Vertuschter Skandal

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1.1.3 Mecklingers Anzeige und erste Befragungen der Staatsanwaltschaft

Eine Bestrafung und Absetzung Schuberts war schon unmittelbar nach Bekanntwerden der Erkrankungen vorgesehen. Dies zeigt ein Schreiben des Bezirksarztes von Halle (Saale) an den Minister für Gesundheitswesen. Der Bezirksarzt hatte gleichzeitig die Bezirksleitung der SED über die Situation im Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen informiert. Er bat um Unterstützung bei der Gewinnung eines geeigneten Fachkaders für die amtierende Leitung des Instituts, „mit der Perspektive, nach Klärung der Angelegenheit OMR Dr. Schubert, die Leitung des Instituts endgültig zu übernehmen.“143 Er schilderte zudem die Zustände im Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen: „Die erneute Sperrung von Chargen Human-IgG-Anti-D hat dazu geführt, dass bei den Mitarbeitern des Bezirksinstituts für Blutspende- und Transfusionswesen labile Stimmungen und Meinungen auftreten und ich damit die Erfüllung der anderen volkswirtschaftlichen Aufgaben gefährdet sehe.“ Daher hatte er ein Gespräch mit der amtierenden Leiterin des Instituts anberaumt, die er „aufgrund der Zuspitzung der Situation“ für die Leitungstätigkeit nicht geeignet hielt.144

Auch dem Ministerium für Staatssicherheit lag ein Bericht über die Situation im Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen vor. Dieser macht deutlich, dass Schubert mindestens seit 1976 im Visier der Staatssicherheit war. Denn zu diesem Zeitpunkt sei „erneut“ eingeschätzt worden, dass ein Funktionswechsel im Institut erforderlich sei. Begründet wurde dies mit Schuberts Auftreten und Unklarheiten in Bezug auf sein Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland. Außerdem habe er die Zusammenarbeit mit anderen Instituten aus „egoistischen Gründen“ abgelehnt. Ein Jahr später habe sich gezeigt, dass Schubert „Personen mit negativer Grundeinstellung“ bestärke und „feindlich-negative“ Diskussionen geduldet habe. Die Situation im Institut werde „nach internen Hinweisen als ,katastrophal‘ eingeschätzt“ und unter den Mitarbeitern herrsche große Unzufriedenheit.145

Mecklinger erstattete am 14. März 1979 beim Generalstaatsanwalt der DDR Anzeige „zur Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit“ gegen Schubert und den Leiter der Technischen Kontrollorganisation.146 Schubert war inzwischen beurlaubt worden. Mecklinger teilte dem Generalstaatsanwalt am 22. März 1979 einige Fakten zu den Hepatitiserkrankungen mit. Er gab an, dass für ihn kein Anhaltspunkt für eine Kontamination der Chargen 16 bis 23 bestanden habe, da die Expertengruppe nicht von einem Risiko ausgegangen sei. Nun war der Minister alarmiert, da „in der Vorwoche“ auch Empfänger dieser Chargen an Hepatitis erkrankt waren.147 Aufgrund dessen waren auch diese Chargen zu Beginn der vorhergehenden Woche gesperrt worden. Die Prüfung im Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen in Halle (Saale) habe den Verdacht aufkommen lassen, dass die Waschflüssigkeit der Charge 15 der Charge 16 zugesetzt wurde und bis in die Charge 23 gelangt sei. Die Übertragung der Waschflüssigkeit sei erfolgt, um den Anti-D-Gehalt des Serums vollständig zu nutzen. Allerdings war für Mecklinger dieser Verdacht noch nicht bewiesen, da eine „aussagefähige Dokumentation über diesen Fall“ fehlte.148 Falls sich der Verdacht bestätigte, rechnete der Minister mit einer Ausdehnung der Überwachungsmaßnahmen auf ca. 1.000 bis 2.000 weitere Frauen.

