Das Blutsiegel von Isfadah (Teil 2)

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Ammon und Fanida

Die Kinder waren den Männern, die ihren Vater getötet und ihre Mutter entführt hatten, einen ganzen Tag lang gefolgt. Sie liefen einfach immer weiter in die Richtung, in der die Reiter verschwunden waren. Am Abend entschieden sie sich dafür, unter einem Felsvorsprung die Nacht abzuwarten. Bei Tagesanbruch setzten sie ihren Weg fort. Als sie etwas später einen Fuhrmann trafen, fragte ihn Ammon nach der Richtung, in der sie nach Isfadah gelangen würden. Als der Mann die beiden mit gerunzelter Stirn ansah und fragte, warum zwei einsame kleine Kinder dies wissen wollten, log er ihn an. „Mein Vater belädt nicht weit von hier den Wagen. Er meinte, ich soll nicht herumstehen, sondern an der Straße nach jemandem Ausschau halten, der uns den Weg weisen kann.“

Der Mann schüttelte missmutig den Kopf. „Nicht zu fassen! Richte deinem Vater aus, dass er in Zukunft besser auf euch achten soll. Es verschwinden immer wieder Knaben spurlos.“ Er wies in Richtung Süden. „Nach Isfadah geht es da lang. Seht jetzt zu, dass ihr zurück zu eurem Vater kommt!“

Ammon bedankte sich artig und der Mann fuhr davon. Also liefen sie weiter die Straße entlang. Fanida hielt ihre Puppe die ganze Zeit über fest an die kleine Brust gepresst und versicherte ihr ununterbrochen, dass alles wieder gut werden würde.

Sie versteckten sich im Gebüsch, sobald ihnen ein Wagen entgegenkam. In den ersten beiden Tagen hatten sie Glück und fanden ein paar Beeren am Wegesrand und auch frisches Wasser in einem Bach. Doch dann wurde der Hunger so unerträglich, dass sie sich an die Straße setzten und auf ein Wunder warteten.

Besagtes Wunder vermuteten sie, gegen Mittag des dritten Tages, gefunden zu haben. Es kam in Form eines stattlichen Fuhrwerks, auf dem ein Mann und eine Frau mittleren Alters saßen und welches direkt vor ihnen anhielt.

„Was macht ihr denn hier, ihr kleinen Strolche? Haben euch eure Eltern ausgesetzt?“, fragte der Mann mit einem breiten Lächeln.

Ammon entschloss sich diesmal dazu, die Wahrheit zu sagen: „Wir sind allein. Böse Männer haben unser Haus überfallen und unseren Vater ermordet. Dann haben sie unsere Mutter mitgenommen. Sie wollten sie nach Isfadah bringen. Das habe ich deutlich gehört.“

„Und jetzt wollt ihr Zwerge den ganzen Weg nach Isfadah zu Fuß gehen, um sie zu finden, wie?“ Der Mann musterte die Kinder voller Zweifel. Dann warf er seiner Frau ein verschwörerisches Lächeln zu und fuhr fort: „Passt auf! Isfadah liegt an unserem Weg. Zu Fuß würde es Wochen dauern, bis ihr da ankommt, wenn ihr überhaupt ankommen würdet. Die Straßen sind in diesen Zeiten nicht mehr sicher für Kinder. Ihr dürft bei uns mitfahren! Wenn ihr euch ein wenig nützlich macht, könnt ihr euch eure Mahlzeiten verdienen.“

Ammon und Fanida sahen sich an. Ein kurzes hoffnungsvolles Lächeln huschte über die traurigen Gesichter. „Das würdet Ihr tun?“, fragte Ammon ungläubig.

„Sehe ich aus wie ein Lügner?“, entgegnete der Mann mit gespielter Entrüstung.

„Nein, nein, mein Herr!“ Ammon sah ihn aus erschrockenen Augen an. „Ich würde niemals ...“

Der Mann lachte schallend. „Schon gut, Kleiner. Ich habe dich nur genarrt. Natürlich würden wir das tun.“ Er wies mit einer einladenden Geste hinter sich auf den Wagen. „Also hopp, hopp! Springt auf und macht es euch so bequem wie möglich.“

Die Kinder ließen sich das nicht zweimal sagen und kamen der Aufforderung unverzüglich nach.

Unter der Plane des Wagens befanden sich ein paar Kisten, zwei Fässer und einige Decken.

Die Frau des Mannes kletterte zu ihnen nach hinten, während er die Pferde antrieb.

