Die böse Macht

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Mark zuckte unter dem Händedruck – kräftig wie der eines Heizers oder Fuhrmanns – eines mächtigen Weibes in schwarzer Uniform mit kurzem Rock zusammen. Trotz ihres Busens, der einer viktorianischen Bardame Ehre gemacht hätte, war sie eher stämmig als fett, und ihr eisengraues Haar war kurz geschnitten. Sie hatte ein kantiges, strenges, bleiches Gesicht und eine tiefe Stimme. Als einziges Zugeständnis an die Mode hatte sie in gewaltsamer Missachtung der wirklichen Form ihres Mundes ein wenig Lippenstift mehr aufgeschmiert als aufgelegt, und zwischen ihren Zähnen rollte oder kaute sie einen langen schwarzen, nicht angezündeten Stumpen. Wenn sie sprach, nahm sie den Stumpen aus dem Mund, blickte angestrengt auf die Mischung von Lippenstift und Speichel am zerkauten Ende und klemmte ihn dann fester als zuvor zwischen die Zähne. Sie setzte sich ohne Umschweife in einen Sessel, schwang das rechte Bein über eine Armlehne und fixierte Mark mit einem Blick kalter Vertraulichkeit.

3 _______

Schritte hallten auf der anderen Seite der Mauer durch die Stille, dann wurde die Tür geöffnet, und Jane stand einer großen Frau gegenüber, die ungefähr so alt war wie sie selbst. Diese Person musterte sie mit einem durchdringenden, unverbindlichen Blick.

»Wohnt hier eine Miss Ironwood?«, fragte Jane.

»Ja«, sagte die Frau, machte die Tür aber weder weiter auf, noch trat sie zur Seite.

»Ich möchte sie bitte sprechen«, sagte Jane.

»Sind Sie angemeldet?«, fragte die große Frau.

»Nun, eigentlich nicht«, antwortete Jane. »Professor Dimble hat mich hergeschickt. Er kennt Miss Ironwood. Er hat gesagt, ich könnte unangemeldet hierher kommen.«

»Oh, Sie kommen von Professor Dimble, das ist etwas anderes«, sagte die Frau. »Kommen Sie herein. Warten Sie einen Moment, bis ich wieder zugeschlossen habe. So, das wär’s. Dieser Weg ist zu schmal für zwei, Sie müssen also entschuldigen, wenn ich vorangehe.«

Die Frau führte sie einen gepflasterten Weg an einer von Obstbäumen gesäumten Mauer entlang und dann nach links über einen bemoosten Pfad zwischen Reihen von Stachelbeersträuchern hindurch. Dann kam eine kleine Rasenfläche mit einer Schaukel in der Mitte und einem Gewächshaus dahinter. Sie befanden sich in einer Art kleinem Weiler, wie man sie zuweilen in sehr großen Gärten antrifft. Sie gingen eine richtige kleine Straße hinunter zwischen einem Stall und einer Scheune auf der einen und einem zweiten Gewächshaus, einem Schuppen und einem Schweinestall auf der anderen Seite – letzterer bewohnt, wie Jane aus dem Grunzen und dem nicht sehr angenehmen Geruch schloss. Danach führten schmale Pfade durch einen Gemüsegarten, der an einem ziemlich steilen Hang lag, und vorbei an in ihrem Winterkleid ganz starren und stacheligen Rosenstöcken. An einer Stelle gingen sie über einen Pfad, der aus einzelnen Planken bestand. Das erinnerte Jane an irgendetwas. An einen sehr großen Garten wie … wie … ja, nun hatte sie es: wie der Garten in Peter Rabbit. Oder wie der Garten im Rosenroman? Nein, in keiner Weise. Oder wie Klingsors Garten? Oder der Garten in Alice im Wunderland? Oder wie der Garten auf irgendeinem mesopotamischen Zikkurat, auf den manche Leute die Legende vom Paradies zurückführten? Oder einfach wie alle von einer Mauer umgebenen Gärten? Freud hatte gesagt, wir lieben Gärten, weil sie Symbole des weiblichen Körpers seien. Aber das musste ein männlicher Standpunkt sein. In den Träumen von Frauen bedeuteten Gärten sicherlich etwas anderes. Oder vielleicht doch nicht? War es möglich, dass Männer wie Frauen ein Interesse am weiblichen Körper hatten und sogar, auch wenn dies lächerlich klang, auf dieselbe Weise? Ein Satz kam ihr in den Sinn: »Die Schönheit des Weibes ist der Quell der Freude für Weib und Mann, und nicht zufällig ist die Göttin der Liebe älter und stärker als der Gott.« Wo in aller Welt hatte sie das gelesen? Und was für einen schrecklichen Unsinn hatte sie in den letzten paar Minuten gedacht! Sie schüttelte all diese Gedanken über Gärten ab und beschloss, sich zusammenzunehmen. Ein seltsames Gefühl sagte ihr, dass sie sich auf feindlichem oder zumindest fremdem Boden befand und gut daran täte, einen klaren Kopf zu behalten. Fast im gleichen Augenblick traten sie zwischen Rhododendron- und Lorbeerbüschen hindurch ins Freie und gelangten nach ein paar Schritten an eine Regentonne und eine kleine Seitentür in der Längsseite eines großen Hauses. Als sie stehen blieben, wurde oben ein Fenster zugeschlagen.