Im Nachgang zu Mecklingers Anzeige übersandte dessen Stellvertreter dem Stellvertreter des Generalstaatsanwalts ein Schreiben Schuberts.149 Darin hatte Schubert gegenüber der Stellvertreterin des Gesundheitsministers sein Vorgehen zu rechtfertigen versucht. Er bezog sich dabei auf sein Schreiben an das Staatliche Kontrollinstitut für Seren und Impfstoffe vom 23. Juni 1978, welches sie in Durchschrift erhalten hatte. Schubert wies auf die zu diesem Zeitpunkt drohende Gefahr einer Unterbrechung der Immunprophylaxe oder eines Imports aus dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet durch die Verlagerung der Produktion nach Neubrandenburg hin. Er habe die Beurteilung des Kontrollinstituts für übervorsichtig ohne Berücksichtigung der praktischen Realisierbarkeit gehalten. Zumindest bei der pyrogenhaltigen Charge 90677 war dies für ihn eindeutig. Die Charge sei „nach nochmaliger Sterilfiltration pyrogenfrei“ gewesen und „ohne Komplikationen zum Einsatz“ gekommen.150 Die zusätzliche Alkoholfällung habe die Übertragung einer Non-A-Non-B-Hepatitis nicht verhindern können. Der hohe Prozentsatz der Erkrankungen spreche dafür, „daß es sich um einen in der DDR seltenen Erreger handelt, gegen den kaum eine Immunität besteht.“151 Schubert befürchte nun, fristlos entlassen zu werden. Er halte dies in Hinsicht auf seine Motivation und sein Verhalten für unangemessen. Er habe seine Entscheidung uneigennützig getroffen, um einen durch eine Unterbrechung der Immunprophylaxe zu erwartenden späteren Schaden abzuwenden. Diese Entscheidung sei nicht „fahrlässig“ erfolgt, denn er habe „auf die aus internationaler und eigener Erfahrung beruhenden Meinung“ vertraut, dass Immunglobulin-Fraktionen hepatitissicher seien.152 Retrospektiv hatte sich seine Einschätzung als falsch erwiesen und zog damit seiner Ansicht nach erhebliche sachliche Konsequenzen für die Auswahl von Blutspendern und die Gewinnung von Immunplasmen nach sich. Schlussendlich betonte Schubert, dass „das Problem der lückenlosen Überführung der Produktion nach Neubrandenburg (…) nahezu unlösbar geworden“ sei.153 Er warf Oberdoerster in diesem Zusammenhang vor, ihm mit seiner Antwort auf diese Problematik keine Hilfestellung gegeben zu haben: „Sollte ich nun den Bau verzögern und damit in Halle das Herzoperationsprogramm und die Erweiterung des Nierentransplantationsprogramms gefährden oder ,aseptisch‘ arbeiten lassen und 8 m daneben bauen? Welchen Einfluss habe ich auf Neubrandenburg?“154 Er hoffte auf Verständnis dafür, „unter welchen Zwangsbedingungen und nach bestmöglichem Wissen“ er seine „retrospektiv falsche Entscheidung“ getroffen hatte, und bat die Stellvertreterin des Gesundheitsministers um Unterstützung.155

Diese blieb offenbar aus, denn die Anzeige wurde aufrechterhalten und geprüft. Die Ermittlungen vor Ort übernahm der Staatsanwalt von der Abteilung III der Bezirksstaatsanwaltschaft Halle (Saale). Am 24. April 1979 fand eine Besprechung im Ministerium des Innern statt, in welcher der Auftrag erteilt wurde, die Anzeige des Ministers als Anzeigevorgang der Staatsanwaltschaft laufen zu lassen. Zunächst war vorgesehen, ein Gutachten anzufordern und „keine operativen Maßnahmen“ zu ergreifen.156

Auch das Ministerium für Staatssicherheit war involviert. Dieses hatte bereits im Februar 1979 Rücksprachen im Bezirkshygieneinstitut Halle (Saale) geführt und einen mündlichen Bericht seines dortigen Gesellschaftlichen Mitarbeiters für Sicherheit angefordert. Die zuständige Diensteinheit in Halle (Saale) war durch die „Hauptabteilung XX“ schon vorher in Kenntnis gesetzt und gefragt worden, ob ein „operative[s] Interesse am Leiter des Institutes“ bestehe.157 Die Diensteinheit hatte diese Anfrage verneint und stattdessen die Informellen Mitarbeiter des Bezirkshygieneinstituts angewiesen, bis zum 28. Februar 1979 über Schubert zu berichten.158 Der Bericht des Gesellschaftlichen Mitarbeiters für Sicherheit war aufschlussreich. Er gab an, dass es aufgrund der Angelegenheit mehrere Besprechungen mit Schubert im Ministerium für Gesundheitswesen gegeben habe. Dem Informanten der Staatssicherheit war bekannt, dass bereits in einer Dienstversammlung im Bezirksinstitut in Halle (Saale) das gelieferte Serum aus Neubrandenburg beanstandet worden war. Schubert habe aber angewiesen, dass „das beanstandete Serum auf die gesamte Produktion verteilt (untergemischt) wird, das ,würde ja keiner merken‘.“159 Die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit in Halle (Saale) waren also schon zu diesem Zeitpunkt über wichtige Aspekte informiert.

