt.207 Die Charge 23 war nicht ausgeliefert worden. Die Gutachter gaben an, dass dem Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) nach ihren Berechnungen bis Mitte Juni 1979 insgesamt 14.305 Ampullen zur Verfügung gestanden hatten. Damit seien „bereits 71,5 % des geschätzten Jahresbedarfes von 20.000 Ampullen“ abgedeckt worden.208

Die Verantwortlichkeit des Staatlichen Kontrollinstituts für Seren und Impfstoffe wurde nur am Rand thematisiert. Dieses hatte nach § 13 der Siebenten Durchführungsbestimmungen zum Arzneimittelgesetz die Möglichkeit gehabt, eine Auflage zur Vernichtung der Chargen zu erteilen. Dass von dieser Auflage kein Gebrauch gemacht worden war, wurde damit gerechtfertigt, dass es sich zunächst nur um einen Verdacht gehandelt habe. Das Kontrollinstitut sei davon ausgegangen, „daß dieser Verdacht entweder bestätigt oder durch eine andere gesicherte Diagnose ausgeschlossen werden wird.“209 Von der Weiterverarbeitung des Plasmas und der Umarbeitung der Chargen 6 und 7 habe das Kontrollinstitut keine Kenntnis erhalten, da es den Antrag auf die Freigabe dieser Chargen ansonsten abgelehnt hätte.

Im Gegensatz dazu urteilten die Gutachter hart über Schubert. Die Information, ob zwei oder fünf Spender erkrankt waren, hielten sie nicht für relevant. Ebenso sei „die Art des viralen Krankheitserregers ohne Belang“, stattdessen hätte „nur eine negative Entscheidung getroffen werden müssen!“210 Die Gutachter gingen davon aus, dass Schubert von der Diagnose der Spender wusste. Als Beleg führten sie an, dass Schubert in seiner Stellungnahme an das Staatliche Kontrollinstitut für Seren und Impfstoffe am 8. Februar 1979 auf die Epikrisen der Spender verwiesen hatte. Ferner wurde Schubert vorgeworfen, dass er sich nur darum bemüht hatte, eine Hepatitis B auszuschließen. Es sei unverständlich, dass er die anderen Hepatitisformen außer Acht gelassen habe. Auch habe eine Hepatitis-B-Viruskontamination nie ganz ausgeschlossen werden können.211

Die Gutachter verwiesen darauf, dass kein Verfahren die Gefahr einer Virenübertragung ausschließe, sondern das Risiko nur durch eine sorgfältige Auswahl und Untersuchung der Spender vermindert werden könne. Hierzu hätten in den letzten Jahren auch Diskussionen in der Fachkommission Blutspende- und Transfusionswesen beim Ministerium für Gesundheitswesen stattgefunden. Dabei war darüber diskutiert worden, „ein Präparat zur intramuskulären Anwendung industriell (Inst.f. Impfstoffe, Dessau) herzustellen, das bei gleichem Antikörpergehalt (250 µg/Dosis), jedoch höherem Eiweißgehalt (10 bis 16 %), den Einsatz einer größeren Zahl von Plasmen/Charge ermöglicht, womit gleichzeitig auch das Risiko einer Hepatitisübertragung verringert werden kann.“212 Die in Neubrandenburg versäumte Untersuchung der Plasmaspender werteten die Gutachter hingegen als „Pflichtverletzung“, die sich nicht auf die späteren Ereignisse ausgewirkt habe. Ein Enzymtest hätte wahrscheinlich Normalwerte ergeben. Zudem sei die Erkrankung bereits vor dem Antrag auf staatliche Prüfung der Charge 6 beziehungsweise vor der Produktion der nachfolgenden Chargen dem Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) mitgeteilt worden.213

