Vertuschter Skandal

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1 Auftreten von Hepatitiserkrankungen nach der Anti-D-Immunprophylaxe und die Suche nach den Verantwortlichen
1.1 Hintergründe der Erkrankungen und erste Ermittlungen

1.1.1 Die Ereignisse 1978: Erkrankung der Spender und Anti-D-Produktion

Am 17. April 1978 erhielt der Leiter des Bezirksinstituts für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale), Wolfgang Schubert, einen Anruf des Ärztlichen Direktors des Bezirksinstituts für Blutspende- und Transfusionswesen Neubrandenburg. Dieser teilte Schubert mit, dass zwei Spender, deren Blut zur Produktion von Anti-D-Immunglobulin an das Institut in Halle (Saale) geliefert worden war, möglicherweise an Hepatitis erkrankt waren. Bei den beiden Spendern handelte es sich um einen Mann und eine Frau.38

Der Ärztliche Direktor des Bezirksinstituts Neubrandenburg hatte selbst erst an diesem Tag von der Oberschwester und dem Oberarzt erfahren, dass sich mehrere Spender mit Symptomen einer Hepatitis im Bezirkskrankenhaus befanden.39 Insgesamt handelte es sich um fünf Personen. Die Plasmaspender waren vor ihrer Spende mit den Erythrozyten einer Antigen-Spenderin immunisiert worden. In Neubrandenburg waren aufgrund des Ausfalls einer langjährigen Spenderin die Erythrozyten einer anderen Spenderin verwendet worden.40 Diese „Boosterung mit einem möglicherweise infektiösen Blut“ hatte bereits am 23. Februar 1978 stattgefunden.41 Das Blut der zwei Spender war dem Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) im März 1978 zugegangen. Auf dem Lieferblatt war nachträglich notiert worden, dass am 17. April 1978 eine Meldung an Schubert erfolgt war, dass die gelieferten Proben unter „Hepatitis-Verdacht“ standen.42 Das Material der drei anderen erkrankten Spender war zeitgleich an das Staatliche Institut für Immunpräparate und Nährmedien (SIFIN) versandt worden.43 Diese Plasmen waren nicht für die Produktion in Frage gekommen, „da sie einen spezifischen Titer aufwiesen, der für die Herstellung des Human-Immunglobulin-Anti-D zu niedrig war.“44 Auch das Staatliche Institut für Immunpräparate und Nährmedien hatte am 17. April 1978 eine entsprechende Meldung erhalten.45 Die Oberschwester des Neubrandenburger Bezirksinstituts sagte später aus, dass sie dem Ärztlichen Direktor anhand der Speditionskarte mitgeteilt habe, wohin die Plasmen gegangen waren. Daraufhin hatte dieser zunächst mit dem Institut für Immunpräparate und Nährmedien und anschließend mit dem Bezirksinstitut in Halle (Saale) telefoniert.46

Schnell bestand im Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen Neubrandenburg der Verdacht, dass die Erythrozytenspenderin die Ursache für die Erkrankungen war.47 Der Oberarzt und Leiter der Abteilung Blutgruppenseren hatte diese am 17. April 1978 in das Bezirkskrankenhaus zur Leberbiopsie überwiesen. Verbunden war dies mit dem Hinweis, dass die Übertragung des Erythrozytensediments der Spenderin vermutlich bei fünf Personen eine Hepatitis ausgelöst hatte. Die Erythrozytenspenderin hatte um Weihnachten 1977 über Appetitlosigkeit und Völlegefühl mit Schmerzen unter dem rechten Rippenbogen geklagt. Die Leber war „tastbar“ und „druckschmerzhaft“ gewesen.48