Offiziell oblag die Verantwortung für die Ermittlungen dem Bezirksstaatsanwalt Halle (Saale). Dieser informierte den Ersten Sekretär der Bezirksleitung der SED Halle (Saale) und Mitglied des Politbüros am 25. April 1979 über den Sachverhalt. Er berichtete, dass etwa 3.000 Frauen in allen Bezirken der DDR an Hepatitis erkrankt sein sollten, er aber erst ein Gutachten einholen müsse, um sich einen Standpunkt zu bilden.160

Für das Gutachten wurde eine sogenannte Gutachtenanforderung in Form eines Fragekatalogs entwickelt, die der Staatsanwalt in Halle (Saale) erarbeitete und der Abteilung III der Generalstaatsanwaltschaft in Berlin vorlegen musste. Denn die Fragen wurden genauestens miteinander abgestimmt. Die Gutachtenanforderung sollte den Gutachtern in Berlin im Rahmen eines persönlichen Gesprächs übergeben werden. Schon fast entschuldigend bemerkte der hallische Staatsanwalt zu der Gutachtenanforderung: „Vielleicht erscheinen manche Fragen für den Sachverständigen als Selbstverständlichkeiten, für mich (später auch für den Richter) handelt es sich jedoch um Probleme.“161 Mit der Anfertigung des Gutachtens wurden der Leiter des Bezirksinstituts für Blutspende- und Transfusionswesen Magdeburg und Oberdoerster sowie einer seiner Mitarbeiter beauftragt.162

 

Für den hallischen Staatsanwalt standen bei der Erarbeitung des Gutachtens drei Fragekomplexe im Vordergrund. Diese betrafen die Produktion des Anti-D-Immunglobulins, die Pflichten der beiden Angezeigten und das Ausmaß der zu erwartenden Erkrankungen. Unter anderem fragte er danach, ob gewährleistet gewesen sei, dass das Institut mit seinen 1978 vorhandenen Kapazitäten und dem zugeleiteten Ausgangsmaterial den Bedarf in der DDR decken konnte. Und falls nicht, von wem die DDR für welchen Preis ein gleichwertiges Immunglobulin beziehen könne. Interessant war zudem die Frage nach zu erwartenden Folgeerscheinungen bei Nichteinsatz des Mittels. In Bezug auf die Pflichten der beiden Verantwortlichen wollte der Staatsanwalt vor allem „wissenschaftlich (…) zwei Einwände des Dr. Schubert widerlegen.“163 Hierbei handelte es sich um die Aussage, dass die Tests der beiden Plasmaspender und der Erythrozytenspenderin negativ waren, sodass eine Hepatitis B praktisch ausgeschlossen werden konnte. Ein weiterer Einwand betraf die Untersuchung einer Probecharge, deren Plasma in drei Tests zunächst einen stark positiven und nach der Fraktion nur noch in einem Testverfahren einen schwach positiven Wert aufgewiesen hatte.164 Einige Fragen betrafen auch Oberdoersters eigene Verantwortlichkeit. So wollte der hallische Staatsanwalt wissen, warum das Kontrollinstitut nicht die Vernichtung der betreffenden Chargen angeordnet hatte. Gleichzeitig blieb die Frage, ob dieses Vorgehen der Siebenten Durchführungsbestimmung zum Arzneimittelgesetz – Staatliche Prüfung von Seren, Impfstoffen und anderen Arzneimitteln – vom 16. Dezember 1969 entsprach. Zudem stellte der Staatsanwalt die Frage, welche Entscheidungen Oberdoerster getroffen hätte, wenn ihm mitgeteilt worden wäre, dass die Chargen 8 bis 15 ebenfalls Plasma der betroffenen Spender enthielten. Eine weitere Frage betraf die Auswirkungen des Einsatzes der Chargen 8 bis 23 und die damit zusammenhängenden Erkrankungen sowie deren Schweregrad.165