Auch der Leiter der Technischen Kontrollorganisation wurde scharf kritisiert. Ihm wurde insbesondere vorgeworfen, dem Kontrollinstitut die Zusammensetzung der Charge 15 nicht mitgeteilt zu haben. Dies könne nur „auf völlig unzureichende Kenntnisse der Hepatitisproblematik“ und eine „einseitige Orientierung“ auf Schuberts Auffassungen zurückgeführt werden.214 Der Leiter der Technischen Kontrollorganisation war nach Ansicht der Gutachter nicht seiner in § 8 der Siebenten Durchführungsbestimmung zum Arzneimittelgesetz festgelegten Verantwortung nachgekommen. Er habe bei der Produktion der Chargen 8 bis 15 die in Punkt 17.1 festgelegten Vorschriften nicht kontrolliert. Schon mit dem Verdacht auf eine Erkrankung habe das Plasma nicht mehr den Voraussetzungen der Gütevorschrift entsprochen. Durch die Erkrankung mehrerer Plasmaspender sei die Wahrscheinlichkeit einer Infektion sehr hoch gewesen. Dies habe dem Verdacht auf eine Hepatitiserkrankung ein „besonderes Gewicht“ verliehen.215 In der Umarbeitung der Chargen 6 und 7 und der Wiederverwendung der Waschflüssigkeit sahen die Gutachter zudem eine Verletzung des § 1 des Arzneimittelgesetzes.216

Insgesamt urteilten die Gutachter großzügig über eigene Verantwortlichkeiten und auch die Vorgehensweise des Bezirksinstituts für Blutspende- und Transfusionswesen Neubrandenburg. In Bezug auf Schubert und den Leiter der Technischen Kontrollorganisation wurde hingegen jedes Detail genutzt, um diesen eine Schuld nachzuweisen. Dabei wurde auch viel mit Behauptungen gearbeitet. Beispielsweise war den Gutachtern gar nicht bekannt, ob Schubert etwas von der Erkrankung der Spender erfahren hatte. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie, falls ein Hepatitisrisiko niemals ausgeschlossen werden konnte, die Immunprophylaxe in den Vorjahren durchgeführt wurde. Bezeichnend ist zudem der Hinweis auf neue Ideen des Fachausschusses beim Ministerium für Gesundheitswesen, die hier am Rande eingebracht wurden. Diese machen deutlich, dass die Gutachter eine Veränderung der Immunprophylaxe anstrebten und eigene Interessen verfolgten. Besonders auffällig ist, dass mit keinem Wort auf die Möglichkeit eines Importes eingegangen wurde. Die Frage, welche Folgen im Fall einer Unterbrechung eingetreten wären, blendete das Gutachten ebenfalls aus. Zwar wurden kurz die möglicherweise entstehenden Versorgungslücken thematisiert, diese wurden aber durch unsichere Zahlen heruntergespielt. Die Verantwortlichkeit des Staatlichen Kontrollinstituts in Hinsicht auf die Prüfung wurde nicht thematisiert und zu der Frage, warum die Chargen nicht vernichtet worden waren, wurde nur eine knappe Antwort gegeben.

 

1.2 Das Ermittlungsverfahren

Das Sachverständigengutachten hatte Schubert und den Leiter der Technischen Kontrollorganisation schwer belastet. Doch noch bevor das Gutachten eingegangen war, leitete der Generalstaatsanwalt der DDR am 20. Juni 1979 ein Ermittlungsverfahren gegen die beiden Verdächtigen ein. Dies geht aus einer Notiz des hallischen Staatsanwalts über ein Gespräch mit dem Generalstaatsanwalt aus Berlin hervor. Das Verfahren sollte erst nach Eingang des Gutachtens offiziell werden. Die Vernehmungen konnten schon vorbereitet werden. Der Generalstaatsanwalt der DDR wollte den Bezirkssekretär der SED Halle (Saale) persönlich informieren. Der ermittelnde Staatsanwalt hatte den Bezirksstaatsanwalt schon über das Verfahren in Kenntnis gesetzt. Die Abteilung III der Generalstaatsanwaltschaft hatte den hallischen Staatsanwalt zudem über das Vorliegen erster Anzeigen von Patientinnen aus dem Bezirk Karl-Marx-Stadt unterrichtet, die er ihm zuleiten wollte.217