Die Erkrankung der anderen Spender war schon einige Tage, bevor der Ärztliche Direktor informiert worden war, im Bezirksinstitut Neubrandenburg bekannt geworden. Denn bereits am 8. und 10. April 1978 waren die beiden Spender, deren Plasma nach Halle (Saale) gegangen war, in das Bezirkskrankenhaus Neubrandenburg eingeliefert worden. Der Oberarzt des Bezirksinstituts für Blutspende- und Transfusionswesen Neubrandenburg hatte kurz darauf die telefonische Information von dort erhalten, dass beide aufgrund einer infektiösen Erkrankung aufgenommen worden waren. Dabei habe der Oberarzt des Bezirkskrankenhauses „möglicherweise“ von einem Verdacht auf Hepatitis gesprochen und auf einen „Zusammenhang zwischen der Spendertätigkeit dieser beiden Personen und ihrer Erkrankung“ hingewiesen.49 Daraufhin waren die anderen Spender in das Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen bestellt worden. Der dortige Oberarzt hatte sie persönlich untersucht, ihnen Blut abnehmen lassen und sie anschließend in das Bezirkskrankenhaus eingewiesen. Ihm war schnell klar geworden, dass entweder das Blut der Antigen-Spenderin oder eine Infektion durch eine „andere Kontaktperson, die alle 5 gemeinsam hatten“ die Ursache gewesen war. In späteren Zeugenvernehmungen konnte er sich nicht mehr daran erinnern, ob er vor dem 17. April 1978 mit dem Ärztlichen Direktor darüber gesprochen hatte.50 Die Oberschwester des Bezirksinstituts in Neubrandenburg gab später an, dass sich die anderen Spender nach eigenen Aussagen nicht krank gefühlt hätten.51 In der akuten Erkrankungsphase hatten die Tests erhöhte Serum-Glutamat-Pyruvat-Transaminase-Werte (SGPT-Werte) ergeben.52 Der Serum-Glutamat-Pyruvat-Transaminase-Wert bezieht sich auf ein Leberenzym, dessen erhöhte Konzentration im Blut auf eine Schädigung der Leber hinweisen kann. Das Institut in Neubrandenburg hatte die Spenderplasmen auf HBs-Antigen, also das Hepatitis-B-Virus, testen lassen. Da der Antigennachweis „mit keiner Methode gesichert“ werden konnte, hatte der Ärztliche Direktor des Neubrandenburger Instituts gegenüber der Kreisärztin darauf hingewiesen, dass er von einer Hepatitis A ausging.53 Der Oberarzt des Bezirksinstituts behauptete später allerdings, dass er und der Ärztliche Direktor „von Anfang an alle 3 Hepatitisformen in Erwägung gezogen“ hätten. Er betonte in diesem Kontext auch, dass ein negatives Ergebnis der Untersuchungen auf Hepatitis B „nicht zur Verarbeitung der als infektiös gemeldeten Plasmen der Spender hätte führen dürfen.“54

Doch dies war bereits geschehen, denn das Plasma war in Halle (Saale) schon zu zwei Chargen, die mit einer fortlaufenden Nummerierung versehen wurden (60378 und 70478),55 verarbeitet worden.56 Eine Charge umfasste etwa 1.000 Ampullen. Schubert gab später an, dass aufgrund der unterschiedlichen Qualität das Plasma von etwa zehn Spendern miteinander verarbeitet werden müsse. „Global“ könne man davon ausgehen, dass in einer Charge ein Zehntel des Plasmas der erkrankten Spender verarbeitet wurde.57

Zum Zeitpunkt des Anrufs aus Neubrandenburg war noch alles unter Verschluss. Schubert ließ das Material sofort durch eine Mitarbeiterin sperren.58 Außerdem rief er unverzüglich das Institut für Impfstoffe Dessau an und sandte diesem zwei Ampullen der Chargen 6 und 7 mit der Bitte zu, diese im Radio-Immun-Assay (RIA) auf das HBs-Antigen, den Nachweis auf das Hepatitis-B-Virus, zu testen. Gleichzeitig hatte er das Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen Neubrandenburg gebeten, per Eilpost drei Proben nach Dessau zu schicken.59 Dies war noch am 17. April 1978 geschehen. Der Ärztliche Direktor des Neubrandenburger Instituts bezog sich auf Schuberts Anruf in Dessau und bat darum, drei Seren auf HBs-Antigen im Radio-Immun-Assay zu testen. Es handelte sich dabei um Seren der beiden Spender, die nach Halle (Saale) gegangen waren, sowie das Serum der Antigen-Spenderin. Daneben waren auch Proben der drei anderen Spender und der ursprünglichen Antigen-Spenderin, die wegen einer nicht näher benannten Erkrankung ausgefallen war, an das Institut für Impfstoffe gegangen. Insgesamt hatte dieses sieben Proben aus Neubrandenburg erhalten. Der Ärztliche Direktor des Neubrandenburger Bezirksinstituts bat darum, die anderen Proben ebenfalls zu untersuchen, „da hierbei unter Umständen versicherungsrechtliche Fragen relevant werden können.“60 Dieser Hinweis hatte den Hintergrund, dass eine Schadensregulierung erfolgen sollte. Es war vorgesehen, den entstandenen Schaden nach der „Verordnung über die Erweiterung des Versicherungsschutzes bei Unfällen in Ausübung gesellschaftlicher, kultureller oder sportlicher Tätigkeiten“ vom 11. April 1973 zu entschädigen.61

