Zwei Minuten Ewigkeit

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Von da an kam nichts mehr geflogen, aber ich war so in Rage, dass ich mir beim nächsten Song, der bezeichnenderweise Bad, bad Boy hiess, das Hemd zerriss und den Gig in hängenden Fetzen zu Ende brachte. Es soll die beeindruckendste Performance meiner bisherigen Laufbahn gewesen sein, hiess es später.

Als ich nach dem Auftritt erhitzt und immer noch mit einer kochenden Wut im Bauch in meine Garderobe – ein Wohnwagen – stapfte, stand da grinsend ein kahlköpfiger, muskelbepackter Punk mit verschränkten Armen und meinte mit einem gefährlichen Blitzen in den Augen: »Ich bin der mit dem Kuchen.«

Ich sah rot, und wenn ich rotsah, fühlte ich mich allmächtig und in der Lage, alles zu Mus zu zerstampfen, das sich mir in den Weg stellt. Erst recht diesen Affen da. Ich wusste genau, wenn ich mich jetzt gehen liesse, würde Blut fliessen. Mit geballten Fäusten musterte ich den Kerl, der da mit unverfrorenem Grinsen vor mir stand. Keiner von uns beiden sagte ein Wort. Eine Minute verstrich, vielleicht zwei, die Spannung war mit den Händen zu greifen. Unsere Blicke saugten sich aneinander fest und ich wollte gerade in einem übermächtigen Impuls meine Faust in seiner Fresse platzieren, da schoss mir der kleine Reto auf dem Pausenplatz in den Sinn.

»Tu’s nicht«, sagte eine Stimme in mir, »du bist nicht dafür geschaffen. Überrasch den Knaben mit einem anderen Trick, den er nicht erwartet.« Wie von Zauberhand war die Wut von mir abgefallen, ich entspannte mich und begann nun meinerseits zu grinsen und hielt dem verdutzten Kämpen die Hand hin.

»Vergessen wir’s«, sagte ich. Das hatte er nun wirklich nicht erwartet. Einigermassen betreten wandte er sich ab und verliess wortlos den Wohnwagen.

Das erste Mal, dass ich mit einem übersinnlichen Phänomen konfrontiert wurde, war mit ungefähr neun Jahren, als Vatis Tante Lina starb. An jenem Morgen erzählte Mutti am Frühstückstisch, sie habe in der Nacht eine eigenartige Erscheinung gehabt. Sie habe plötzlich hellwach im Bett gelegen und habe gesehen, wie sich die Tür öffnete und ein weisser Schleier ins Zimmer schwebte. Dabei habe sie am Abend vorher wie immer die Tür mit dem Schlüssel abgeschlossen, damit wir Kinder nicht reinplatzen konnten. In dem Augenblick, als sie den Schleier wahrnahm, wusste sie, dass Tante Lina gestorben sei und sie gekommen war, um sich zu verabschieden.

Vati schaute erstaunt von seiner Kaffeetasse hoch und gestand, er habe das Gleiche gesehen, habe aber nichts gesagt, weil er meinte, Mutti habe geschlafen. Im selben Moment schrillte das Telefon. Es meldete sich jemand aus der Verwandtschaft, um uns mitzuteilen, dass vergangene Nacht Tante Lina verstorben sei.

Tante Erna, die Schwester von Vati aus Küssnacht, hatte zwei Söhne, meine etwa fünfzehn Jahre älteren Cousins, von denen der eine ein höchst talentierter Musiker und unkomplizierter, fröhlicher Lebemann war. Das war der Alban, den wir alle »Vetter Alban« nannten, um ihn von Vatis Bruder, dem Onkel Alban, zu unterscheiden. Da der Onkel Alban mein Götti war, hatte ich traditionsgemäss als zweiten Namen auch den Alban abbekommen und war also als Reto Alban der dritte dieses Namens in der Familie.

Welches Instrument Vetter Alban auch in seine Hände bekam, er konnte darauf spielen. Trompete, Klarinette, Gitarre, Vibraphon … Am besten war er am Klavier und am Akkordeon. Manchmal kam er zu uns auf Besuch, unterhielt uns mit Bonmots aus seinem bunten Musikerleben und spielte am Klavier jazzige Stücke, dass uns Hören und Sehen verging. Mit seinen harten Absätzen knallte er im Takt zentimetertiefe Mulden ins Parkett, sodass Mutti händeringend seinen rhythmischen Hammerschlägen Einhalt zu gebieten versuchte. Dieser quirlige Vetter war mein erstes geheimes Idol. Dank ihm entdeckte ich die Welt der Musik. Wenn er dann noch herzhaft und schillernd von seinen Frauengeschichten plauderte, die Mutti sich vergebens bemühte zu unterbrechen (schliesslich waren wir noch Kinder), lauschte ich mit grossen Augen und malte mir aus, wie auch ich so ein allseits beliebter und begehrter Musiker sein würde.