Das Ermittlungsverfahren wurde offiziell am 3. Juli 1979 eingeleitet. Die Staatsanwaltschaft warf Schubert und dem Leiter der Technischen Kontrollorganisation vor, in ihrer Funktion „entgegen den gesetzlichen Bestimmungen schuldhaft handelnd, Human-Immunglobulin-Anti-D in den Verkehr gebracht“ und dadurch „Hepatitiserkrankungen einer Vielzahl von Frauen und einiger Säuglinge“ verursacht zu haben.218 Zugrunde gelegt wurde ein Vergehen gemäß § 35 und § 36 des Arzneimittelgesetzes sowie § 118 Abs. 1 und 2, Ziff. 1 des Strafgesetzbuchs.219 Die Verteidigung Schuberts übernahm ein Rechtsanwalt aus Halle (Saale).220 Die nächsten Vernehmungen waren für den Zeitraum vom 3. bis 5. Juli 1979 geplant. Während dieser ersten Vernehmungen war eine Teilnahme des Mitarbeiters von Oberdoerster vorgesehen, die das Ministerium für Gesundheitswesen empfohlen hatte.221 In den Pausen zwischen den geplanten Beschuldigtenvernehmungen waren Beratungen mit dem Gutachter anberaumt.222 Die Abteilung III der Generalstaatsanwaltschaft bestätigte dem ermittelnden Staatsanwalt die Ankunft des Gutachters telefonisch am 2. Juli 1979 und informierte dabei über den Stand der Erkrankungen, den sie auf 2.533 Personen bezifferte. Insgesamt waren 2.420 Frauen und 113 Kontaktpersonen einschließlich Säuglinge erkrankt. Die Generalstaatsanwaltschaft berichtete zudem, dass sich die Entschädigungszahlungen gegenwärtig auf 12 Millionen Mark beliefen. Schriftliche Unterlagen hierzu lagen dem Staatsanwalt nicht vor.223

Die Staatsanwaltschaft blieb in engem Kontakt mit der Hauptabteilung Kriminalpolizei des Ministeriums des Innern, welche Einfluss auf das Verfahren nahm. So erhielt der ermittelnde Staatsanwalt am 18. Juli 1979 einen detaillierten Fragenkatalog. Die Fragen waren in Absprache mit der Hauptabteilung Kriminalpolizei entwickelt worden und sollten bei der Untersuchung berücksichtigt werden.224 Darin waren nicht nur Fragen an die Beschuldigten festgelegt,225 sondern auch an die Zeugen.226 Die Vernehmungen der Beschäftigten des Bezirksinstituts für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) sollten dabei „von unten nach oben“ erfolgen.227 Die Morduntersuchungskommission, die ebenfalls involviert war, führte die Vernehmungen während der urlaubsbedingten Abwesenheit des Staatsanwalts auch allein durch.228

1.2.1 Ergebnisse der Vernehmungen und strittige Punkte

Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens kam es zu mehreren Vernehmungen der beiden Beschuldigten. Daneben wurden auch Zeugen gehört. Hierzu gehörten sowohl Mitarbeiter der Bezirksinstitute für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale), Magdeburg und Neubrandenburg als auch des Instituts für Impfstoffe Dessau. Im Laufe der Vernehmungen kristallisierten sich mehrere Punkte heraus, zu denen unterschiedliche Aussagen gemacht wurden. Dies betraf vor allem den Informationsfluss zwischen den Verantwortlichen in Halle (Saale) und Neubrandenburg, aber auch die interne Kommunikation im Bezirksinstitut Halle (Saale) in Bezug auf die Zahl der erkrankten Spender und die Weiterverarbeitung der Plasmen.