Neben dem Material der erkrankten Plasma- und Erythrozytenspender hatte das Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) weiteres Material testen lassen. Denn Schubert ging davon aus, dass man Hepatitisviren durch eine Fraktionierung von Plasma eliminieren konnte. Zu diesem Zweck hatte er Material, welches Australia-Antigen enthielt, ein Protein, das auf das Hepatitis-B-Virus hinweist, vor und nach der Fraktionierung testen lassen. Dabei war das Plasma normaler Blutspender verwendet worden, welche aufgrund eines hohen HBs-Gehaltes im Blut für die klinische Verwendung ausgeschieden waren.62 Die Leiterin der Laborabteilung des Bezirksinstituts Halle (Saale) schickte Ende April 1978 weitere Proben an das Institut für Impfstoffe Dessau. Es handelte sich hierbei um zwei Ampullen Plasma, welches für die Fraktionierung des Gammaglobulins (IgG) verwendet worden war, und zwei Ampullen einprozentige Gammaglobulin-Lösung. Die Leiterin der Laborabteilung bat darum, die Proben auf „Australia-Antigen“ zu prüfen.63

 

Die ersten Testergebnisse lagen im Institut für Impfstoffe Dessau am 27. April 1978 vor.64 Damit waren beide Proben der verdächtigen Chargen 6 und 7 negativ getestet worden. Die vier weiteren übersandten Ampullen aus dem Bezirksinstitut Halle (Saale) waren hingegen alle positiv getestet worden. Die Werte der vom Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen Neubrandenburg übersandten Proben variierten stark.65 Der zuständige Mitarbeiter des Instituts für Impfstoffe teilte Schubert am 16. Mai 1978 die Ergebnisse der Testung mittels Radio-Immun-Assay (RIA) mit. Hierbei bezog er sich auf alle Proben, die er sowohl aus Halle (Saale) als auch aus Neubrandenburg erhalten hatte. Die Proben, die dem Institut für Impfstoffe nachträglich aus Halle (Saale) zugesandt wurden, waren positiv, die Ampullen der Chargen 6 und 7 negativ getestet worden. Auch die Spender waren in der Liste aufgeführt. Alle sieben Proben aus Neubrandenburg waren negativ auf Hepatitis B getestet worden.66

Das Neubrandenburger Institut hatte zudem Proben der Spenderplasmen an das Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen in Magdeburg und das Bezirkshygieneinstitut in Erfurt geschickt. Diese wurden in unterschiedlichen Testverfahren geprüft und wiesen ebenfalls negative Testergebnisse auf.67 Auch das Bezirksinstitut in Halle (Saale) hatte den im Magdeburger Bezirksinstitut möglichen Hämagglutinationstest genutzt. Mit diesem waren das Ausgangsplasma und die Lösung auf HBs-Antigen getestet worden. Die Ergebnisse trafen am 8. Mai 1978 in Halle (Saale) ein. Das Ausgangsplasma war positiv getestet worden, die Gammaglobulin-Lösung negativ.68

Die Leiterin der Laborabteilung des Bezirksinstituts für Blutspende- und Transfusionswesen in Halle (Saale) hatte zudem zwei Proben an das Staatliche Institut für Seren und Impfstoffe in Berlin geschickt. Sie bat einen dortigen Mitarbeiter „wie telefonisch abgesprochen“ um eine Kontrolluntersuchung. Geprüft werden sollte das HBsAg-positive Plasma, das zur Fraktionierung verwendet worden war, ebenso wie die einprozentige Lösung.69 Die Tests mittels einer Überwanderungselektrophorese ergaben, dass das Ausgangsplasma positiv und die Lösung negativ getestet worden war. Dieses Ergebnis teilte das Kontrollinstitut am 31. Mai 1978 Schubert mit.70