Um dieses Ziel konkret anzugehen, musste ich aber zuerst einmal ein Instrument spielen können. Da hatte es mir die Gitarre besonders angetan, vor allem, weil auf den Titelseiten der BRAVO in letzter Zeit immer wieder ein Typ mit öligen, schwarzen Haaren und einer abenteuerlichen Tolle abgebildet war, der eine Gitarre um den Hals geworfen hatte. Dieser Typ machte den Eindruck, als wäre er eine Steigerung von Vetter Alban, und so wie der wollte ich auch werden. Der Bursche trug einen Namen, der schon beim blossen Lesen Herzklopfen verursachte: Elvis Presley. Das klang nach Las Vegas, Cadillac, Rock ’n’ Roll und Girls.

Ich wünschte mir also sehnlichst eine Gitarre und nach einem geschlagenen Jahr intensiven Bettelns ging dieser Wunsch zu Weihnachten in Erfüllung. Das Weihnachtsfest wurde von Mutti immer liebevoll inszeniert. Wir Kinder durften einen ganzen Tag lang die Stube nicht betreten, weil dort das Christkind und seine Engel damit beschäftigt waren, den Christbaum zu schmücken und die Geschenke für uns sechs Kinder aufzutürmen. Dabei durften sie auf keinen Fall gestört werden, sonst würden sie, scheu wie sie waren, sofort das Weite suchen und die Geschenke mitnehmen.

An Heiligabend versammelte sich die ganze Kinderschar aufgeregt vor der Stubentür, und als das Christkind das feine Glöckchen läutete, stürmten wir rein und hofften, vielleicht noch einen Engel zu sehen, der es nicht rechtzeitig geschafft hatte, zu verschwinden. Das gelang uns leider nie und das einzige engelhafte Wesen, das da lächelnd neben dem Christbaum stand, war Mutti in ihrem Hochzeitskleid.

Dieses Weihnachten entdeckte ich unter dem Haufen Geschenke für uns Kinder (Socken, Pullover, Occasion-Skis, Pyjamas und ähnliche faszinierende Dinge) einen kleinen, birnenförmigen, braunen Sack, auf den ich mich stürzte. Und tatsächlich, der unscheinbare Stoffsack enthielt mein objet du désir, eine kleine, billige Kindergitarre aus dem Warenhaus. Ich hörte die Weihnachtsengel singen. Noch am selben Abend brachte ich mir aus der Grifftabelle die Griffe e-Moll und a-Moll bei.

Um Elvis zwei zu werden, reichte das natürlich nicht ganz und auch meine Eltern fanden, wenn sie schon die Investition in eine teure fünfundvierzigfränkige Gitarre gemacht hätten, sollte ich das Instrument auch anständig spielen lernen. So kam ich in den Genuss von Unterrichtsstunden bei einer netten Hausfrau, die im Block über die Strasse wohnte und leidlich gut Gitarre spielen konnte. Frau Maurer brachte mir für zehn Franken die Stunde die wichtigsten Griffe und Schlagrhythmen bei. Aber als sie dann damit anfangen wollte, mich in die Kunst des Melodiespielens einzuweihen, wozu man einzelne Saiten zupfen muss, verlor ich die Lust. Wieso einzelne Töne zupfen, wenn man alle sechs zugleich zum Klingen bringen kann? Die volle Breitseite abdrücken, das war wie über ein ganzes Orchester verfügen. Da kommen Harmonien und Rhythmen und Grooves aus dem Kasten und genau das brauchte ich. Ich wollte nämlich in erster Linie singen wie jener Elvis, und dazu brauchte ich eine Instant-Band, die mich jederzeit begleiten konnte.

Die coolen Lieder, die ich kannte, waren die Hits und Schlager, die im Wunschkonzert im Radio immer wieder gespielt wurden. Wir Kinder durften nämlich genau zwei Sendungen hören: die Kinderstunde und das Wunschkonzert.