Nachdem auch die Hauptabteilung Kriminalpolizei des Ministeriums des Innern dem überarbeiteten Entwurf der Gutachtenanforderung zugestimmt hatte, beauftragte die Abteilung III der Generalstaatsanwaltschaft den hallischen Staatsanwalt, die Anforderungen den Sachverständigen zuzuleiten.166 Im Entwurf war auch die Frage festgehalten, ob der laut Anordnung über den Blutspende- und Transfusionsdienst geforderte Siebtest auf Hepatitis bei den Spendern ordnungsgemäß durchgeführt worden war.167 Der Staatsanwalt aus Halle (Saale) übersandte Oberdoerster am 17. Mai 1979 die Gutachtenanforderung, in der festgelegt war, dass er gemeinsam mit dem Leiter des Magdeburger Bezirksinstituts ein Sachverständigengutachten zu den genannten Fragekomplexen erstellen sollte.168

Insbesondere Oberdoerster war als Leiter des Staatlichen Kontrollinstituts für Seren und Impfstoffe mit dem Sachverhalt vertraut, da dieses als verantwortliches Prüfinstitut über die Freigabe der Chargen entschieden hatte. Aus diesem Grund war Oberdoerster auch kein neutraler Gutachter, ebenso wenig wie sein Mitarbeiter. Auch der Leiter des Instituts für Blutspende- und Transfusionswesen Magdeburg war insofern mit der Angelegenheit befasst gewesen, da sein Institut ebenfalls die Proben aus Halle (Saale) und Neubrandenburg getestet hatte. Den Gutachtern wurde innerhalb der Ermittlungen großer Einfluss eingeräumt. Es kam mehrfach zu Besprechungen zwischen ihnen und der offenbar mit dem medizinischen Sachverhalt überforderten Staatsanwaltschaft. So fand am 30. Mai 1979 eine Beratung zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Staatlichen Kontrollinstitut für Seren und Impfstoffe statt. Bei dieser hatte Oberdoerster Schubert massiv belastet: „Der Umstand, daß nach Ablehnung der Freigabe der Chargen 06 und 07 das von beiden Spendern stammende Plasma in den Chargen 08 bis 14 eingesetzt und die Chargen 06 und 07 zur Charge 15 umgearbeitet wurden, spräche für eine bewußte Missachtung der Pflicht, Hepatitisübertragungen durch Anwendung des Präparates zu vermeiden.“169 Ein Zusammentreffen zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Leiter des Bezirksinstituts für Blutspende- und Transfusionswesen Magdeburg fand am 13. Juni 1979 statt. Auf dieser Zusammenkunft sollte unter anderem die Verständlichkeit des Gutachtens geprüft werden.170 Der hallische Staatsanwalt hatte dabei die Information erhalten, dass eine Kommission berufen worden sei, die nie getagt habe. Zudem sollten am 1. Juli 1978 Hepatitisrichtlinien in Kraft treten, die bisher aufgrund von Einwänden nicht verabschiedet worden waren.171

Neben diesen Treffen stellte das Staatliche Kontrollinstitut für Seren und Impfstoffe der Staatsanwaltschaft schriftliches Beweismaterial zur Verfügung.172 Im Gegenzug erhielten die Gutachter von der Generalstaatsanwaltschaft die Protokolle der ersten Befragungen, die am 29. und 30. Mai 1979 stattfanden. Verbunden war dies mit der Bitte, auf „die von den Befragten vorgetragenen Argumente (…) einzugehen.“173 Die Generalstaatsanwaltschaft machte deutlich, dass es darum ging, dass die „Argumente der Verdächtigen bei der Erarbeitung des Gutachtens Berücksichtigung finden konnten.“174 Den Gutachtern wurde zudem die Möglichkeit eingeräumt, an den Vernehmungen teilzunehmen. Die Staatsanwaltschaft sah die Teilnahme sogar als erforderlich an.175