Insgesamt hatten also mehrere Tests mit drei verschiedenen Prüfmethoden stattgefunden. Dabei waren in allen Verfahren die Proben der Spender negativ auf Antikörper gegen das Hepatitis-B-Virus getestet worden. Gleiches galt für die Proben der beiden in Halle (Saale) angefertigten Chargen, die ebenfalls keinen Nachweis auf das Hepatitis-B-Virus ergaben. Gleichzeitig war in den unterschiedlichen Prüfverfahren das Ergebnis der Fraktionierung eines Australia-antigenhaltigen Ausgangsplasmas getestet worden. Das Ausgangsmaterial enthielt laut aller Tests das HBs-Antigen. Bei der geprüften Lösung, die nach der Fraktionierung entstanden war, ergaben die Tests unterschiedliche Ergebnisse. Während die Testverfahren aus Magdeburg und dem Kontrollinstitut Berlin ein negatives Ergebnis erzielt hatten, war das Material im Institut für Impfstoffe Dessau positiv getestet worden, enthielt damit also noch Antikörper gegen das Hepatitis-B-Virus.

Im Mai 1978 lagen die Ergebnisse der Leberbiopsien vor. Diese hatten bei den zwei Spendern, deren Proben in Halle (Saale) verarbeitet worden waren, eine akute Virushepatitis ergeben. Am 23. Mai 1978 übersandte der Oberarzt der Medizinischen Klinik Neubrandenburg die Befunde an das dortige Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen. Bei beiden Spendern war der Verlauf komplikationslos und ohne klinische Testsymptome. Beide waren im April 1978 erkrankt und wiesen ähnliche Symptome auf, unter anderem Bauchschmerzen, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Kopfschmerzen und eine Gelbfärbung.71 Auch die anderen drei Spender waren an einer akuten Virushepatitis erkrankt. Dies hatte die Klinik für Innere Medizin Neubrandenburg der zuständigen Kreisärztin bereits am 8. Mai 1978 mitgeteilt.72

Am 1. Juni 1978 unterrichtete Schubert das Staatliche Institut für Seren und Impfstoffe von den Testergebnissen der Spenderplasmen. Er ging zudem auf das Plasma ein, das nach der Fraktionierung getestet worden war. Einzig im RIA-Test sei dieses „schwächer positiv als das Ausgangsmaterial“ gewesen.73 Nur falls man diesem Testverfahren „einen absoluten Beweiswert und keine Unspezifität“ zuordne, könne widerlegt werden, dass das Fraktionierungsverfahren „hepatitissicher“ sei.74 Schubert sah daher gegen die Verwendung der Chargen keinen Einwand. Doch die stellvertretende Direktorin des Kontrollinstituts erteilte ihm eine klare Absage. Nach Rücksprache mit dem Direktor des Kontrollinstituts, Friedrich Oberdoerster, sei entschieden worden, die beiden Chargen nicht für den Verkehr freizugeben. Sie lehnte einen Einsatz klar ab: „In Anbetracht der Unsicherheit bezüglich der klaren Aussage zur Diagnose Hepatitis, wie Sie sie hier auch im letzten Absatz Ihres Schreibens formuliert haben, sind wir der Meinung, daß wir in dieser Angelegenheit kein Risiko eingehen können.“75

Doch Schubert gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. Er teilte einige Tage später mit, dass er auch aus medizinischer Sicht keinen Grund gegen den Einsatz dieser Chargen sehe. Schubert wies darauf hin, dass sein Institut seit zehn Jahren Anti-D-Immunglobulin herstelle, ohne dass jemals eine Hepatitisübertragung beobachtet worden sei. Die Plasmafraktionierung sei eingeführt worden, um das Hepatitisrisiko so weit wie möglich zu senken. Gleichzeitig unterrichtete er das Kontrollinstitut davon, noch eine weitere Charge „einbeziehen“ zu wollen: Es handelte sich hierbei um die Charge 90677, welche „leicht pyrogenhaltig“ sei. Dies hielt Schubert für „klinisch irrelevant“, da das Präparat in fünf Milliliter aufgelöst werde.76 Schubert machte der Stellvertretenden Direktorin des Kontrollinstituts deutlich, dass das Material knapp sei und mit einem Engpass gerechnet werden müsse. Denn die Herstellung von Immunglobulin-Anti-D im Bezirksinstitut in Halle (Saale) sollte aufgrund von Baumaßnahmen 1979 eingestellt werden. Stattdessen war vorgesehen, dass das Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen in Neubrandenburg die Produktion übernahm. Doch das Ministerium für Gesundheitswesen hatte telefonisch mitgeteilt, dass sich die Übernahme verzögere, da das Bezirkskrankenhaus nicht planmäßig fertiggestellt werde. Die Räume, die für die Produktionsübergabe benötigt wurden, hatte das Zentrallabor des Bezirkskrankenhauses belegt. Schubert führte an, dass damit 1979/80 eine „Produktionslücke“ entstehe, welche nur durch Importe aus dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet (NSW) gedeckt werden könne, wenn „die Durchführung der Rh-Prophylaxe nicht zeitweilig unterbrochen werden soll.“ Er bat das Kontrollinstitut aus diesem Grund darum, den Standpunkt noch einmal zu überdenken. Eine Durchschrift des Schreibens hatte er an die Stellvertreterin des Ministers für Gesundheitswesen gesandt, „wegen der großen Bedeutung, die dem Problem an sich zukommt.“77