Die Lieder wurden selbstverständlich fast alle auf Deutsch gesungen und waren zumeist lustige Geschichten, die von englischsprachigen Sängern in einem drolligen Kaugummi-Deutsch interpretiert wurden: Gus Backus und sein Mann im Mond, Bill Ramsey mit Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett, Cliff Richard mit Rote Lippen soll man küssen, Chris Howland und sein Und dann hau ich mit dem Hämmerchen mein Sparschwein – sogar Elvis schmalzte Muss i denn zum Städtele hinaus und selbst die Beatles kamen nicht darum herum, Sie liebt dich, yeah, yeah, yeah in deutscher Sprache zu rocken.

Wer in Deutschland einen Hit landen wollte, musste das auf Deutsch tun und daran hielten sich alle. Sehr beliebt waren auch Sängerinnen und Sänger aus dem hohen Norden wie Jan und Kjeld, Gitte Haenning oder Siv Malmqvist, später der junge Holländer Heintje, die alle auch so einen schnuckeligen Akzent mitbrachten. Mit der Zeit hatte sich das Hörerohr so an dieses verfremdete Deutsch gewöhnt, dass sogar deutschsprachige Sänger so taten, als könnten sie nicht richtig Deutsch, unter anderen Peter Kraus und Lys Assia mit ihrem Hit O mein Papa war eine wunderbare Clown.

Das grösste Problem, das sich mir mit diesen Liedern stellte, waren die Texte. Ich hatte ja weder Platten noch Tonbandaufnahmen noch Noten, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als mir die Texte bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie im Radio kamen, blitzartig zu merken oder so viel mitzuschreiben, wie ich im Kopf behalten konnte, und den Rest zu verschieben, bis der Song wieder gesendet wurde. Es dauerte manchmal Monate, bis ich meine Lieder beisammen hatte.

Mutti freute sich über die raschen Fortschritte ihres jüngsten Sohnes und solange ich Lieder wie Hüaho alter Schimmel und Das alte Haus von Rocky Docky übte, war sie zufrieden. Als sie aber eines Tages mitbekam, dass ihr zehnjähriger Sprössling laut und fröhlich sang, man solle rote Lippen küssen, denn dazu seien sie da, da sauste ihre Toleranzbarriere schlagartig hinunter. Dieser Titel kam auf den Index der verbotenen Lieder und ich durfte ihn nur noch heimlich singen.

Meine Erfolge als Little Elvis hatten aber auch ihre Schattenseiten. Jedes Mal, wenn irgendeine Tante, ein befreundetes Ehepaar meiner Eltern oder sonst ein Besuch bei uns auftauchte, hiess es alsbald: »Reto, hol doch mal deine Gitarre und sing der Tante was vor.« Die ersten paar Male spielte ich mit, weil es mich freute, wenn ich Applaus bekam und mich für einen Moment im Fokus des allgemeinen Interesses sonnen durfte, aber mit der Zeit wurden mir diese Vorspiele lästig. Ich hatte zunehmend das Gefühl, zum aufziehbaren Gitarrenäffchen deklassiert zu werden, und begann, mich zu weigern, meine Perlen vor die Säue, respektive meine Lieder vor die Tanten zu werfen. Einmal schloss ich mich in der Toilette ein, bis der Besuch verschwunden war, was mir ein weiteres »Ohni z’Nacht i’s Bett« einbrachte, zumal der Besuch ja auch mal aufs Häuschen gemusst hätte, welches aber dummerweise von einem vergraulten jungen Musiktalent besetzt war. Der Besuch trat daher notgedrungen früher als geplant den Heimweg an. Die Arie, die Mutti mir daraufhin vorsang, würde in der Opernsprache wohl mit der Bezeichnung »fortissimo con espressione molto furioso« versehen werden.