Bei den ersten Befragungen der beiden Angezeigten Ende Mai 1979 waren der zuständige Staatsanwalt aus Halle (Saale) und ein Oberleutnant der Kriminalpolizei anwesend. Schubert wurde damit konfrontiert, dass Mecklinger Anzeige wegen Verdacht des Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz gegen ihn erstattet hatte. Während der ersten Befragung ging es zunächst um die Produktion des Anti-D-Immunglobulins. Die Jahresproduktion in Halle (Saale) war mit 20.000 Ampullen geplant worden und hatte durch Rationalisierungsmaßnahmen auf 24.500 Ampullen gesteigert werden können. Am 1. Januar 1978 standen dem Institut nur noch etwa 6,5 Liter Ausgangsmaterial unterschiedlicher Qualität zur Verfügung. Schubert gab an, dass er wegen der geplanten Verlagerung der Produktion einen „gewissen Vorrat schaffen“ wollte, „um diese drohende Lücke so klein wie möglich zu halten.“176 Doch der Bestand hatte sich zwischen dem 1. Januar 1978 und dem 1. Januar 1979 von 10.000 auf ca. 8.000 Ampullen verringert. Die weiteren Fragen betrafen die Ereignisse des Jahres 1978 und kreisten insbesondere um die Informationen aus Neubrandenburg. Schubert wusste nicht mehr, wann ihn der Ärztliche Direktor des Bezirksinstituts Neubrandenburg angerufen hatte. Dieser habe ihm mitgeteilt, dass die beiden Spender „leicht ikterisch erkrankt“ seien und sich in stationärer Behandlung befänden.177 Schubert behauptete, „auf mehrfache telefonische Rückfragen“ immer wieder die Antwort erhalten zu haben, „daß man offensichtlich in der Klinik selbst nicht recht wußte, worum es sich handelt.“178 Der ermittelnde Staatsanwalt hatte neben dieser Aussage handschriftlich „Lüge“ vermerkt und gefragt, warum Schubert sich nicht selbst bei der Klinik über die Diagnose erkundigt hatte. Dieser verteidigte sich damit, dass es unüblich sei, den Auskünften anderer Kollegen nicht zu vertrauen. Er selbst habe die Erkrankung nicht für eine Virushepatitis gehalten und sich in dieser Annahme durch die negativen Testergebnisse bestätigt gesehen. Das Blut der Antigenspenderin und der Plasmaspender sei „mit erheblich empfindlicheren Tests untersucht“ worden, als normalerweise bei Blutspendern üblich.179 Zudem schätzte er „die Kontrollinstitute generell als übervorsichtig ein“ und die Vernichtung der Chargen hätte einen Verlust von 3.000 Ampullen bedeutet.180

Am 30. Mai 1979 wurde der seit 1973 amtierende Leiter der Technischen Kontrollorganisation im Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) befragt. Noch vor der Prüfung der Chargen hatte er von Schubert erfahren, „daß ein Spender mit Symptomen einer Hepatitis erkrankt war.“181 Er gab an, die Chargen 6 und 7 entsprechend der Gütevorschrift geprüft und die Untersuchungsergebnisse auf dem Begleitschreiben vermerkt zu haben. Diese bezogen sich auf Hepatitis B und das Ergebnis war negativ. Der Leiter der Technischen Kontrollorganisation hatte erst später erfahren, dass die Untersuchung der Spender in Neubrandenburg lückenhaft erfolgt war und nicht den gesetzlichen Vorgaben entsprach. Erst nach dem Vorfall habe es ein Rundschreiben der Vorsitzenden der Fachkommission gegeben. In diesem war festgelegt, dass jeder Ärztliche Direktor einer Blutspendeeinrichtung mit seiner Unterschrift bestätigen sollte, dass die Untersuchungen gemäß der Richtlinie Nummer 1 erfolgt waren. Trotz der Ablehnung der Chargen durch das Kontrollinstitut hatte er sich auf Schubert verlassen, den er für „absolut kompetend [sic!]“ hielt.182