Sie war rundlich, hatte ein freundliches Gesicht und braunes Haar, das sie zu einem Knoten gesteckt trug. Sie suchte in einer der Kisten herum und förderte etwas Brot zutage. Sie teilte es und gab jedem von ihnen ein Stück. Sie bedankten sich höflich und begannen es gierig hinunterzuschlingen, während die Frau ihnen lächelnd dabei zusah.

„Ihr könnt euch die Decken hier nehmen, wenn ihr wollt, und einstweilen etwas schlafen. Wir wecken euch dann, sobald wir unser Lager errichten.“ Sie machte Anstalten, wieder nach vorn auf den Kutschbock zurückzukehren, hielt dann aber inne. „Tut mir leid, was mit euren Eltern passiert ist. Ihr armen Kinder habt viel durchmachen müssen. Ihr könnt uns vertrauen. Keine Angst! Wir passen auf euch auf. Ach, und noch etwas: Ihr könnt uns gern Torbald und Matilda nennen.“ Sie zwinkerte ihnen aufmunternd zu und ließ sie allein.

Ammon baute aus den Decken ein weiches Lager und sie ließen sich, dicht aneinander gekuschelt, darauf nieder.

Zum ersten Mal, seit jener furchtbaren Nacht, fühlten sie sich sicher und schliefen ein.

Sie erwachten, als das Rumpeln des Wagens verstummte. Die Sonne stand schon tief und die Nacht meldete ihr Kommen an. Matilda öffnete die Plane auf der Rückseite und forderte sie auf, nach draußen zu kommen.

„Sagt mal, wie heißt ihr zwei eigentlich?“, fragte sie freundlich.

„Ich bin Ammon und das ist meine Schwester Fanida.“

„Gut! Also, Ammon, du hilfst Torbald bei den Pferden. Fanida, du kannst ein paar dürre Äste suchen, damit wir ein warmes Feuer machen können. Aber bleib in der Nähe, Mädchen!“

Die Kinder halfen bereitwillig bei all den ihnen aufgetragenen Tätigkeiten. Als es dunkel war, saßen sie gemeinsam am Feuer und aßen Bohnen mit etwas Speck. Ammon und Fanida waren dankbar, für die ihnen entgegengebrachte Fürsorge. Torbald und Malilda schliefen unter freiem Himmel, während die Kinder die Nacht im Wagen verbrachten.

Am Morgen gab es etwas Haferbrei. Dann räumten sie alles zusammen und setzten ihre Reise fort.

So verliefen auch die folgenden Tage. Sie kamen Isfadah immer näher und die Kinder hofften, dort bald ihre Mutter zu finden. Sie hatte ihnen Geschichten über die weiße Stadt erzählt. Von den vielen Menschen, die dort lebten - viel mehr als in Limera. Und von dem Schloss, in dem der König des Landes wohnte. Am spannendsten waren jedoch die Geschichten über den Tempel, der hoch über allem thronte und das Symbol der Stadt war. In diesem Tempel lebten die Wächterinnen des Blutes, die über die königliche Familie wachten und sehr weise waren. Die Oberste von ihnen war eine Frau namens Sina. Und diese war die klügste und großmütigste Frau, die ihrer Mutter je begegnet war. Wenn sie in Isfadah ankamen, wollte Ammon mit Fanida sofort zu diesem Tempel gehen und um Hilfe bitten. Dann würden sie ihre Mutter befreien und alles wieder gut werden, sofern das ohne den geliebten Vater möglich war.

Etwa eine Tagesreise von Isfadah entfernt, gelangten sie an eine Taverne. Sie betraten den Schankraum und Torbald und Matilda sprachen mit dem Wirt. Dann bekamen sie jeder eine Portion Eier mit Speck und gesüßtes Zitronenwasser. Voller Appetit schlangen sie es hinunter. Als sie müde wurden, brachte Matilda die Kinder in eines der Zimmer und sie teilten sich ein Bett.

Am Morgen erwachte Fanida allein und erschrak, als Ammon nicht auf ihre Rufe antwortete. Als sie aufstand und hinunter in die Schankstube ging, war dort zunächst niemand zu sehen. Sie lief hinaus, um nach Matilda und Torbald zu sehen, konnte jedoch weder sie noch ihren Wagen finden. Als sie wieder hineinging, kam ihr eine Frau entgegen, die in jeder Hand einen Eimer Wasser trug.