 

Leider fehlte ihr das Einfühlungsvermögen in das empfindsame Musikerherz, das in meiner Brust schlug, und da Mutti im Sternzeichen des Stiers geboren war, stellte sie auf Innerschweizer Stieri-grind und plagte mich beim nächsten Besuch wiederum damit, dass ich mich zum Affen machen musste. Ich hatte nun endgültig genug und entschloss mich, dieses sechssaitige Folterinstrument loszuwerden, das mir unentwegt solcherart Demütigungen einbrachte. Dazu ersann ich eine List, es aus der Welt zu schaffen, ohne dass mich auch nur der Schatten einer Schuld traf: Mutti hatte die Angewohnheit, sich nach dem Abendessen mit ihrem Strickzeug in den bequemen Lehnstuhl in der Stube zu setzen und an einem Weihnachtsgeschenk für eines von uns Kindern zu arbeiten, einem Wollpullover, Wollsocken oder was eine Kinderseele sonst noch so zum Jauchzen bringen konnte. Unterdessen waren wir Kinder mit Abräumen, Abwaschen und Trocknen des Geschirrs in der Küche beschäftigt, was jede Woche nach einem genauen Plan ablief. Hinterlistig versteckte ich meine kleine, unscheinbare Gitarre unter einem Kissen auf Muttis Lieblingsstuhl, und als sie erleichtert seufzend ins Polster sank, krachte es unter ihrem Allerwertesten – und ich war meine Sorgen los.

Der kleine Reto war ein typisches Widderkind und bei mindestens einer Gelegenheit erbrachte ich die buchstäbliche Bestätigung des Vorurteils, dass Widder gern mit dem Kopf durch die Wand gehen. Es war ein lauer Frühlingsabend und ich durfte nach dem obligatorischen Abwasch und den Hausaufgaben noch in den Hinterhof, um mit den anderen Kindern des Blocks zu spielen. Alle waren schon versammelt und begannen bereits, Mannschaften zu wählen. Also raste ich in meinen kurzen Hosen wie der Blitz die Treppen der fünf Stockwerke hinunter und überflog alle Stufenabschnitte mit einem Sprung, um ja keine Zeit zu verlieren. Im Erdgeschoss gab es eine Schwenktür aus Glas mit einem tellerförmigen, konvexen Handgriff, an dem man die Tür nach aussen oder innen aufstossen konnte. Ich spurtete auf die Tür zu, glitt mit der Hand am Tellergriff ab und knallte auf die Glasscheibe. Durch die Wucht des Aufpralls schlug ich mit der Faust ein Loch in die Glasscheibe, durch das ich durchflog wie ein Zirkuslöwe durch den Feuerreif. Ein hervorstehender Zacken im Glas fuhr mir tief in den rechten Oberschenkel und zerschnitt das Fleisch bis fast auf den Knochen.

Benommen fand ich mich auf der anderen Seite der Tür, zwischen Splittern und Scherben am Boden liegend wieder und sah verwirrt, wie das Blut stossweise aus meinem dünnen Beinchen pulsierte. Zu meinem Glück kam der Mann, der im Erdgeschoss einen Blumenladen führte, von dem Geklirr aufgeschreckt sofort herbeigerannt und alarmierte die Sanität. Die kam in letzter Minute angebraust. Ich hatte in der Zwischenzeit so viel Blut verloren, dass ich den Gevatter Tod bereits seine Sense wetzen hörte.

Das war der Anfang einer Serie von Unfällen, die ich offenbar anzog wie der Honig die Fliegen. Der erste ernstzunehmende Hinweis meines Schicksals, dass ich die Dinge lieber etwas ruhiger angehen sollte. Eine Lektion, die ich aber erst nach mehrmaliger Wiederholung im Verlauf einiger Jahre halbwegs verstand. Ehrlich gesagt, will mir das aber trotz allem selbst heute noch nicht so richtig gelingen.

Nun lag ich also, nachdem meine spärlichen Oberschenkelmüskelchen wieder zusammengenäht waren, den ganzen Sommer lang darnieder und konnte bloss als Zuschauer an den Spielen meiner Freunde teilhaben. Mit einem Quäntchen mehr Geduld wäre mir diese bittere Erfahrung erspart geblieben.

Wegen dieses Unfalls zu quälender Untätigkeit verurteilt, vermisste ich meine Gitarre. Vor Mutti seufzte ich mitleidheischend, wie schön es wäre, wenn ich jetzt ein wenig üben könnte, aber leider habe sie mir ja die Gitarre kaputtgemacht. Von Mitleid und leichten Gewissensbissen erweicht, war sie nicht abgeneigt, mir wieder ein Instrument zu spenden.

Vetter Alban war der Retter in der Not. Bei einem seiner Besuche fragten wir ihn, ob er eine günstige Gitarre vermitteln könnte, die seinem kleinen Cousin den Weg zur Genesung erleichtern würde. Er konnte. Vetter Alban besass nämlich eine abgehalfterte alte Jazzgitarre Marke Framus, die er gerne losgeworden wäre und die er mir nun grosszügigerweise zu einem Spottpreis überliess.