Als besonders strittig erwies sich die Frage nach der Information über die erkrankten Spender. Schubert sagte in der ersten Vernehmung am 3. Juli 1979 aus, dass er erst im Januar 1979 durch die Vorlage der Epikrisen erfahren habe, dass es sich bei der Erkrankung der Spender tatsächlich um eine Virushepatitis gehandelt hatte. Er behauptete zudem, vom Bezirksinstitut Neubrandenburg nicht über die Erkrankung der anderen Spender informiert worden zu sein.229 Er habe sich bei der Information über die Testergebnisse aus Magdeburg zwar über die Zahl von fünf Spendern gewundert, aber angenommen, dass die drei anderen Spender nicht erkrankt waren.230 Der Vernehmer glaubte Schubert nicht. In der dritten Vernehmung vom 5. Juli 1979 forderte er ihn auf, die Wahrheit zu sagen. Schubert wurde vorgehalten, bisher seine „tatsächliche Kenntnis über die Sachlage der Erkrankung der Plasmaspender und über den Anruf“ des Ärztlichen Direktors aus Neubrandenburg „abzuschwächen bzw. bewußt falsche Angaben zu machen.“231 Schubert blieb bei seiner Aussage. Er habe mit der Möglichkeit einer Hepatitis gerechnet, sei aber weder über die Erkrankung der fünf Spender informiert worden noch habe er eine genaue Diagnose erfahren.232 Der Ärztliche Direktor des Bezirksinstituts für Blutspende- und Transfusionswesen Neubrandenburg, der am 4. Juli 1979 als erster Zeuge vernommen wurde, bestritt diese Aussage. Er gab an, zu Schubert in einer freundschaftlichen Beziehung zu stehen, und schilderte kurz die Ereignisse, die sich am 17. April 1978 abgespielt hatten. Er hatte nach der Benachrichtigung durch den Oberarzt und die Oberschwester beide unverzüglich angewiesen, „die erforderlichen Unterlagen herbeizuschaffen.“233 Daraufhin hatte sich der „bereits vorher bestehende Verdacht, daß eine Antigen-Spenderin möglicherweise die Ursache (…) sein könnte“, erhärtet.234 Der Ärztliche Direktor des Bezirksinstituts Neubrandenburg hatte daraufhin Schubert von der Erkrankung der Spender telefonisch in Kenntnis gesetzt. Er war sich sicher, von fünf Spendern gesprochen zu haben: „Da es erstmalig im Zusammenhang mit einer künstlichen Immunisierung zu einem derartig gehäuften Auftreten von Hepatitisfällen gekommen ist und diese Angelegenheit für Dr. Schubert als Vorsitzenden der Fachkommission als auch als Wissenschaftler von großem Interesse war, wäre es unverständlich, wenn diese Information nicht erfolgt wäre.“235 Seine Aussage wurde von der Oberschwester des Neubrandenburger Bezirksinstituts gestützt. Diese gab an, dass sie am 17. April 1978 bei dem zuerst erfolgten Telefongespräch mit dem Institut für Immunpräparate und Nährmedien aus dem Zimmer gegangen sei, um das Untersuchungsbuch zu holen. Vor Beginn des Gesprächs mit dem Bezirksinstitut Halle (Saale) war sie zurück. Sie sagte aus, dass ihr Vorgesetzter Schubert mitgeteilt habe, dass fünf der Plasmaspender stationär im Bezirkskrankenhaus mit Verdacht auf Hepatitis aufgenommen worden seien. Von diesen fünf erkrankten Spendern sei nur Plasma zweier Spender nach Halle (Saale) gegangen, das der restlichen drei Spender an das Staatliche Institut für Immunpräparate und Nährmedien. Der Ärztliche Direktor des Bezirksinstituts Neubrandenburg habe Schubert mitgeteilt, dass er das Institut telefonisch angewiesen habe, das Plasma der drei Spender zu sperren. Die Oberschwester konnte sich nicht erinnern, ob der Ärztliche Direktor auch gegenüber Schubert das Wort „sperren“ benutzt hatte. Er habe dringend zur Vorsicht geraten. Der Vernehmer konfrontierte sie daraufhin mit der Aussage Schuberts, nur von zwei Spendern Kenntnis erhalten zu haben. Daraufhin gab sie an, dass sie beschwören könne, dass der Ärztliche Direktor des Bezirksinstituts Neubrandenburg Schubert alles über den bekanntgewordenen Vorfall mitgeteilt habe, so auch, dass fünf Anti-D Spender mit Hepatitisverdacht im Krankenhaus gelegen haben.236 Der Vernehmer stellte auch die Aussage Schuberts in Frage, dass ihm der Hepatitisverdacht nicht mitgeteilt worden sei. Der Oberarzt