Daraufhin antwortete Oberdoerster persönlich. Er teilte mit, dass Schubert selbst in seinem Brief vom 1. Juli 1978 in Hinsicht auf das Hepatitis-Risiko zum Ausdruck gebracht habe, dass ein Risiko nicht auszuschließen sei und lehnte eine Verwendung der Chargen ab. Auch die von Schubert angesprochene Charge 90677 sei nach erneuter Prüfung „nach wie vor pyrogenhaltig und damit für die klinische Anwendung nicht zu verantworten.“78 Zu den von Schubert angesprochenen Problemen drohte Oberdoerster offen: „Die Bemerkung im letzten Abschnitt ihres Briefes vom 23. 6. 1978 bitte ich, gründlich zu überdenken. Sie sind als Produzent des registrierten Präparats entsprechend den arzneimittelgesetzlichen Bestimmungen verantwortlich für die Lieferung einer ausreichenden Menge in der geforderten Qualität und auch dafür, daß es ohne Unterbrechung zur Verfügung steht. Sie meinen doch wohl nicht ernsthaft, daß im Falle, daß Sie dieser Verantwortung nicht nachkommen, die Rh-Prophylaxe in der DDR zeitweilig unterbrochen werden könnte. Einer derartigen Entscheidung kann unter keinen Umständen entsprochen werden. Das gleiche trifft auf den von Ihnen angedeuteten NSW [Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet]-Import zu, wenn ein Präparat für einen Produzenten in der DDR registriert ist.“79 Das Kontrollinstitut hatte damit eine Verwendung des Plasmas offen abgelehnt. Gleichzeitig setzte Oberdoerster Schubert unter Druck, dass er als Produzent eine durchgängige Prophylaxe zu sichern habe. Damit befand sich Schubert in einer Zwickmühle, denn Oberdoerster hatte auch die von ihm vorgeschlagenen Importe deutlich verneint. Schubert traf daraufhin eine folgenschwere Entscheidung, deren Auswirkungen sich um den Jahreswechsel 1978/1979 zeigen sollten.

1.1.2 Massenhaftes Auftreten von Erkrankungen in allen Bezirken der DDR im Frühjahr 1979

Am 29. Dezember 1979 erhielt das Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) „eine erste, sehr vorsichtig gehaltene Information“ von der Berliner Infektionsklinik Prenzlauer Berg.80 Diese teilte mit, dass möglicherweise im Zusammenhang mit der Gabe von Anti-D-Immunglobulin sechs Fälle von Gelbsucht aufgetreten seien. Weitere Meldungen folgten. Am 11. Januar 1979 handelte es sich in Berlin bereits um zehn Erkrankungen. Nach Angaben des zuständigen Oberarztes der Infektionsklinik Prenzlauer Berg war das Krankheitsbild trotz einer Leberpunktion unklar. Er ging daher von einer „Non-A-non-B-Hepatitis“ aus.81 Dieser Meldung aus Berlin folgten weitere Mitteilungen über sechs erkrankte Patientinnen in Wismar am 9. Januar 1979 und in Leipzig am 10. Januar 1979. Am 11. Januar 1979 waren zudem vier Erkrankungen aus Allstedt im Kreis Sangerhausen gemeldet worden.82