Wow! Eine Jazzgitarre mit einem richtigen Tonabnehmer! Das war natürlich ein ganz anderes Kaliber als die mickrige Kindergitarre aus dem Jelmoli. Mit neuem Feuereifer machte ich mich daran und begann, die einer Jazzgitarre gebührenden Barré-Griffe in Angriff zu nehmen. Diese wollten aber augenscheinlich nichts mit mir zu tun haben und weigerten sich standhaft, sich von mir beherrschen zu lassen. Erst Jahre später ging mir auf, warum diese Griffe so schwer zu erobern waren: Die Saiten dieser Jazz-Klampfe waren so dick wie Kranseile und mit meinen dünnen Griffelchen konnte ich sie nie und nimmer auf die Bünde drücken.

So strafte ich die impertinenten Barré-Griffe erst einmal mit Verachtung und perfektionierte dafür die normalen Griffe. Davon gab es ja auch genug. In der Zeit meiner monatelangen Bettlägerigkeit hatte ich genug Musse, neue Lieder zu üben, und baute mir ein schönes Repertoire auf. Natürlich alles deutschsprachige Lieder, da es mir eigentlich nie in den Sinn gekommen wäre, auch in anderen Sprachen zu singen.

Das änderte sich allerdings schlagartig, und zwar an einem Herbstabend, als wir Kinder wieder einmal um das Radio herum am Boden sassen, um den Klängen des Wunschkonzerts zu lauschen, die dem Apparat entströmten. Unser Radioapparat war eher ein Möbel als ein Gerät: Es hatte die Ausmasse einer Kommode und enthielt im unteren Teil eine nach unten ausklappbare Tür, hinter der sich ein Grammophon versteckte. Die Sender fand man, indem man als erstes eine Taste drückte, um die Frequenz einzustellen, UKW, Mittelwelle oder Langwelle, und dann konnte man an einem seitlich angebrachten Drehknauf die Sendestation suchen, was von einer lustigen Klangkollage von Rauschen, Sprachfetzen und Melodie-Einwürfen begleitet wurde.

An dem Tag sagte der Radiosprecher: »… Und mit dem nächsten Lied möchte Herr Soundso die Frau Soundso in Soundso grüssen und wünscht sich dazu den Titel Joshua fit the Battle of Jericho, gesungen vom Golden Gate Quartet.«

Bah, dachte ich, etwas Englisches, das ist langweilig, da versteht man wieder nichts. Das Lied begann mit einem kurzen Klavier-Arpeggio, aber was dann folgte, liess sich mir die Nackenhaare sträuben. So etwas hatte ich noch nie gehört. Was die vier Männer mit ihren Stimmen machten, schien mir nicht von dieser Welt zu sein. Diese unglaublich präzise Artikulation, dieser Swing im Akkordgesang, dann diese fremdartige Melodieführung des Leadsängers, die so absolut nichts zu tun hatte mit den harmlosen Schlagermelodien, die ich kannte – das alles haute mich komplett um. Es war, als würde eine Tür aufgestossen, die mir den Zugang zu einem unbekannten, faszinierenden Universum öffnete. Was war das für eine Musik? Was bedeuteten diese Worte, woher kam diese völlig neue Art, mit Melodien umzugehen?

Wir hatten damals eine Haushaltshilfe, die Mutti zur Hand ging, eine Deutsche aus Harff in der Nähe von Köln. Sie hiess Dorothea, aber wir nannten sie der Einfachheit halber nur Doro. Doro war eine ziemlich alte Frau von neunzehn Jahren und wusste schon recht viel von der Welt. Kein Wunder, bei dem Alter. Jedenfalls klärte sie mich auf, dass diese Musik aus Amerika stammte, von schwarzen Menschen gesungen wurde und dass diese Schwarzen früher als Sklaven auf den Baumwollfeldern arbeiten mussten. Die Sklaven stammten allerdings nicht aus Amerika, die hatten sie aus Afrika verschleppt, weil es in Amerika zu wenig Arbeiter gab.