des Neubrandenburger Bezirksinstituts, der am 1. August 1979 vernommen wurde, bestätigte die Ausführungen der Oberschwester. Er wurde mit der Aussage Schuberts konfrontiert, dass die Befunde nicht eindeutig für eine Virushepatitis gesprochen hätten und dazu „praktisch anikterisch“ verlaufen wären.237 Darauf entgegnete der Oberarzt, dass der Ärztliche Direktor des Bezirksinstituts Neubrandenburg eindeutig „von einer infektiösen Hepatitis bzw. einem infektiösen Hepatitisverdacht gesprochen“ habe. Er habe „mit Sicherheit nicht mitgeteilt, daß die Krankheit anikterisch verlaufen war. Die hohen Transaminasewerte (…) sprachen für eine Hepatitis. Das insbesondere auch deshalb, weil die Überwanderungselektrophorese negativ war.“238 Er und der Ärztliche Direktor des Bezirksinstituts Neubrandenburg hatten auch eine Hepatitis Non-A-Non-B in Betracht gezogen. Der Ärztliche Direktor des Neubrandenburger Bezirksinstituts für Blutspende- und Transfusionswesen gab an, Schubert im Telefongespräch gebeten zu haben, die Seren als hepatitisverdächtig zu sperren. Dieser habe daraufhin „sinngemäß“ geantwortet: „Wissen Sie eigentlich (…) was sich daraus ergibt. Wir müssen zweieinhalbtausend IGG-Anti-D Ampullen sperren. Um Gotteswillen, was kommt da auf uns zu!“239 Der Ärztliche Direktor des Bezirksinstituts Neubrandenburg war nicht mehr sicher, ob Schubert diese Zahl gleich bei diesem ersten Gespräch genannt hatte. Er sagte aus, dass er mit diesem mehrere Telefongespräche am 17. April 1978 geführt hatte. In einem Schreiben an die Außenstelle des Bezirkshygieneinstituts Erfurt in Nordhausen hatte der Ärztliche Direktor des Bezirksinstituts Neubrandenburg die Zahl von 2.500 zu sperrenden Ampullen zum ersten Mal schriftlich genannt. In diesem Schreiben hatte er darum gebeten, das Blut des erkrankten Spenderkreises, einschließlich der Antigen-Spenderin, auf einen Nachweis des HBs-Antigens zu untersuchen. Der Ärztliche Direktor des Bezirksinstituts Neubrandenburg wies darauf hin, dass er gegenüber Schubert „zweifelsfrei“ den Begriff „Hepatitisverdacht“ gebraucht habe: „Hepatitisverdacht im Zusammenhang mit durchzuführenden Transfusionen lösen [sic!] in der DDR besondere Sicherheitsmaßnahmen aus. Sie müssen es. Mir war der Ernst der Situation bewußt. Deshalb habe ich am 17. 4. 1978 Dr. Schubert alle die mir im Zusammenhang mit der Erkrankung der fünf Spender bekanntgewordenen Tatsachen fernmündlich übermittelt.“240 Als Beleg für diese Aussage führte er eine von ihm notierte Telefon-Aktennotiz mit dem Vermerk „Hepatitisverdacht“ an. Ferner verwies er auf sein Schreiben an das Institut für Impfstoffe Dessau. In diesem hatte er darum gebeten, das Blut von drei Seren sowie die Serumproben der anderen erkrankten Spender zu untersuchen. Er hatte sich dabei auf das Gespräch zwischen dem Institut für Impfstoffe und Schubert bezogen.241 Der Ärztliche Direktor sagte aus, dass auch nach dem 17. April 1978 viele Telefonate zwischen ihm und Schubert stattgefunden und sich im Wesentlichen um drei Bereiche gedreht hatten. Neben der „Vermittlung von Untersuchungsmöglichkeiten und deren Ergebnis“ hatte Schubert „mehrfach um die Übersendung von mehr Ausgangsmaterial“ gebeten.242 Drittens ging es in diesen Gesprächen um die „mir vorliegenden Fakten bezüglich der Entlassung der erkrankten Spender aus dem Krankenhaus und die Schlußdiagnose bezüglich der Spender.“243 Der Ärztliche Direktor des Bezirksinstituts Neubrandenburg gab an, dass er seit dem 23. Mai 1978 wusste, dass der Spender, dessen Plasma das Institut in Halle (Saale) erhalten hatte, am 9. Mai 1978 aus der stationären Behandlung entlassen worden war. Die Leberbiopsie habe bei ihm eine akute Virushepatitis ergeben. Dies habe er Schubert telefonisch mitgeteilt. Den Tag konnte er allerdings nicht nennen. Es sei auf alle Fälle im Mai oder Juni 1978 gewesen. Er habe Schubert zudem auf einer Direktorentagung in einem persönlichen Gespräch alle ihm „zu diesem Zeitpunkt bekanntgewesenen Tatsachen übermittelt.“244