Minuten später saß Jane in einem großen, spärlich möblierten Raum, der von einem Ofen geheizt wurde. Die blanken Dielenbretter und die über der hüfthohen, dunklen Holztäfelung hellgrau getünchten Wände schufen eine etwas strenge und klösterliche Atmosphäre. Die Schritte der großen Frau verhallten in den Korridoren, und im Raum wurde es sehr still. Gelegentlich hörte man von draußen das raue Krächzen von Krähen. »Nun habe ich mich darauf eingelassen«, dachte Jane. »Ich werde dieser Frau meinen Traum erzählen und mir alle möglichen Fragen gefallen lassen müssen.« Sie hielt sich im Allgemeinen für einen modernen Menschen, der ohne Verlegenheit über alles sprechen konnte. Aber als sie jetzt in diesem Raum saß, sah plötzlich alles ganz anders aus. Alle möglichen geheimen Lücken in ihrem Programm der Offenheit, Dinge, die sie, wie ihr jetzt klar wurde, ausgesondert hatte, über die nicht gesprochen werden durfte, kehrten nun in ihr Bewusstsein zurück. Es war überraschend, dass nur sehr wenige davon mit Sexualität zu tun hatten. »Beim Zahnarzt«, dachte Jane, »gibt es im Wartezimmer wenigstens ein paar Illustrierte.« Sie stand auf und schlug das einzige Buch auf, das auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers lag. Sofort fiel ihr Blick auf die Worte: »Die Schönheit des Weibes ist der Quell der Freude für Weib und Mann, und nicht zufällig ist die Göttin der Liebe älter und stärker als der Gott. Das Begehren der eigenen Schönheit zu begehren ist Liliths Eitelkeit, die Freude an der eigenen Schönheit zu begehren ist Evas Gehorsam. Und in beiden Fällen erlebt die Geliebte durch ihren Geliebten die eigene Herrlichkeit. Wie der Gehorsam die Leiter zur Freude ist, so ist die Demut …«

In diesem Augenblick ging plötzlich die Tür auf. Jane errötete, als sie das Buch schloss und aufblickte. Dasselbe Mädchen, das sie eingelassen hatte, hatte offensichtlich gerade die Tür geöffnet und stand noch immer im Türrahmen. Jane empfand für sie jetzt jene beinahe schon leidenschaftliche Bewunderung, wie Frauen sie häufiger, als man denkt, für andere Frauen empfinden, deren Schönheit von anderer Art ist als die eigene. Es wäre schön, dachte Jane, so zu sein – so gerade, so aufrichtig, so tapfer, so eine geborene Reiterin und so göttlich groß.

»Ist … ist Miss Ironwood zu Hause?«, fragte Jane.

»Sind Sie Mrs. Studdock?«, fragte das Mädchen.

»Ja«, sagte Jane.

»Ich bringe Sie sofort zu ihr. Wir haben Sie erwartet. Mein Name ist Camilla – Camilla Denniston.«

Jane folgte ihr. Die Korridore waren eng und schlicht. Daraus schloss sie, dass sie noch immer im rückwärtigen Teil des Hauses waren und dass, wenn das stimmte, dies ein sehr großes Haus sein musste. Es war ein langer Weg, bis Camilla an eine Tür klopfte und zur Seite trat, um Jane vorbeizulassen, nachdem sie mit leiser, klarer Stimme (wie eine Dienerin, dachte Jane) gesagt hatte: »Sie ist gekommen.« Jane ging hinein, und da saß Miss Ironwood, ganz in Schwarz, die Hände auf den Knien gefaltet, genauso wie Jane sie in ihrem Traum – wenn es ein Traum gewesen war – gesehen hatte.