Die Befragung des Leiters der Technischen Kontrollorganisation hatte dem Staatsanwalt offenbar dazu gedient, die Verhältnisse im Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) besser einzuschätzen. Der Staatsanwalt aus Halle (Saale) bemerkte hierzu gegenüber der Generalstaatsanwaltschaft in Berlin: Insbesondere aus der Befragung des Leiters der Technischen Kontrollorganisation „wird die Situation, wie sie am halleschen Institut bestand, klar. Dr. Schubert war die Kapazität, für jeden der Verantwortlichen eine Autorität. Sein Wort galt. Der TKO-Leiter (…) hat offensichtlich stets die Meinung seines Direktors geteilt. (…) [Er] räumte ein, dass er die Chargen entsprechend den Gütevorschriften, die er selbst mit erarbeitet hat, geprüft habe.“183 Die Befragung Schuberts war für den Staatsanwalt schwierig. Denn zum einen waren die Fragen gemäß den Absprachen eher allgemein gehalten. Dies sah er als Hindernis, da sich Schubert in viele wissenschaftliche Details verliere, sofern man ihm keine konkreten Fragen stelle. Zudem war dieser aufgrund seiner Tätigkeit als Gutachter auf dem Gebiet des Strafrechts bewandert und hatte die Durchführungsbestimmungen zum Arzneimittelgesetz selbst mit erarbeitet. Zur Verteidigung habe Schubert die bereits bekannte Aussage vorgebracht, dass Immunglobulin-Fraktionen hepatitissicher seien. Schubert habe betont, dass er die 3.000 Ampullen auch leicht hätte vernichten lassen können. Da er kein Risiko sah, ließ er diese öffnen und weiteren Prüfungen unterziehen. Zur Befragung Schuberts vermerkte der ermittelnde Staatsanwalt: „Ich kann es heute noch nicht belegen, ich glaube aber fast, daß es Dr. Schubert auch um eine Prestigefrage geht.“184 Die Befragung musste allerdings aufgrund des gesundheitlichen Zustandes von Schubert nach anderthalb Stunden abgebrochen werden. Der Staatsanwalt ging davon aus, dass „das zwischen uns vereinbarte Ziel der Befragung erreicht“ worden war.185 Falls die Generalstaatsanwaltschaft weitere Aktivitäten bis zum Eingang des Gutachtens für erforderlich halte, werde er diese selbstverständlich realisieren.186

 

Schubert und der Leiter der Technischen Kontrollorganisation befanden sich zunächst noch im Stadium der Anzeigenprüfung und sollten deshalb auf Anweisung des Generalstaatsanwalts in Absprache mit dem Ministerium des Innern „vorsichtig“ vernommen werden. Dies hing offenbar auch mit dem Zustand von Schubert zusammen, der sowohl körperlich als auch psychisch angeschlagen war. Die Abteilung III der Generalstaatsanwaltschaft aus Berlin hatte dem Staatsanwalt in Halle (Saale) am 23. Mai 1979 mitgeteilt, dass Schubert „außerordentlich depressiv“ sei.187

Am 1. Juni 1979 hatte sich der Bezirksarzt von Halle (Saale) bei dem ermittelnden Staatsanwalt erkundigt, ob es aus strafrechtlicher Sicht Einwände gegen eine Tätigkeit Schuberts „in nicht verantwortlicher Position“ gebe.188 „Der nervliche Zustand des Dr. Schubert“ mache dies erforderlich.189 Der Staatsanwalt teilte daraufhin mit, dass das Anzeigenprüfungsverfahren einer Tätigkeit nicht entgegenstehe, hielt diese aber aufgrund von Schuberts Gesundheitszustand nicht für empfehlenswert. Nach einer Rücksprache mit der Generalstaatsanwaltschaft gab der hallische Staatsanwalt grünes Licht: „Die Zentrale sieht keine Einwände gegen einen Einsatz des Dr. Schubert.“190 Dessen Zustand blieb kritisch und war sogar Mitgliedern des Politbüros der SED bekannt. Denn in Halle (Saale) hatte der Bezirksstaatsanwalt den SED-Bezirkssekretär darüber informiert, „daß sich Dr. Schubert mit Selbstmordabsichten trägt, weil er seit Januar 1979 beurlaubt und ohne Arbeit ist.“191 Dies hatte ihm der Nachbar von Schubert mitgeteilt, der das Bezirksgericht leitete.192