Doro wusste viele Geschichten von den schwarzen Menschen und ihren Gesängen. Sie hatte in der Schule Englisch gelernt und konnte mir einigermassen übersetzen, worum es in diesen Liedern ging. So wusste sie, dass auf den Baumwollfeldern zur Arbeit gesungen wurde und dass diese Lieder ein Schema hatten, bei dem ein Vorsänger einen Satz rief und die Arbeiter mit einem Refrain antworteten. Dieser Singsang half ihnen, einen gemeinsamen Rhythmus bei der Arbeit zu finden. Das sei wichtig gewesen, weil jemand, der zu langsam arbeitete, von der Peitsche des Aufsehers eins übergezogen bekommen habe.

Abends nach der Arbeit hätten die afrikanischen Sklaven oft bei einem Feuer zusammengesessen und Lieder gesungen, die ein Gemisch waren von Melodien aus ihrer fernen Heimat und religiösen Inhalten aus der Bibel, die sie von den weissen Missionaren vernommen hatten. Oft wurden auch versteckte Botschaften in den Liedern verbreitet, weil viele Sklaven fliehen wollten und mit diesen geheimen Botschaften Meldungen von Befreiungsbewegungen weitergegeben wurden, ohne dass die weissen Herren etwas davon spitzkriegten. So eine Flucht sei aber ein gefährliches Unterfangen gewesen, denn wer erwischt wurde, wurde brutal getötet. Diese Art Songs würden Negro Spirituals genannt und dieses Lied, das ich im Radio gehört hatte, sei ein solches Negro Spiritual.

Ich war hin und weg über diese Geschichten. Das waren nicht nur oberflächliche Tralala-Liedchen, in denen rote Lippen geküsst und Itsy-Bitsy-Bikinis getragen wurden, sondern hier ging es um Leben und Tod. Hinter dieser Musik stand ein betrogenes und verschlepptes Volk, das litt und hoffte. Mir fiel auf, dass Musik mehr sein konnte, als nur Unterhaltung, ja, dass Musik mehr sein musste, denn sie besass die Kraft, nicht nur auf das Ohr zu wirken, sondern auch auf das Gemüt, das Herz, die Seele. Musik, so begriff ich bereits damals, war eine wichtige Macht, mit der man auf Menschen einwirken, sie beeindrucken und sogar beeinflussen konnte. Ich wollte von nun an auch zu diesen Menschen gehören, die mit der Musik nicht nur Füsse zum Wippen brachten, sondern Herzen bewegten.

Also fing ich an, mehr dieser Negro Spirituals zu lernen und Doro half mir dabei. Ich lernte wunderbare Lieder kennen, die durch ihre Einfachheit bestachen und sang sie unverzagt in einer Sprache, die ich für englisch hielt: Go down Moses, When the Saints go marching in, Swing Low sweet Chariot, Down by the Riverside – und das Beste daran war, dass ich keinen einzigen Barré-Griff zur Begleitung benötigte. Mit der Zeit konnte ich die Worte immer besser verstehen und sie dadurch bedeutungsvoller singen. Über die Art, wie man diese Lieder singen musste, lernte ich viel von der unnachahmlichen Mahalia Jackson und natürlich vom Golden Gate Quartet. Etwas später kamen noch Vorbilder wie Otis Redding, Sam Cooke und Aretha Franklin dazu. Ich sang ihre Melodie-Licks so lange nach, bis ich das Gefühl hatte, wie ein kleiner Schwarzer zu klingen. So lernte ich durch die Lieder nicht nur Englisch, sondern wuchs bereits als Kind automatisch in die Rhythmik, Melodik und das Feeling der sogenannten »Schwarzen Musik« hinein.

Unterdessen hatten sich meine Eltern, gezwungen durch die missliche finanzielle Lage und die Untragbarkeit der Situation mit den zwei Praxen in Pratteln und Luzern, dazu durchgerungen, die Übung in Luzern abzubrechen und wieder mit Kind und Kegel zurück nach Pratteln zu ziehen.

Vati hatte einfach genug von diesem Hin und Her und Mutti musste sich notgedrungen fügen. Dass er die Praxis in Pratteln nicht verkaufen konnte, priesen meine Eltern nun im Nachhinein als Fügung des Himmels und waren für denselben Umstand dankbar, den sie vor ein paar Jahren verwünscht hatten.