»Setzen Sie sich, junge Frau«, sagte Miss Ironwood.

Ihre gefalteten Hände waren sehr groß und knochig, aber nicht derb, und selbst wenn sie saß, war Miss Ironwood ungemein groß. Alles an ihr war groß – die Nase, der ernste Mund und die grauen Augen. Sie war eher sechzig als fünfzig. Jane fand die Stimmung im Zimmer unbehaglich.

»Wie heißen Sie, junge Frau?«, sagte Miss Ironwood und griff zu Bleistift und Notizbuch.

»Jane Studdock.«

»Sind Sie verheiratet?«

»Ja.«

»Weiß Ihr Mann, dass Sie zu uns gekommen sind?«

»Nein.«

»Und Ihr Alter, bitte?«

»Dreiundzwanzig.«

»Nun«, sagte Miss Ironwood, »was haben Sie mir zu sagen?«

Jane holte tief Atem. »Ich hatte in letzter Zeit des Öfteren schlechte Träume und fühle mich dadurch niedergeschlagen«, sagte sie.

»Was für Träume waren das?«, fragte Miss Ironwood.

Janes etwas umständliche und unbeholfene Erzählung nahm einige Zeit in Anspruch. Beim Sprechen blickte sie unverwandt auf Miss Ironwoods große Hände, ihr schwarzes Kleid und den Bleistift mit dem Notizbuch. Und darum brach sie auch plötzlich ab. Denn sie sah, wie während ihres Berichtes Miss Ironwoods Hand aufhörte zu schreiben und die Finger den Bleistift umklammerten. Es schienen ungeheuer kräftige Finger zu sein. Sie packten immer fester zu, bis die Knöchel weiß waren und die Adern auf den Handrücken hervortraten; schließlich brachen sie, wie unter dem Einfluss irgendeiner unterdrückten Erregung, den Bleistift entzwei. Da hielt Jane inne und blickte erstaunt zu Miss Ironwood auf. Die großen grauen Augen sahen sie immer noch mit demselben Ausdruck an.

»Bitte fahren Sie fort, junge Frau«, sagte Miss Ironwood.

Jane nahm ihre Geschichte wieder auf. Als sie geendet hatte, stellte Miss Ironwood ihr eine Reihe Fragen. Danach versank sie in ein so langes Schweigen, dass Jane schließlich fragte: »Glauben Sie, dass ich ernstlich krank bin?«

»Sie sind nicht krank«, sagte Miss Ironwood.

»Sie meinen also, es wird vorübergehen?«

»Das kann ich nicht sagen. Aber wahrscheinlich nicht.«

Auf Janes Gesicht malte sich Enttäuschung.

 

»Dann – kann man denn nichts dagegen tun? Es waren schreckliche Träume, furchtbar lebendig, überhaupt nicht wie gewöhnliche Träume.«

»Das verstehe ich gut.«

»Ist es etwas, das nicht geheilt werden kann?«

»Der Grund, weshalb Sie nicht geheilt werden können, ist, dass Sie nicht krank sind.«

»Aber irgendetwas ist nicht in Ordnung. Es ist doch nicht natürlich, solche Träume zu haben.«

Es entstand eine Pause. »Ich denke«, sagte Miss Ironwood, »ich sage Ihnen besser die ganze Wahrheit.«

»Ja, bitte«, sagte Jane gezwungen. Die Worte der Frau hatten sie erschreckt.

»Eines möchte ich noch vorausschicken«, fuhr Miss Ironwood fort. »Sie sind eine wichtigere Person, als Sie selbst glauben.«

Jane sagte nichts, dachte aber bei sich, dass die Frau sie wohl für verrückt hielt und darum auf sie einging.

»Wie war Ihr Mädchenname?«, fragte Miss Ironwood.

»Tudor«, sagte Jane. Bei jedem anderen Anlass hätte sie es eher verlegen gesagt, denn sie war sehr darauf bedacht, sich nicht mit ihren Ahnen zu brüsten.

»Die Warwickshire-Linie der Familie?«

»Ja.«

»Haben Sie jemals das kleine Buch gelesen – es hat nur vierzig Seiten –, das einer Ihrer Vorfahren über die Schlacht von Worcester geschrieben hat?«

»Nein. Vater hatte ein Exemplar davon – ich glaube, er sagte, es sei das einzige. Aber ich habe es nie gelesen. Es ging verloren, als der Haushalt nach seinem Tod aufgelöst wurde.«

»Ihr Vater hat sich geirrt. Es gibt zumindest zwei weitere Exemplare: Eins ist in Amerika, und das andere befindet sich in diesem Haus.«

»Und?«

»Ihr Ahnherr hat eine vollständige und im Großen und Ganzen richtige Schilderung der Schlacht geliefert, und er gibt an, er habe dies noch am Tage der Schlacht niedergeschrieben. Nur war er nicht auf dem Schlachtfeld. Er war zu der Zeit in York.«

Jane konnte nicht recht folgen und sah Miss Ironwood an.