Daraufhin hatte der Bezirksarzt die Kreisärzte angewiesen, die Chargen zurückzuziehen. Das Staatliche Kontrollinstitut für Seren und Impfstoffe war informiert worden, und alle Bezirksinstitute und Bezirksblutspendezentralen wurden zur Rücksendung der Chargen aufgefordert. Zudem war das Bezirkshygieneinstitut informiert worden, welches bei der Ermittlung der Ursachen auch nach der Gabe von Anti-D-Immunglobulin forschen sollte. Der zuständige Leiter der Infektionsabteilung im Ministerium für Gesundheitswesen der DDR war gebeten worden, diese Maßnahmen für alle Bezirkshygieneinstitute anzuordnen.83 Die Infektionsklinik Prenzlauer Berg hatte zudem am 8. Januar 1979 das Staatliche Kontrollinstitut für Seren und Impfstoffe in Berlin benachrichtigt, das die verwendeten Chargen am 12. Januar 1979 gesperrt hatte.84 Einen Tag zuvor hatte der epidemiologische Wochenbericht der Staatlichen Hygieneinspektion über das Auftreten von Hepatitiserkrankungen nach der Anti-D-Immunprophylaxe in verschiedenen Bezirken berichtet.85

 

Aufgrund dieser Ereignisse sandte Schubert am 5. Januar 1979 erneut Proben an das Institut für Impfstoffe Dessau mit der Bitte um Testung auf HBs-Antigen im Radio-Immun-Assay-Verfahren. Es handelte sich dabei um je eine Ampulle der Chargen 8, 10, 11, 14 und 15 aus 1978.86 Am 8. Februar 1979 lag das Ergebnis vor, das in allen fünf Fällen negativ war.87 Handschriftlich war neben den Chargen 10 und 14 „infektiös“ eingefügt worden. Der zuständige Mitarbeiter gab später in den Vernehmungen an, dass er diesen handschriftlichen Vermerk erst nachträglich, „nach späteren Informationen“ eingefügt habe.88

Der Bezirksarzt von Halle (Saale) wies am 9. Januar 1979 die Kreisärzte fernschriftlich an, die Chargen 8, 10, 11, 14 und 15 zu sperren und an den Produktionsbetrieb zurückzuschicken. Schubert rechtfertigte daraufhin gegenüber dem Bezirksarzt die Verwendung des verdächtigen Materials. Als Grund nannte er den „chronischen Mangel an Ausgangsmaterial“ und die negativen Testergebnisse, aufgrund derer eine Hepatitis B habe ausgeschlossen werden können.89 Zudem habe eine Verdünnung des „suspekten Materials“ die Infektiosität senken können.90 Seit zehn Jahren sei keine Erkrankung bei Anwendung des Präparats bekannt geworden, obwohl die Spender lediglich in der Überwanderungselektrophorese auf Australia-Antigen untersucht worden seien. Schubert verteidigte seine Entscheidung mit der Situation im Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale). Im Projektierungsvertrag war eine Erweiterung des Bezirksinstituts in Halle (Saale) bis zum 30. September 1978 festgelegt worden. Noch 1978 sollte mit den Bauarbeiten begonnen werden. Das Bezirksinstitut Neubrandenburg habe die geplante Übernahme der Anti-D-Immunglobulin-Produktion „immer weiter hinausgeschoben, so daß eine Produktionslücke unvermeidlich erschien.“91 Schubert gab an, dass sich an dieser problematischen Situation bislang nichts geändert habe.

Der Ärztliche Direktor des Bezirksinstituts Neubrandenburg hatte währenddessen Präparate der Leberbiopsien der Spender an das Referenzzentrum für Lebererkrankungen bei der Gesellschaft für Pathologie der DDR übersandt. Er erhielt am 23. Januar 1979 von dort die Mitteilung, dass in allen fünf Fällen die in Neubrandenburg gestellte Diagnose bestätigt werden könne. Es läge „die typische Befundkombination einer akuten Hepatitis vom Typ der Virushepatitis“ vor.92 Die Fälle zeigten untereinander nur geringe Abweichungen. Der Leiter des Referenzzentrums gab an, dass es im akuten Stadium der Hepatitis nicht möglich sei, eine Differenzierung zwischen den verschiedenen Formen vorzunehmen. Daher könne „von morphologischer Seite“ auch nicht Stellung dazu bezogen werden, ob eine Hepatitis A oder Non-A-Non-B vorliege.93