Und noch mal Pratteln

Unser neues Domizil in Pratteln war aber Gott sei Dank in einer ruhigeren Ecke des Dorfes als das alte am Bahnhof. Schon der Name der Strasse klang nach Beschaulichkeit: Rosenmattstrasse. Auch hier bezogen wir im Frühjahr 1964 wieder das oberste Stockwerk eines neuen Wohnblocks, das über neun Zimmer verfügte, die links und rechts an einem endlos langen Gang angeordnet waren, wie in einem Hotel. Das war zwar nicht besonders kuschelig, aber wir sechs Kinder bekamen nun wenigstens jedes sein eigenes Zimmer. Meines lag zuhinterst im Gang, gleich vor dem Raum, der Stube und Esszimmer zugleich war.

 

Vati hatte die Angewohnheit, abends, wenn Mutti die wilde Rasselbande in die Heia gescheucht hatte, noch in der Stube zu sitzen und sich Schallplatten von Mozart, Haydn und Konsorten anzuhören und sich dazu eine Feierabendzigarre zu gönnen. Da Rücksicht auf seine nächsten Nachkommen nicht gerade zu seinen herausragendsten Tugenden gehörte, drehte er den Volumenregler ziemlich hoch, sodass ich im Zimmer nebenan diese Musik mitgeniessen konnte, gerade als sässe ich in der Stube. So wurde ich fast jeden Abend von klassischer Musik in den Schlaf gelullt, was den Nebeneffekt hatte, dass mir diese Musik auf angenehme Weise vertraut wurde und ich sie lieben lernte.

Ich hatte mein eigenes kleines Zimmer und konnte hier ungestört meine Songs üben. Zu den schwarzen Sängern gesellten sich nun auch weisse Lehrmeister, die mich in der Kunst, auf ganz persönliche Weise Lieder zu interpretieren, weiterbrachten. Allen voran Bob Dylan, Donovan, Elvis und José Feliciano.

Bei Dylan entdeckte ich, dass eine Stimme nicht schön zu sein braucht, um ein Lied eindrücklich rüberzubringen. Im Gegenteil, ich erfuhr von ihm, dass Elemente der Hässlichkeit sogar dazu beitragen konnten, ein Klangbild interessanter, eindrücklicher und markanter zu gestalten und die Aussage zu verstärken. Und nicht nur das, Dylans Art, den einen Satz schludrig hinzunuscheln und an anderer Stelle wieder übertrieben genau zu artikulieren, war schlicht beeindruckend. Neu und verblüffend fand ich auch die Nachlässigkeit, mit der er mit den Melodien seiner Songs umging. Eigentlich sang er sie gar nicht richtig aus, sondern tönte sie nur an, sodass der Zuhörer gezwungen war, selber die »richtige« Melodie in seinem Kopf zurechtzuhören. Natürlich gefielen mir auch seine Texte, die voller Weisheit, Poesie und Anklagen waren. Vor allem jene Songs, die sich gegen die Ungerechtigkeit in der Welt und den schwelenden Vietnamkrieg richteten, waren dazu angetan, das Herz des frisch Pubertierenden mit heiliger Entrüstung zu erfüllen, und nährten in ihm den Wunsch, mit einzustimmen in den Kampf der Lieder gegen die böse Welt.

Bei Donovan faszinierten mich die Sanftheit seiner Stimme und seine Gitarrentechnik. Catch the Wind und Try for the Sun konnte ich wochenlang spielen und singen, ohne dass mir die Lieder überdrüssig wurden. Sie weckten in mir ein Fernweh und eine Sehnsucht nach Abenteuern in einer Welt, die da draussen auf mich wartete und von der ich noch nichts gesehen hatte, weil ich noch nie aus Pratteln und Luzern herausgekommen war.

Donovans Antwort auf Dylans Blowing in the Wind hiess Universal Soldier. Ich fand diesen Song atemraubend, besonders weil es Donovan fertigbrachte, mit einer fast zärtlichen Stimme über den ewigen Soldaten zu singen, der seit Tausenden von Jahren dazu bestimmt ist, zu töten, und dass dieser Soldat nicht irgendjemand ist, sondern du und ich. Das war einfach grossartig! Wie konnte man so ein brisantes Thema so liebevoll vortragen! Diese Diskrepanz zwischen Inhalt und Form jagte mir jedes Mal, wenn ich mir das Lied anhörte, eine Gänsehaut über den Rücken und liess mich, auch wenn ich es selber sang, erschauern.