»Wenn das stimmt, was er sagt«, sagte Miss Ironwood, »und wir gehen davon aus, dann hat er das alles geträumt. Verstehen Sie?«

»Er hat von der Schlacht geträumt?«

»Ja. Aber er träumte sie richtig. Er hat in seinem Traum die wirkliche Schlacht gesehen.«

»Ich sehe den Zusammenhang nicht.«

»Das Zweite Gesicht – die Gabe, Wirklichkeit zu träumen – ist manchmal erblich«, sagte Miss Ironwood.

Etwas schien mit Janes Atem nicht zu stimmen. Sie fühlte sich irgendwie verletzt – das war genau das, was sie immer schon gehasst hatte: etwas aus der Vergangenheit, etwas Irrationales und völlig Unerwünschtes, das aus seinem Versteck hervorkroch und sie nun belästigte.

»Kann man es beweisen?«, fragte sie. »Ich meine, wir haben doch nur seine Aussage, nicht wahr?«

»Wir haben Ihre Träume«, sagte Miss Ironwood, und ihre ernste Stimme war streng geworden. War diese alte Frau vielleicht der Meinung, man sollte seine fernen Vorfahren nicht als Lügner bezeichnen?

»Meine Träume?«, fragte Jane etwas scharf.

»Ja.«

»Was soll das heißen?«

»Meiner Meinung nach haben Sie in Ihren Träumen wirkliche Ereignisse gesehen. Sie haben wirklich Alcasan in seiner Todeszelle sitzen sehen; und Sie haben einen Besucher gesehen, den er wirklich hatte.«

»Aber … aber nein, das ist lächerlich!«, sagte Jane. »Dieser Teil war bloßer Zufall. Und der ganze Rest war ein reiner Albtraum. Es war absolut unsinniges Zeug. Er hat ihm wie gesagt den Kopf abgeschraubt. Und dann haben sie diesen grässlichen alten Mann ausgegraben und zum Leben erweckt.«

»Zweifellos gibt es da einige Unklarheiten. Aber meiner Ansicht nach stehen selbst hinter diesen Episoden wirkliche Ereignisse.«

»Ich fürchte, ich glaube nicht an solche Dinge«, sagte Jane kalt.

»Das ist bei Ihrer Erziehung ganz natürlich«, antwortete Miss Ironwood. »Sofern Sie nicht bereits selbst festgestellt haben, dass Sie dazu tendieren, wirkliche Dinge zu träumen.«

Jane dachte an das Buch auf dem Tisch, das sie anscheinend gekannt hatte, ohne es je zuvor gesehen zu haben. Und dann Miss Ironwoods Erscheinung – auch die war ihr bereits bekannt, bevor sie sie mit eigenen Augen gesehen hatte. Dennoch, es war einfach widersinnig.

»Dann können Sie nichts für mich tun?«

»Ich kann Ihnen die Wahrheit sagen«, sagte Miss Ironwood. »Ich habe versucht, es zu tun.«

»Ich meine, können Sie mich nicht befreien – mich heilen?«

»Das Zweite Gesicht ist keine Krankheit.«

»Aber ich will nichts damit zu tun haben«, sagte Jane heftig. »Es muss aufhören. Ich hasse solche Dinge.«

Miss Ironwood sagte nichts.

»Kennen Sie denn nicht jemanden, der dem Einhalt gebieten könnte?« fragte Jane. »Können Sie mir niemanden empfehlen?«

»Ein normaler Psychotherapeut«, sagte Miss Ironwood, »wird davon ausgehen, dass die Albträume bloß Ihr eigenes Unterbewusstsein reflektieren. Er würde versuchen, Sie zu behandeln. Ich weiß nicht, welche Ergebnisse eine Behandlung haben würde, die auf dieser Annahme beruht, aber ich fürchte, die Folgen könnten ernst sein. Und verschwinden würden die Träume mit Sicherheit nicht.«

»Aber was hat das alles zu bedeuten?«, sagte Jane. »Ich will ein normales Leben führen. Ich will meine Arbeit tun. Es ist unerträglich! Warum sollte gerade ich für so etwas Schreckliches auserwählt sein?«