 

Unklarheiten gab es auch in Bezug auf die interne Kommunikation im Bezirksinstitut Halle (Saale). Schubert gab an, den Leiter der Technischen Kontrollorganisation am 17. April 1978 darüber informiert zu haben, dass zwei Spender aus Neubrandenburg erkrankt seien und sich in stationärer Behandlung befänden. Er habe ihn angewiesen, das Material sicherzustellen. Auch die Abteilungsleiterin für die Produktion des Anti-D-Immunglobulins sei über den Sachverhalt informiert worden. Schubert hatte die Charge 6 und 7 anschließend durch sie oder den Leiter der Technischen Kontrollorganisation sperren lassen.245 Dieser behauptete in seiner Vernehmung, dass Schubert ihm gegenüber nur von einem erkrankten Spender gesprochen habe. Schubert bestritt dies. Es sei immer von zwei Spendern aus Neubrandenburg die Rede gewesen. Der Leiter der Technischen Kontrollorganisation hatte einen entsprechenden Protokollvermerk als Beweis vorgelegt. Schubert konnte diesen damit erklären, dass der Anruf aus Neubrandenburg eventuell nur die Mitteilung enthalten hatte, dass ein Spender erkrankt sei und die Mitteilung über die Erkrankung eines weiteren Spenders erst Tage später erfolgt war.246

Da beide Beschuldigte an ihren Aussagen bezüglich der Zahl der erkrankten Spender festhielten, kam es am Nachmittag des 5. Juli 1979 zu einer Gegenüberstellung. Der Leiter der Technischen Kontrollorganisation hatte in einer erneuten Vernehmung am selben Tag angegeben, nur von einer erkrankten Spenderin gewusst zu haben und die Kenntnis von einer Weiterverarbeitung der Plasmen bestritten.247 Schubert verwies darauf, dass er bereits in der morgendlichen Vernehmung angegeben habe, sich an Einzelheiten nicht mehr zu erinnern und blieb auch bei dieser Aussage.248 Der Vernehmer konfrontierte ihn daraufhin mit der Vernehmung des Vortags, in der Schubert behauptet hatte, dass immer von zwei Spendern die Rede gewesen sei. Schubert habe „eindeutige Aussagen gemacht, die mit Erinnerungsverlust absolut auch gar nichts zu tun haben.“249

Auch dem Leiter der Technischen Kontrollorganisation wurde mitgeteilt, dass der Wahrheitsgehalt seiner „Einlassungen“ teilweise angezweifelt werde.250 Er entgegnete darauf, dass er im Augenblick keine Berichtigungen oder Ergänzungen zu machen habe und hielt an seiner Aussage fest. Schubert habe ihm mitgeteilt, dass er alle notwendigen Schritte einleiten und durchführen lassen werde. Er habe dabei auch vom Radio-Immun-Assay-Test gesprochen. Für den Leiter der Technischen Kontrollorganisation hatte sich damit „das Problem erst einmal erledigt.“251 Auf die Frage danach, welche Pflichten sich aus den Mitteilungen Schuberts ergeben hätten, antwortete er, dass er zu dem Zeitpunkt der Meinung gewesen sei, dass sich für ihn daraus keine besonderen Pflichten ergaben. Die Vernehmung machte auch die Schwierigkeiten bei der personellen Besetzung im Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) deutlich. Der Leiter der Technischen Kontrollorganisation gab an, dass es sich im Institut eingespielt habe, dass er nur die Fertigprodukte des Anti-D-Immunglobulins kontrollierte. Die Kontrolle des Produktionsprozesses führte die zuständige Abteilungsleiterin durch. Ihm war zu dem Zeitpunkt klar, dass eine solche Verfahrensweise nicht im Sinne des Gesetzgebers war. Er hätte auch den Produktionsprozess kontrollieren müssen, wusste aber nicht, wie er die gesetzlichen Pflichten in der Praxis verwirklichen sollte. Denn es gab keine Abteilung der Technischen Kontrollorganisation mit mehreren Mitarbeitern, sondern lediglich einen Leiter. Da er sich nicht um alle Belange selbst kümmern konnte, mussten seine Pflichten „aus personellen und fachlichen Gründen einfach delegiert werden.“252 Bei Besonderheiten hätte der Abteilungsleiter die Pflicht gehabt, den Leiter der Technischen Kontrollorganisation zu informieren. Auf die Frage, ob ein Hepatitisverdacht nicht eine solche Besonderheit darstelle, entgegnete der Leiter der Technischen Kontrollorganisation, dass er angenommen habe, dass alles Plasma in die Chargen 6 und 7 eingegangen war. Aus derzeitiger Sicht habe er ein „großes Versäumnis begangen.“253 Er habe sich mit den Informationen von Schubert zufriedengegeben, „was er sagte war richtig und endgültig. Es lag meiner Ansicht in seinem Leitungsstiel [sic!], ich bin gar nicht auf den Gedanken gekommen weiter zu fragen.“254