Mitte Januar 1979 fand eine Betriebskontrolle im Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) statt, die von Mitarbeitern des Staatlichen Kontrollinstituts für Seren und Impfstoffe und des Instituts für Arzneimittel (IfAR) durchgeführt wurde. Die Kontrolle des Waschprozesses ergab, dass jede Charge, mit Ausnahme der Charge 160978, die Waschflüssigkeit der jeweils vorhergehenden Charge enthielt. Gleichzeitig versuchten die Kontrolleure herauszufinden, welche Spender mehrfach in den verdächtigen Chargen auftauchten. Insgesamt waren in den Chargen 6 bis 23 „Plasmen von 35 Spendern bei der Herstellung zu Fraktionierung gelangt.“94 In Bezug auf die beiden Spender aus Neubrandenburg wurde festgehalten, dass diese im Jahr 1978 mit den Symptomen einer Hepatitis erkrankt waren. Offenbar verfügten die Kontrolleure über wenige Informationen, denn der Name einer Spenderin wurde im Protokoll falsch geschrieben und die Angaben zur Erkrankung waren ungenau. Vermerkt war hierzu, dass genauere Angaben zum Zeitpunkt der Kontrolle nicht vorlagen. Die Kontrolleure konnten sich lediglich auf den Brief von Schubert an das Staatliche Kontrollinstitut von Juni 1978 berufen. Das Plasma der Spenderin aus Neubrandenburg war in den Chargen 6 bis 12 sowie in der Charge 15 verarbeitet worden, das Plasma des Spenders in den Chargen 10 bis 14. Die Kontrolle ergab, dass das Endprodukt der Gefriertrocknung, das sogenannte Lyophilisat der beiden Chargen, zur Charge 15 umgearbeitet worden und hierbei auch die Waschflüssigkeit der Charge 14 verwendet worden war. Bis zum 15. Januar 1979 waren den Kontrolleuren insgesamt 26 Erkrankungen infolge des Einsatzes der Chargen 8 bis 15 bekannt geworden.95 Bei der Kontrolle wurden zudem sechs weitere verdächtige Spender ermittelt, deren Plasma in die Chargen eingegangen war. Dabei berücksichtigte diese Aufteilung nicht die aus den jeweils vorangehenden Chargen verwendete Waschflüssigkeit.96 Die Kontrolleure stellten außerdem fest, dass die Charge 16 der Charge 90677 entsprach, welche das Kontrollinstitut „wegen pyrogener Verunreinigungen“ nicht freigegeben hatte.97 Falls alle acht Spender als verdächtig eingestuft würden, blieben letztlich nur die Chargen 16 und 21 als unverdächtig übrig.

Die Kontrolleure beanstandeten mehrere Punkte, unter anderem, dass das Plasma der Spender zum Einsatz gekommen war, nachdem deren Erkrankung schon bekannt war. Ein weiterer Punkt betraf die Umarbeitung der Chargen 6 und 7 zur Charge 15, ohne dass mit dem Kontrollinstitut Rücksprache gehalten worden war. Zudem wurde beanstandet, dass bei den Anträgen auf Freigabe der Chargen 15 und 16 keine Hinweise auf die inzwischen erfolgte Umarbeitung beider Chargen gegeben worden waren.98

Die Kontrolleure schlugen vor, neben den bereits gesperrten Chargen 8, 10, 11, 14 und 15 auch die Chargen 9, 12 und 13 zu sperren. Für die Zukunft sollte ein Vorrat von Anti-D-Immunglobulin angelegt werden. Hierdurch sollten die Plasmen erst nach einer Inkubationszeit von vier bis sechs Monaten und nach erneuter Untersuchung der Spender zum Einsatz kommen. Die gleichen Maßnahmen waren für Antigen-Spender vorgesehen. Der Kreis der acht verdächtigen Spender sollte eingegrenzt werden. Hierzu wurde vorgeschlagen, deren Laborbefunde und Anamnesen durch das Ministerium für Gesundheitswesen anzufordern und dem Kontrollinstitut zu übermitteln.99 Zudem erhielt das Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) mehrere Auflagen. Schubert und der zuständige Leiter der Technischen Kontrollorganisation (TKO) hatten in voneinander unabhängigen Darlegungen Stellung zu den Beanstandungen zu nehmen. Das Plasma von Spendern, bei denen nach der Spende eine Hepatitis aufgetreten war oder bei denen der Verdacht auf eine vor der Spende erfolgte Hepatitisinfektion bestand, sollte nicht verwendet werden. Bereits verwendetes Plasma und die daraus folgenden Zwischenprodukte sollten in diesem Fall vernichtet werden. Über aus diesem Plasma hergestellte, bereits im Verkehr befindliche Produkte waren beide Kontrollinstanzen unverzüglich zu informieren. Ferner sollte das Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) die vorgeschlagenen Veränderungen auf ihre Durchführbarkeit prüfen.100