»Die Antwort darauf ist nur viel höheren Mächten als mir bekannt.«

Sie schwiegen. Jane machte eine unbestimmte Geste und sagte verdrießlich: »Nun, wenn Sie nichts für mich tun können, gehe ich wohl besser …« Dann fügte sie unvermittelt hinzu: »Aber woher wissen Sie das alles überhaupt? Ich meine … von welchen wirklichen Geschehnissen sprechen Sie?«

»Ich denke«, erwiderte Miss Ironwood, »dass Sie selbst wahrscheinlich mehr Grund haben, Ihre Träume für wahr zu halten, als Sie mir gegenüber zugeben. Wenn nicht, wird es bald so sein. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Wir wissen, dass Ihre Träume teilweise wahr sind, weil sie Informationen entsprechen, die wir bereits haben. Professor Dimble hat Sie zu uns geschickt, weil er die Bedeutung dieser Träume erkannt hat.«

»Wollen Sie damit sagen, dass er mich hierher geschickt hat, nicht weil er mir helfen wollte, sondern damit ich Ihnen Informationen liefere?«, fragte Jane. Die Vorstellung passte gut zu Dimbles Verhalten, als sie ihm von ihren Träumen erzählt hatte.

»Genau.«

»Ich wollte, ich hätte das etwas eher gewusst«, sagte Jane kalt und stand entschlossen auf, um zu gehen. »Ich fürchte, es handelt sich um ein Missverständnis. Ich hatte gedacht, Professor Dimble wollte mir helfen.«

»Das wollte er auch. Aber er hat versucht, zugleich etwas noch Wichtigeres zu tun.«

»Wahrscheinlich sollte ich dankbar sein, dass man mich überhaupt beachtet hat«, sagte Jane trocken. »Und wie wollte er mir helfen? Vielleicht mit all diesem Zeug?« Der Versuch, beißende Ironie in ihre Stimme zu legen, misslang, als sie diese letzten Worte sagte, und heißer, unverhüllter Zorn schoss wieder in ihr Gesicht. In gewisser Hinsicht war sie sehr jung.

»Junge Frau«, sagte Miss Ironwood, »Sie sind weit davon entfernt, den Ernst dieser Angelegenheit zu begreifen. Was Sie gesehen haben, betrifft etwas, im Vergleich zu dem Ihr und mein Glück und sogar unser beider Leben keinerlei Bedeutung haben. Ich muss Sie bitten, der Situation ins Auge zu sehen. Sie können sich Ihrer Gabe nicht entledigen. Sie können versuchen, sie zu unterdrücken, aber es wird Ihnen nicht gelingen, und Sie werden sich schrecklich fürchten. Sie können Ihre Gabe aber auch uns zur Verfügung stellen. Wenn Sie das tun, werden Sie sich auf lange Sicht viel weniger fürchten müssen, und Sie werden dabei helfen, die Menschheit vor einem sehr großen Unheil zu bewahren. Die dritte Möglichkeit ist, dass Sie jemand anders davon erzählen. Wenn Sie das tun, so muss ich Sie warnen. Sie werden dann mit großer Wahrscheinlichkeit in die Hände anderer Leute fallen, die mindestens so begierig sind wie wir, aus Ihrer Fähigkeit Nutzen zu ziehen, denen Ihr Leben und Ihr Glück aber nicht mehr bedeuten als das Leben und das Glück einer Fliege. Die Menschen, die Sie in Ihren Träumen gesehen haben, sind wirkliche Menschen. Es ist keineswegs unwahrscheinlich, dass sie wissen, dass Sie ihnen unabsichtlich nachspioniert haben. Und wenn das so ist, dann werden sie nicht ruhen, bis sie Sie in ihrer Gewalt haben. Ich würde Ihnen, auch um Ihrer selbst willen, raten, sich uns anzuschließen.«

»Sie sprechen ständig von ›wir‹ und ›uns‹. Sind Sie eine Art Gesellschaft?«

»Ja. Man könnte es eine Gesellschaft nennen.« Jane war stehen geblieben; und sie hatte beinahe geglaubt, was sie hörte. Dann überkam ihr ganzer Abscheu sie plötzlich erneut – ihre ganze verletzte Eitelkeit, ihre Erbitterung über die unsinnige, verwickelte Situation, in der sie sich gefangen sah, und ihre allgemeine Abneigung gegen das Geheimnisvolle und Unvertraute. Sie wollte jetzt nur noch aus diesem Raum hinaus, fort von Miss Ironwoods ernster, geduldiger Stimme. »Sie hat es nur noch schlimmer gemacht«, dachte Jane, die sich noch immer als Patientin betrachtete. Laut sagte sie: »Ich muss jetzt gehen. Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich will nichts damit zu tun haben.«