Im Folgenden ging es um die Zahl der Spender. Der Leiter der Technischen Kontrollorganisation beharrte zunächst weiterhin darauf, dass Schubert ihm gegenüber nur von einer Spenderin gesprochen habe und verwies auf seinen Kalendereintrag. Erst nach mehrmaliger Nachfrage des Vernehmers räumte er die Möglichkeit ein, doch über die Erkrankung von zwei Spendern informiert gewesen zu sein. Dies hatte keine Auswirkungen auf die Rechtspflichten, die in diesem Fall die gleichen waren. Der Leiter der Technischen Kontrollorganisation sah eine Pflichtverletzung darin, dass er nicht geprüft habe, wo sich das Plasma des erkrankten Spenders befand. Eine Kontrolle der Lieferscheine oder die Einsichtnahme in das Materialeingangsbuch der Abteilung Tiefkühl-Temperatur-Kontrolle hätten zur Information schon ausgereicht. Er habe „der ganzen Sache nicht die Bedeutung“ beigemessen, welche sie verdient gehabt hätte.255

Anhand weiterer Zeugenvernehmungen wurde für die Staatsanwaltschaft deutlich, was seit dem 17. April 1978 im Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen geschehen war. Auch der technische und organisatorische Ablauf und die Verwendung der Plasmen bei der Herstellung von Anti-D-Immunglobulin war Thema dieser Vernehmungen. So führte die Produktionsleiterin aus, dass jeden Montag die Ausgangsplasmen von acht Spendern zu einem Pool gemischt wurden. Anschließend wurde das Anti-D-Immunglobulin im Laufe der Woche aus den Spenderplasmen fraktioniert und in derselben oder nachfolgenden Woche zum Endprodukt verarbeitet. Wöchentlich wurden etwa vier Säulen fraktioniert. In einer Charge waren die Fraktionierungen von sechs Säulen enthalten. Die Plasmen der beiden Spender waren etwa vier Wochen im Einsatz, als die Erkrankung bekannt wurde.256

Ihre Stellvertreterin sagte aus, dass Schubert ihr am 17. April 1978 mitgeteilt habe, dass in Bezug auf die beiden Spender akute Hepatitisgefahr bestehe und das Plasma nicht mehr eingesetzt werden solle. Sie hatte dies als dienstlichen Auftrag aufgefasst. Gegenüber ihrer Vorgesetzten hatte sie geäußert, „daß wir das Zeug wegwerfen können, es besteht der Verdacht auf Hepatitis.“257 Diese hatte sie beruhigt und ihr gesagt, dass die Arbeit beendet werde. Vielleicht könne man das Material noch anderweitig einsetzen oder verarbeiten. Die Stellvertreterin gab an, im Materialbuch Vermerke vorgenommen zu haben, die einer Sperrung entsprachen.258 Auf Nachfrage sagte sie aus, dass sie am 17. April 1978 die Chargen 6 und 7 gesperrt habe. Die Produktionsleiterin war von ihrer Stellvertreterin über den Anruf aus Neubrandenburg und den Auftrag informiert worden, die Plasmen und die betroffenen Chargen schriftlich zu erfassen. Sie hatte daraufhin Schubert aufgesucht, der ihr mitgeteilt habe, dass die beiden Spender an einer „hepatitisähnlichen Krankheit“ erkrankt seien.259 Auch die Produktionsleiterin gab an, im Materialbuch eingetragen zu haben, dass das Material gesperrt war. Allerdings sei dies aus Krankheitsgründen erst am 2. Mai 1978 geschehen. Schubert hatte die Eintragungen angewiesen und die vermerkten Maßnahmen auch am 17. April 1978 durchgeführt. Auf die Frage, ob Schubert von einem Spender oder mehreren Spendern gesprochen hatte, antwortete die Produktionsleiterin, dass sich ihr Eintrag im Materialbuch („eine Spenderin“) daraus erkläre, dass sie bei der Überprüfung der Zusammenstellung der Chargen festgestellt hatte, dass in den Chargen 6 und 7 nur das Plasma der Spenderin verarbeitet worden war.260