Schubert erklärte anschließend in seiner Stellungnahme den Einsatz der beiden Spenderplasmen „retrospektiv“ zu einer „Fehlentscheidung“, die „nur aus der damaligen Situation verständlich“ werde.101 Seine Entscheidung rechtfertigte er damit, dass er das Plasma in unterschiedlichen Verfahren testen lassen und das Fraktionierungsverfahren als „hepatitissicher“ eingeschätzt habe.102 Die aus Neubrandenburg übermittelten Befunde hätten nicht eindeutig für eine Virushepatitis gesprochen. Der Verlauf der Erkrankungen sei „praktisch anikterisch“ gewesen und selbst in der später übermittelten Epikrise werde eine Cytomegalie, eine Erkrankung mit dem Cytomegalovirus, einem Herpesvirus, nicht ausgeschlossen. Schubert behauptete zudem, von der Erkrankung der anderen drei Spender in Neubrandenburg nichts gewusst zu haben. Er habe seine Entscheidung auch aufgrund des knappen und sich stetig verringernden Ausgangsmaterials getroffen. Anfang des Jahres 1978 hatte dem produzierenden Institut in Halle (Saale) nur noch eine Menge von 6,7 Litern zur Verfügung gestanden, welche dem Bedarf eines Monats entsprach. Daher hatte Schubert „auf der Direktoren-Konferenz in Frankfurt (Oder) einen erneuten Appell an die Kollegen gerichtet, die Zulieferung zu steigern.“103 Trotzdem sei von den Instituten aus Cottbus und Frankfurt (Oder) und von der Blutspendezentrale Dessau 1978 kein Ausgangsmaterial geliefert worden.

Schubert berichtete über neue Aufgaben des Bezirksinstituts für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) im Zusammenhang mit dem Ausbau des Klinikums Kröllwitz zu einem Herzoperations- und Nierentransplantationszentrum. Aufgrund von Verzögerungen beim Bau des Bezirkskrankenhauses in Neubrandenburg habe sich die geplante Übernahme der Produktion nicht umgehend realisieren lassen. Daher habe er sich bemüht, den Bestand an Anti-D-Immunglobulin zu erhöhen. Dies war trotz Planübererfüllung nicht gelungen. Die Bestände waren von etwa 10.000 Ampullen am 1. Januar 1978 auf 8.000 Ampullen am 1. Januar 1979 zurückgegangen. Die Sperrung der Chargen war hierbei noch gar nicht berücksichtigt. Zu der empfohlenen Vorratsbildung gab er daher an, dass diese höchstens für zwei Monate möglich sei. Zwar habe sich die Zulieferung verbessert, aber ein Vorrat für sechs Monate sei nicht realisierbar. Schubert wies in seiner Stellungnahme außerdem darauf hin, dass ihm keine Bestimmungen bekannt seien, nach der Umarbeitungen von Chargen besonders berichtspflichtig seien.104

Auch der Leiter der Technischen Kontrollorganisation nahm Stellung zu den Beanstandungen. Er bestritt, von der Verwendung des verdächtigen Plasmas bei der Erstellung der Chargen 8 bis 14 gewusst zu haben.105 Die Entscheidung über den Einsatz des Ausgangsmaterials unterliege allein dem für die Herstellung verantwortlichen Leiter. Der Leiter der Technischen Kontrollorganisation gab an, trotz der Vorbehalte des Staatlichen Kontrollinstituts von Schuberts Argumenten für eine Umarbeitung der Plasmen überzeugt gewesen zu sein. Er berief sich zudem auf § 19 der Siebenten Durchführungsbestimmung zum Arzneimittelgesetz.106 Danach entscheide der für die Herstellung verantwortliche Leiter über die Verwendung der Arzneimittel, die wegen der Prüfung nicht für den Verkehr freigegeben worden waren. Abschließend erklärte er, dass ihm erst „nach Auswertung aller inzwischen bekannt gewordenen Fakten das verhängnisvolle Zusammenwirken von Irrtümern und daraus resultierender Fehlhandlungen sowie das Ausmaß der Folgen bekannt geworden“ sei.107