4 _______

Mark fand schließlich heraus, dass man erwartete, er werde wenigstens die eine Nacht bleiben, und als er hinaufging, um sich zum Abendessen umzukleiden, hatte sich seine Stimmung gebessert. Dies lag zum Teil an einem Whisky-Soda, den er unmittelbar zuvor mit ›Fee‹ Hardcastle getrunken hatte, und zum Teil daran, dass der Wattebausch auf der Oberlippe inzwischen entbehrlich geworden war, wie er durch einen Blick in den Spiegel feststellte. Auch das Zimmer mit seinem hellen Kaminfeuer und dem eigenen Bad hatte etwas damit zu tun. Wie gut, dass er sich von Jane hatte überreden lassen, diesen neuen Abendanzug zu kaufen! Er sah sehr gut aus, wie er da auf dem Bett lag; und Mark sah jetzt, dass der alte es nicht mehr getan hätte. Am meisten Mut aber hatte ihm das Gespräch mit der Fee gemacht.

Man konnte nicht gerade sagen, dass er sie mochte. Im Gegenteil, sie hatte in ihm die ganze Abneigung geweckt, die ein junger Mann in der Gegenwart einer übermäßigen, ja unverschämten und zugleich völlig unattraktiven Sexualität empfindet. Und etwas in ihrem kalten Blick hatte ihm gesagt, dass sie sich dieser Reaktion wohl bewusst sei und sie amüsant finde. Sie hatte ihm allerhand anstößige Geschichten erzählt. Immer schon hatte es Mark bei den ungeschickten Versuchen emanzipierter Frauen, sich in dieser Art von Humor zu ergehen, geschaudert, aber das war stets von einem Gefühl der Überlegenheit gemildert worden. Diesmal hatte er das Gefühl, selbst die Zielscheibe zu sein. Diese Frau provozierte die männliche Prüderie zu ihrer Unterhaltung. Später dann hatte sie ihm Erinnerungen aus dem Polizeidienst aufgetischt. Trotz anfänglicher Skepsis war Mark entsetzt über ihre Vermutung, dass ungefähr dreißig Prozent aller Mordverfahren damit endeten, dass ein Unschuldiger gehängt wurde. Und sie gab Einzelheiten über den Hinrichtungsraum zum Besten, die ihm bis dahin nicht bekannt gewesen waren.

All dies war wenig erfreulich. Aber es wurde durch den angenehm vertraulichen Charakter des Gesprächs mehr als ausgeglichen. Immer wieder hatte man ihn im Laufe des Tages spüren lassen, dass er ein Außenseiter war: dieses Gefühl war völlig verschwunden, solange Miss Hardcastle mit ihm sprach. Er hatte den Eindruck, aufgenommen zu sein. Miss Hardcastle hatte offenbar ein bewegtes Leben hinter sich. Sie war nacheinander Frauenrechtlerin, Pazifistin und Faschistin gewesen. Sie war von der Polizei misshandelt und eingekerkert worden. Sie hatte aber auch mit Premierministern, Diktatoren und berühmten Filmstars verkehrt. Sie hatte mit beiden Enden des Gummiknüppels Bekanntschaft gemacht und wusste, was polizeiliche Gewalt vermochte und was nicht. In ihren Augen gab es nur wenig, was sie nicht vermochte. »Besonders jetzt«, sagte sie. »Hier im Institut unterstützen wir den Kreuzzug gegen den Bürokratismus.«