Das Ministerium für Staatssicherheit hatte hingegen andere Informationen. Dort hatte man durch den Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) mit dem Decknamen „Dr. Förster“ erfahren, dass Schubert ein Gespräch mit dem „BA“ geführt habe, womit möglicherweise der Bezirksarzt gemeint war.193 Dieser habe Schubert versichert, dass er straffrei bleiben werde und die „gesamte Angelegenheit sich zu seinen Gunsten entscheiden wird.“ Der Inoffizielle Mitarbeiter „Dr. Förster“ kritisierte daraufhin, dass Schubert sich nun wieder „erhaben“ zeige und davon überzeugt sei, das Institut weiter leiten zu können. Der Bericht machte außerdem deutlich, dass Schubert sich als Opfer sah, dem etwas unterstellt werden sollte. Er machte hierfür leitende Mitarbeiter verantwortlich.194 Ob diese im Ministerium für Gesundheitswesen oder der Bezirksverwaltung zu finden waren, lässt sich dem Bericht nicht entnehmen.

Am 11. Juni 1979 wandte sich Schubert mit einem Schreiben an den ermittelnden Staatsanwalt von Halle (Saale), in dem er noch einmal Argumente für sein Handeln vorbrachte. Er hatte bei der ersten Befragung am 29. Mai 1979 um einen Abbruch des Gesprächs gebeten, da er vor allem der Protokollformulierung nicht mehr folgen konnte. Der zuständige Hauptmann hatte ihm am Tag nach der Befragung das Protokoll zur Unterschrift vorgelegt. Darin fehlten seiner Ansicht nach „gewichtige Argumente zur Frage, warum ich eine abweichende Auffassung gegenüber SKISI [Staatliches Kontrollinstitut für Seren und Impfstoffe] vertreten habe.“195 Der Hauptmann hatte das Protokoll nicht geändert, sondern Schubert auf folgende Befragungen vertröstet. Schubert versuchte nun auf diesem Weg, das Protokoll zu vervollständigen. Er verwies auf eine 1969 in der DDR durchgeführte Studie mit 3.000 Verlaufskontrollen, welche die Hepatitissicherheit von Fraktionierungen belegt habe. Er behauptete zudem, dass die Gütevorschrift übererfüllt worden sei, da die Neubrandenburger Spender mit Methoden untersucht worden waren, die normalerweise nicht angewendet werden würden. Gleichzeitig ging er auf die fraktionierte Probecharge ein, die vorher stark Australia-antigenhaltiges Plasma enthalten habe und nach der Fraktionierung nur noch im Radio-Immun-Assay schwach positiv gewesen sei. Hierbei habe es sich um das konzentrierte Endprodukt gehandelt, das noch verdünnt werden musste. Normalerweise werde eine Verdünnung von zehn zu vier angewendet, bei einer Verdünnung von zehn zu sieben gebe es „evtl. noch eine Virämie, jedoch keine manifeste Erkrankung.“196 Auch dies sei internationale Ansicht. Schubert war zudem bekannt, dass in Amerika posttransfusionelle Hepatitis zu 75 % als Hepatitis Non-A-Non-B angesehen werde. Er hegte schon seit seiner Dissertation „Vorbehalte“ gegenüber „Veröffentlichungen aus kapitalistischen Ländern“, da diese „oft durch die Industrie stimuliert“ seien.197 Im Fall der Hepatitis Non-A-Non-B biete beispielsweise die Firma Cutter ein „Cutterglobulin“ an, um das Risiko einer Übertragung zu senken. In der DDR sei bisher noch kein Fall dieser Hepatitisform durch Transfusion bekannt geworden.198

Der ermittelnde Staatsanwalt antwortete Schubert am 19. Juni 1979, dass er ihm während der Befragung am 29. Mai versichert habe, dass die Staatsanwaltschaft alle Argumente sorgfältig prüfen werde. Das Schreiben hatte er zu den Unterlagen genommen und den Sachverständigen zur Kenntnis gegeben. Gleichzeitig kündigte er an, dass weitere „Befragungen/Vernehmungen“ voraussichtlich in der Woche vom 2. bis zum 6. Juli 1979 stattfinden würden.199