„Endlich aufgewacht? Geh in die Küche und nimm dir ein Stück Brot. Dann kommst du sofort zu mir und hilfst mir!“ Sie ließ den Blick auf dem kleinen Mädchen ruhen und sagte mehr zu sich selbst: „Zu viel bist du sicher noch nicht zu gebrauchen, aber ein paar Handlangerdienste wirst du schon übernehmen können. Ich werde aus dir schon herausholen, was geht.“

„Wo ist mein Bruder?“, fragte Fanida ängstlich.

„Der ist mit den Leuten unterwegs, die euch hergebracht haben. Du sollst hier auf ihn warten, hat er gesagt. Und so lange wirst du dich nützlich machen. Also los jetzt, sonst mache ich dir Beine!“

Fanida spürte plötzlich Angst in sich aufsteigen. „Wann kommen sie denn wieder?“, fragte sie den Tränen nahe.

„Woher soll ich das denn wissen? In ein paar Tagen, Wochen oder Monaten ... Keine Ahnung.“ Sie kam auf Fanida zu, nahm ihr die Puppe aus dem Arm und sagte: „Wenn du dich ordentlich anstellst, bekommst du sie heute Abend wieder.“

Fanida sah, wie sie die Puppe auf das oberste Brett eines Regals setzte und die Treppe emporstieg. Das Mädchen versuchte tapfer zu sein, konnte aber nicht verhindern, dass dicke Tränen über ihre Wangen rollten. Sie ging in die Küche, die direkt hinter dem Tresen lag, und nahm sich einen Kanten trockenen Brotes vom Vortag. Als sie es heruntergewürgt hatte, stieg Fanida ebenfalls die Treppe hinauf und suchte nach der Frau. Sie fand sie schließlich in jenem Zimmer, in dem sie mit Ammon die Nacht verbracht hatte. Tapfer versuchte das Mädchen alle Aufgaben zu erfüllen, die ihr erteilt wurden. Eimer tragen, Nachttöpfe ausleeren, Waschschüsseln auswischen und frisches Wasser in den dazugehörigen Krug füllen. Nichts davon konnte sie zufriedenstellend tun. Sie war einfach noch zu klein.

Ab Mittag half Fanida in der Küche. Die Frau, laut eigener Aussage die Wirtin, musste spätestens jetzt einsehen, dass das Mädchen auch zum Karotten schneiden noch zu jung war, da es sich böse in den Daumen stach. „Du bist wirklich zu nichts nutze!“, schimpfte sie.

Als der Wirt später in die Schankstube kam, stellte er sich hinter sein Weib, das sich bereitwillig von ihm umarmen ließ, während er sie zu Fanida befragte.

Sie hielt mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg: „Sie wird uns nur Unkosten bringen! Es dauert mindestens zwei Jahre, bis sie etwas Sinnvolles tun kann. Ich habe es dir gleich gesagt. Wir brauchen ein älteres Mädchen! Sieh zu, dass du sie wieder loswirst!“

 

Der Wirt sah Fanida stirnrunzelnd an. Dabei fasste er gedankenverloren an den Busen seiner Frau, der sich deutlich unter dem Stoff ihrer Bluse abzeichneten. Als er nicht antwortete, schlug sie ihm auf die Hände und entzog ihm ihre pralle Weiblichkeit. „Kümmere dich darum! Eher brauchst du mir nicht mehr unter den Rock zu kriechen.“ Damit ließ sie ihn stehen und Fanida war mit dem Mann allein.

Der zuckte die Schultern. „Tut mir leid Mädchen, aber sie hat mich in der Hand. Ich werde dich zu Madame Letizia bringen müssen. Vielleicht tauscht sie dich ja gegen ein älteres Mädchen.“

„Ich muss auf meinen Bruder warten“, sagte Fanida bestimmt.

Doch er schüttelte mit dem Kopf. „Nicht hier! Wir werden ihm sagen, wo er dich findet.“ Sein Blick wanderte über ihren Kopf hinweg zu dem Regal, in dem die Puppe saß. „Ist das nicht deine?“, fragte er. Sie nickte zaghaft. Er griff nach der Puppe und drückte sie Fanida in den Arm. „Hier, mehr kann ich für dich leider nicht tun.“

Sie presste die Puppe an ihr Herz und hockte sich weinend in die Ecke. „Ich will zu meiner Mama!“, flüstere sie immer wieder mit bebender Stimme.