Der polizeiliche Aspekt des Instituts war, wie Mark ihren Ausführungen entnahm, für die Fee das Wichtigste. Die Institutspolizei war dazu da, der Institutsleitung all das abzunehmen, was man vielleicht als Hygieneangelegenheiten bezeichnen könnte. Darunter fielen sowohl Impfungen als auch Beschuldigungen wegen widernatürlicher Verirrungen; von da, meinte die Fee, sei es nur noch ein Schritt, um auch alle Erpressungsfälle an sich zu ziehen. Was das Verbrechen im Allgemeinen betraf, so hatten sie bereits in der Presse dafür geworben, dem Institut weitgehend freie Hand bei Experimenten zu lassen, die aufzeigen sollten, inwieweit eine humane, heilende Behandlung an die Stelle der alten vergeltenden oder rächenden Strafe treten könnte. Hier stand ihnen noch viel gesetzlicher Bürokratismus im Weg. »Aber es gibt nur zwei Tageszeitungen, die wir nicht kontrollieren«, sagte die Fee. »Und die werden wir fertig machen. Man muss den Mann auf der Straße dahin bringen, dass er automatisch Sadismus sagt, wenn er das Wort Bestrafung hört.« Dann habe man freie Bahn. Mark konnte diesem Gedankengang nicht gleich folgen, doch die Fee erklärte ihm, dass es gerade der Gedanke der verdienten Strafe sei, der der britischen Polizei bis zum heutigen Tage ihre Arbeit so schwer mache. Verdiente Strafe habe nämlich immer ihre Grenzen: man könne dem Kriminellen nur soundso viel antun und nicht mehr. Bei der heilenden Behandlung dagegen gebe es keine feste Grenze; sie könne fortgesetzt werden, bis sie eine Heilung bewirke, und jene, die sie verabreichten, würden entscheiden, wann dieser Zeitpunkt gekommen sei. Und wenn Heilung human und wünschenswert war, wie viel mehr galt dies erst für die Vorbeugung? Bald werde jeder, der schon einmal mit der Polizei zu tun gehabt habe, unter die Kontrolle des N.I.C.E. kommen, und am Ende jeder Bürger. »Das ist der Punkt, wo wir beide ins Spiel kommen, Kleiner«, fügte die Fee hinzu und tippte mit dem Zeigefinger gegen Marks Brust. »Auf lange Sicht gibt es keinen Unterschied zwischen Polizeiarbeit und Soziologie. Sie und ich, wir müssen Hand in Hand arbeiten.«

 

Dies hatte in Mark wieder die alten Zweifel geweckt, ob man ihm wirklich einen Posten anbot, und wenn ja, was für ein Posten das war. Die Fee hatte ihn vor Steele gewarnt, er sei ein gefährlicher Mann. »Es gibt zwei Leute, auf die Sie sehr Acht geben sollten«, sagte sie. »Der eine ist Frost, und der andere ist der alte Wither.« Aber über seine allgemeinen Befürchtungen hatte sie nur gelacht. »Sie sind schon mittendrin, Kleiner«, sagte sie. »Seien Sie nur nicht zu wählerisch, was Ihre Arbeit angeht. Sie müssen die Dinge nehmen, wie sie kommen. Wither mag keine Leute, die ihn festzunageln versuchen. Es hat keinen Zweck zu sagen, Sie wären hierher gekommen, um dieses zu tun, und würden jenes nicht tun. Dafür entwickeln sich die Dinge zurzeit einfach zu schnell. Sie müssen sich nützlich machen. Und glauben Sie nicht alles, was man Ihnen erzählt.«

Beim Abendessen saß Mark neben Hingest. »Nun«, sagte Hingest, »hat man Sie also doch noch eingefangen, wie?«

»Sieht so aus, ja«, antwortete Mark.

»Sollten Sie sich nämlich eines Besseren besinnen«, sagte Hingest, »könnte ich Sie mitnehmen. Ich fahre heute Abend zurück.«

»Sie haben mir noch nicht erzählt, warum Sie selbst uns verlassen wollen«, sagte Mark.

»Ach, wissen Sie, es hängt davon ab, was einer mag oder nicht mag. Wenn Sie Gefallen an der Gesellschaft dieses italienischen Eunuchen und des verrückten Pfarrers und dieser Hardcastle finden – ihre Großmutter würde ihr die Ohren lang ziehen, wenn sie noch lebte –, dann gibt es natürlich nichts mehr zu sagen.«

»Ich glaube, man kann das Institut kaum von einem rein gesellschaftlichen Standpunkt aus beurteilen – ich meine, es ist etwas mehr als ein Club, nicht wahr?«

»Wie? Beurteilen? – Soviel ich weiß, habe ich in meinem ganzen Leben noch nie etwas beurteilt, außer auf einer Blumenausstellung. Es ist alles eine Frage des Geschmacks. Ich bin hierher gekommen, weil ich dachte, es hätte etwas mit Wissenschaft zu tun. Nun, da ich sehe, dass es eher eine politische Verschwörung ist, gehe ich nach Hause. Ich bin zu alt für solche Sachen, und wenn ich an einer Verschwörung teilnehmen wollte, dann sicher nicht an dieser.«

»Vermutlich meinen Sie damit, dass das Element der sozialen Planung Ihnen missfällt? Ich kann gut verstehen, dass es in Ihr Arbeitsgebiet nicht so gut passt wie in die Wissenschaft der Soziologie, aber …«