Und dann Elvis. Was der Typ an Klangfarben aus seiner Stimme herausholte, war immens. Da krähte er ein Hounddog, seufzte ein Love me tender, dröhnte ein How great thou art – und immer war er glaubwürdig. Ich kaufte ihm nicht nur seine harten Rocksongs, sondern selbst seine übelsten Schnulzen ab, einfach weil ich seiner Stimme vertraute. Von ihm lernte ich, das Timbre in der Stimme als Gefühlsträger einzusetzen und mich nicht zu scheuen, das Herz in die Stimme zu legen und die persönliche Gefühlswelt darin preiszugeben.

Etwas später war es dann der puertoricanische, blinde Sänger José Feliciano, der mir weitere neue Facetten des Singens offenbarte. José war ein Meister der kleinen Verzierungen und eingeschobenen Triolen, wie sie normalerweise von Saxophonisten praktiziert wurden. Seine unvoluminöse, leicht meckerige Stimme verwendete er überhaupt oft wie ein Musikinstrument, bei dem die Worte nicht mehr im Vordergrund standen, sondern die Freude am impulsiven Improvisieren, am Variieren und leichtfüssigen Umspielen des Themas. Abgesehen davon war er ein grandioser Gitarrist, der sich aber mit seiner Technik und seinem Können in einer so anderen Welt bewegte, dass ich die Finger davon lassen musste, ihm nacheifern zu wollen.

Ich sang und übte in meiner Kammer oft stundenlang, und wenn ich vergessen hatte, die Tür zu schliessen, bekam ich umgehend die verärgerte Aufforderung eines meiner Geschwister zu hören: »Totteli, mach die Tür zu, dein Geschrei nervt!«

Meine Geschwister nannten mich damals Totteli oder Totti. An diesem wenig ehrenvollen Übernamen war ich selber schuld, ich hatte ihn nämlich als Zweijähriger erfunden. Wie üblich riefen mich meine Eltern in jenem zarten Alter »Retoli«, und als ich anfing zu sprechen, versuchte ich, diesen Namen nachzusagen. Auf die neckische Frage: »Wie heisst du denn?«, antwortete ich: »Toli.« Weil das Re- in meinem Namen noch unaussprechlich war, beschränkte ich mich auf die Verkleinerungssilbe, die dann ein Eigenleben zu entwickeln begann und zu meinem Spitznamen mutierte, der gleich nochmals verkleinert wurde. Aus dem Toli wurde Totteli und dieser Name erfuhr, als ich älter wurde, wieder eine Vergrösserung und wurde zu Totti.

Nun, jedenfalls stiess die Entfaltung meiner Sangeskunst bei meiner Familie auf wenig Zuneigung. Grundsätzlich wurde mein Streben nach dem hohen Ziel gesanglicher Leistungssteigerung eher als Belästigung denn als Belustigung empfunden und ich erfuhr von dieser Seite weder Ermunterung noch Bestätigung. Im Gegenteil, man erinnerte mich bei jeder passenden Gelegenheit an den Wahrheitsgehalt von Wilhelm Buschs Spruch: Musik wird oft als Lärm empfunden, weil sie stets mit Geräusch verbunden.

Ein empfindlicherer Mensch hätte unter diesen Demütigungen schon längst das Handtuch geworfen und sich einem stilleren Hobby hingegeben: Briefmarken sammeln oder tote Käfer aufspiessen. Aber bei mir verhielt es sich wie mit einem Bergsteiger: Je höher das Hindernis, zu umso höheren Leistungen fühlt er sich herausgefordert.

Ich litt nicht im Mindesten unter den Verunglimpfungen meiner Geschwister. Im Gegenteil, ich bemitleidete diese Ignoranten, die nicht mal imstande waren, ein Goldstück zu erkennen, selbst wenn man es vor ihrem Gesicht hin- und herschwenkte. »Wartet nur, ich werd’s euch schon noch zeigen!«, dachte ich im Stillen und machte unverdrossen weiter.

An freien Nachmittagen liebte ich es, allein im Wald herumzustreunen. Während eines solchen Ausflugs geriet ich eines Tages in einen Steinbruch, in dem sich einige ältere Jugendliche herumtrieben. Es handelte sich um eine Bande von Halbstarken, wie diese Kategorie damals genannt wurde. Sie standen rum, rauchten und machten Lärm mit ihren Mofas. Mir war die Szene nicht geheuer und ich versuchte, unbemerkt davonzuschleichen.

Dummerweise wurde ich entdeckt und der Anführer rief mir hinterher: »He, Kleiner, was hast du hier verloren?«

Eingeschüchtert drehte ich mich um. »Ich? Äh … nichts.«

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