Einige Zeit später saß sie neben ihm auf dem Wagen und blickte abwesend geradeaus. Inzwischen war es ihr beinahe egal, wohin er sie brachte. Das Einzige, was ihr jetzt wichtig erschien, war, dass Ammon sie dort so schnell wie möglich finden würde. Dann wären sie wenigstens wieder zusammen und konnten gemeinsam nach ihrer Mutter suchen.

Nach einer Stunde Fahrt hielten sie am Rande einer kleinen Stadt, vor einem großen Haus. Es machte einen recht düsteren Eindruck und erschien Fanida wie das Haus eines dicken mürrischen Riesen. Ihr schauderte bei dem Gedanken, sie müsse hierbleiben.

Der Wirt klopfte an die massive Holztür und bei jedem Schlag, den der Eisenring gegen das Portal machte, zuckte sie zusammen. Nach einer Weile des Wartens öffnete sich ein kleines Fenster, das in die Tür eingelassen war und ein strenges faltiges Gesicht erschien darin.

„Was wollt ihr hier?“, fragte die Frau dahinter mit krächzender Stimme.

„Ich will Madame Letizia sprechen. Sieh zu, dass du Beine bekommst!“

Die Alte machte ein unzufriedenes Geräusch und knallte das Fenster zu. Wieder zuckte Fanida zusammen. Vorsichtig zupfte sie am Ärmel des Wirtes und sah ihn ängstlich an. „Ich will hier nicht bleiben“, flehte sie leise.

Er sah sie mitleidig an. „Tut mir wirklich leid, meine Kleine. Wenn du ein paar Jahre älter wärst, hätte dich mein Weib auch nicht fortgeschickt. Aber sie braucht dringend eine helfende Hand und kein kleines Mädchen, das ihr noch zusätzlich Arbeit macht. Und ich brauche ein zufriedenes Weib“, fügte er stöhnend mehr zu sich selbst hinzu. „Aber du wirst sehen, Madame Letizia ist recht umgänglich. Lass dich nicht von dem grässlichen Weib von eben erschrecken! Die zischt nur, beißt aber nicht.“

In diesem Moment öffnete sich die Tür und die knurrige Alte erschien in ihrer buckligen Gänze. „Sie erwartet euch“, sagte sie knapp und ging voran. Fanida blickte mit weit geöffneten Augen auf den Buckel der Frau, der jetzt wie ein Felsen vor ihr aufragte. So mussten die bösen Meerhexen aussehen, vor denen sie ihr Vater stets gewarnt hatte. Er sagte immer: „Bleib vom Wasser weg, solange du nicht gut schwimmen kannst! Unter Wasser hocken die buckligen Meerhexen und fangen alle, die nicht vor ihnen davonschwimmen können. Sie selbst haben keine Flossen und jagen darum voller Neid Nixen, die zu nahe ans Ufer kommen, um sich zu sonnen. Ab und zu erwischen sie dabei auch mal einen Menschen. Also hüte dich.“ Bei dem Gedanken an ihren Vater wurde Fanidas kleines Herz noch schwerer.

Sie gelangten in ein großes dunkles Treppenhaus. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider. Nur ab und zu kamen ihnen ein paar kleine Mädchen entgegen. Sie schwiegen und hielten züchtig die Köpfe gesenkt. Nur kurz warfen sie einen Blick auf Fanida und ihren Begleiter. Eine breite Treppe führte in das obere Stockwerk. Schließlich gelangten sie an eine Tür, in die kunstvolle Efeuranken eingeschnitzt waren. Die Alte drückte die Klinke hinunter und öffnete einen Spalt breit. „Hier sind sie“, teilte sie der Person hinter der Tür mit. Sie trat beiseite und der Wirt schob das Mädchen vor sich her, in den Raum hinein.

Fanida fielen zuerst die vielen Bücher ins Auge, die in deckenhohen Regalen die Wände füllten. Hinter einem massiven Tisch, auf dem sich etliche Dokumente stapelten, saß eine Frau. Sie war schon etwas älter und eine beeindruckende Erscheinung. Sie trug das Haar straff zu einem Knoten zusammengebunden und wirkte dadurch strenger, als es ihre freundlichen Augen vermuten ließen.

„Simon, seid gegrüßt! Wir haben uns aber lange nicht mehr gesehen“, stellte sie distanziert freundlich fest.