»Soziologie ist keine Wissenschaft. Und wenn ich merken würde, dass die Chemie mit einer Geheimpolizei zusammenarbeitet, die von einem ältlichen Mannweib geleitet wird, das keine Korsetts trägt, und Pläne ausarbeitet, jedem Engländer Heim und Hof und Kinder zu nehmen, würde ich die Chemie zur Hölle fahren lassen und zur Gärtnerei zurückkehren.«

»Ich verstehe dieses Gefühl der Zuneigung für den kleinen Mann, aber wenn man wie ich die Wirklichkeit studiert…«

»Dann würde auch ich den Wunsch verspüren, alles niederzureißen und etwas anderes an seine Stelle zu setzen. Natürlich. Genau das passiert, wenn Sie die Menschen studieren: Sie finden einen Saustall vor. Ich bin im Übrigen der Meinung, dass man Menschen nicht studieren kann, man kann sie nur kennen lernen, was etwas ganz anderes ist. Weil Sie die Menschen studieren, wollen Sie die Unterschichten das Land regieren lassen und ihnen klassische Musik vorsetzen – so ein Unsinn! Und Sie wollen ihnen alles wegnehmen, was das Leben lebenswert macht; nur ein Haufen von Spitzbuben und Professoren soll davon ausgenommen bleiben.«

»Bill!«, rief Miss Hardcastle plötzlich vom anderen Ende des Tisches herüber, so laut, dass selbst Hingest es nicht überhören konnte. Er sah sie an, und sein Gesicht wurde dunkelrot.

»Stimmt es«, schrie die Fee, »dass Sie gleich nach dem Abendessen wegfahren wollen?«

»Ja, Miss Hardcastle, das stimmt.«

»Könnten Sie mich vielleicht mitnehmen?«

»Mit Vergnügen«, sagte Hingest in einem Ton, der niemanden täuschte, »wenn wir den gleichen Weg haben.«

»Wohin fahren Sie?«

»Nach Edgestow.«

»Fahren Sie durch Brenstock?«

»Nein, ich verlasse die Umgehungsstraße bei der Kreuzung gleich hinter Lord Hollywoods Eingangstor und fahre dann die Potter’s Lane hinunter.«

»Schade! Nützt mir nichts. Dann warte ich lieber bis morgen früh.«

Danach wurde Mark von seinem Nachbarn zur Linken in ein Gespräch verwickelt und sah Bill den Blizzard erst nach dem Abendessen in der Eingangshalle wieder. Er hatte bereits den Mantel an und wollte gerade zu seinem Wagen gehen.

Als er die Tür öffnete, begann er zu reden, und Mark sah sich genötigt, ihn über den kiesbestreuten Vorplatz zum Wagen zu begleiten.

»Befolgen Sie meinen Rat, Studdock«, sagte er, »oder denken Sie wenigstens darüber nach. Ich selbst halte zwar nichts von Soziologie, aber Sie haben eine recht anständige Karriere vor sich, wenn Sie am College bleiben. Sie tun sich selbst keinen Gefallen, wenn Sie sich mit dem N.I.C.E. einlassen – und bei Gott, Sie werden auch sonst keinem damit nützen.«

»Ich denke, man kann über alles zweierlei Ansicht sein«, sagte Mark.

»Wie? Zweierlei Ansicht? Es gibt ein Dutzend Ansichten über alles, bis man die Antwort weiß. Dann gibt es niemals mehr als eine. Doch das ist nicht meine Sache. Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Hingest«, sagte Mark. Hingest ließ den Motor an und fuhr davon.

Ein leiser Frosthauch lag in der Luft. Über den Baumwipfeln stand Orion und funkelte auf ihn herab, doch Mark kannte dieses erhabene Sternbild nicht einmal. Er zögerte, ins Haus zurückzugehen. Vielleicht erwarteten ihn dort weitere Gespräche mit interessanten und einflussreichen Leuten; vielleicht aber würde er sich auch wieder als Außenseiter fühlen, allein herumstehen und Gespräche beobachten, an denen er nicht teilnehmen konnte. Er war ohnehin müde. Als er die Vorderseite des Gebäudes entlangschlenderte, kam er bald zu einer weiteren, kleineren Tür, durch die man wahrscheinlich ins Haus gelangen konnte, ohne die Eingangshalle oder die öffentlichen Räume zu betreten. Er ging hinein, stieg die Treppe hinauf und legte sich schlafen.