Der Wirt wirkte in der Nähe von Madame Letizia spürbar eingeschüchtert. Er trat nervös von einem Bein aufs andere. „Madame, ich bin gekommen, um Euch zu bitten, dieses Mädchen hier aufzunehmen. Im Gegenzug würde ich ein älteres Kind aus Eurem Haus bei mir anstellen. Wie Ihr vielleicht wisst, ist das letzte Mädchen, dass ich vor zehn Jahren, nach dem Tod meiner damaligen Frau, bei mir aufnahm, inzwischen mein neues Weib geworden. Sie erwartet in fünf Monaten ein Kind und braucht Hilfe. Doch diese Kleine hier ist einfach noch zu jung, um sie bei den anfallenden Arbeiten zu unterstützen. Sie ist eine Waise und wurde von Durchreisenden einfach zurückgelassen.“

„Das ist eine Lüge!“, rief Fanida entsetzt. „Meine Mama lebt noch und ich werde sie, gemeinsam mit meinem Bruder Ammon, von den bösen Männern befreien. Ammon ist nicht weg! Er kommt bald zurück und holt mich. Das hat die Frau gesagt.“ Verzweifelt schlug sie mit den kleinen Fäusten auf den Wirt ein, der all seine Kraft und Geschicklichkeit aufwenden musste, um sie zu bändigen. Hilfesuchend blickte er zu Madame Letizia.

Die erhob sich nun und trat an die beiden heran. Sie zog Fanida mit einem festen Griff von dem hilflosen Mann fort und sah ihr eindringlich in die Augen. „Hör zu, Mädchen! Keiner hier will dir etwas Böses. Du bekommst ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Tagsüber helfen die Kleinen bei der Obstlese in den Plantagen der Umgebung und die Großen gehen gehobeneren Tätigkeiten nach. Die Mädchen aus diesem Haus haben später gute Chancen, eine ordentliche Stellung zu finden. Du könntest es also durchaus schlechter treffen.“

„Ich gehe mit Ammon nach Isfadah!“, schrie Fanida jetzt schrill und hielt sich dabei die Ohren zu. Sie wollte kein Wort mehr hören.

Doch Madame Letizia ließ sich nicht einschüchtern. Sie rüttelte das Mädchen kurz und sagte laut: „Du wirst dich jetzt beruhigen, meine Kleine. Hör zu! Wenn dein Bruder oder deine Mutter jemals hier auftauchen, dann kannst du mit ihnen gehen. Sie werden dich finden, wenn sie nach dir suchen. Du hast allein keine Chance. Also sei vernünftig und verhalte dich, wie es sich für ein anständiges kleines Mädchen gehört.“ Sie hatte die nötige Strenge in ihre Stimme gelegt, um sich Respekt zu verschaffen. Solche Ausbrüche waren in diesem Hause nicht gestattet. Den Mädchen drohten Strafen, wenn sie sich ungebührlich verhielten. Die Disziplin und der Respekt mussten gewahrt werden. „Es wird dir hier besser gehen als allein auf der Straße. Solange du hier bist, sind alle anderen Mädchen deine Schwestern und meine Erzieherinnen und ich werden die Rolle deiner Eltern übernehmen. Also füge dich in diese Ordnung ein und du wirst es gut haben. Simon und seine Frau werden jeden herschicken, der nach dir fragt. Das versichere ich dir.“

Fanida wischte sich mit ihrem Ärmel das Rotznäschen ab und blickte beide prüfend an. Der Wirt lächelte sie unsicher an und nickte zur Bestätigung. Madame sah ihr streng aber offen ins Gesicht. Fanida kam zu der Einsicht, dass es keinen Sinn hatte, sich zu widersetzen. Sie ließ die Schultern sinken und fügte sich ihrem Schicksal. Was danach besprochen wurde, nahm sie nur am Rande wahr.

Am Ende des Tages saß sie in einem großen Schlafsaal, zwischen zahlreichen anderen Mädchen, auf einem wackligen Holzbett und verweigerte jedes Wort. Fest hielt sie ihre Puppe an die Brust gepresst und wendete all ihre Kraft dazu auf, nicht zu weinen. Sie nahm sich vor, solange zu schweigen, bis Ammon sie hier abholen würde. Sie vertraute ihrem Bruder voll und ganz und war sicher: Wenn er die Möglichkeit hätte, würde er zu ihr kommen.

Die anderen Mädchen, zwischen drei und sechs Jahren, gaben irgendwann ihre Versuche auf, sie zum Reden zu bringen. Bald hatte sich die Aufregung um die neue 'Schwester' gelegt und es kehrte wieder Ruhe ein. Eine Erzieherin, die aussah wie eine abgemagerte Ratte mit Dutt, ging steif durch die Bettreihen und sagte schnarrend: „Gute Nacht! Und dass ihr mir ja in den Betten bleibt! Morgen erwartet euch ein anstrengender Tag in den südlichen Orangenplantagen. Da möchte ich keine Klagen hören!“ Sie verließ den Saal und nahm mit ihrer Laterne die einzige spärliche Lichtquelle mit sich.

Nach einer Weile hatten sich Fanidas Augen an die Dunkelheit gewöhnt und sie konnte im Mondlicht wieder schwache Umrisse erkennen. Sie lauschte auf die Geräusche ringsum. Seltsamerweise schienen sich alle an die Anweisung der Rattenfrau zu halten. Hier und da knarrte ein Bett, als das ein oder andere Mädchen nach der richtigen Schlafposition suchte. Dann wurde es still und nur noch das gleichmäßige Atmen aus den kleinen Nasen und Mündern war zu hören. Jetzt endlich konnte Fanida dem Druck in ihrem Inneren nachgeben und leise in ihr Kissen weinen. Noch vor ein paar Tagen war ihre Welt so heil und wunderschön gewesen. Und nun? Wie eine eiskalte Hand aus Stahl umfassten Einsamkeit und Trauer ihr kleines Kinderherz.

Plötzlich spürte sie, wie sich ihre Bettdecke hob und das Mädchen aus dem Bett neben ihr darunter schlüpfte. Fanida hatte sie vorhin kurz bemerkt. Sie war etwas älter als sie selbst und hatte große blaue Augen und blondes Haar. „Ich bin Noria. Hab keine Angst. Es ist hier nicht so schlimm, wie es scheint. Allerdings musst du dich an die Gesetzte dieses Hauses halten. Sonst kann es auch mal sehr unangenehm für dich werden. Aber Schläge verteilen sie nur selten.“ Das etwa sechsjährige Mädchen zog Fanida schützend in ihre Arme und die ließ es sich bereitwillig gefallen. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, dass sie Noria vertrauen konnte.

Die fuhr flüsternd mit ihren Erklärungen fort: „Bei Sonnenaufgang müssen wir aufstehen. Dann gibt es Frühstück - meist Haferbrei. Und dann gehen wir auf den Gütern des Umlandes Obst pflücken. Die Älteren klettern in die Bäume und die Kleinen, so wie du, sammeln das Fallobst auf und pflücken die unteren Äste ab. Dafür wird Madame Letizia bezahlt und kann uns ernähren und einkleiden. Du siehst, es hätte uns schlimmer treffen können. Die Mädchen, die älter als zwölf Jahre sind, finden meist irgendwo eine Stelle als Dienstmädchen. Bis dahin erledigen sie hier im Haus alle anstehenden Arbeiten. Sie kümmern sich ums Waschen, Putzen und Kochen. Sozusagen als Vorbereitung auf ihre Zukunft. Schließlich wollen unsere zukünftigen Brotgeber kein Mädchen haben, das keine Ahnung davon hat, was im Haus zu tun ist. Ich werde in ein paar Monaten sieben, dann ist es bei mir auch so weit, dass ich alles lerne.“ Sie machte eine Pause und schien nachzudenken. „Zugegeben, ich habe ein wenig Angst davor, hier eines Tages wegzugehen, aber ich bin auch ziemlich neugierig auf das Leben draußen.“

Fanida hörte ihr aufmerksam zu. Das Mädchen hatte wirklich eine beruhigende Wirkung auf sie. Plötzlich fühlte sie sich nicht mehr ganz so allein. Vertrauensvoll kuschelte sie sich an die Ältere und schlief schließlich ein.

Sie träumte von ihrer Mutter, die in einem wunderschönen roten Kleid vor ihr stand und sie traurig, aber auch stolz anlächelte. „Fanida, meine Kleine. Ich bin bei dir, immerzu! Hab keine Angst. Alles wird gut. Habe Geduld! Du hast einen langen Weg vor dir und du wirst dabei nicht allein sein. Sie wird dich finden, wenn es an der Zeit ist. Ich liebe dich, meine Kleine. Verzeih mir, dass ich zu schwach war ...!“

„Warte!“, rief Fanida ihr nach, als sich ihre Umrisse zu verzerren begannen. „Bleib da! Bitte!Wer wird mich finden?“ Doch ihr Ruf ging ins Leere und ihre Fragen blieben unbeantwortet.