Systemische Beratung jenseits von Tools und Methoden

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Menschen gestalten Unternehmensprozesse – im Guten wie im Schlechten – mehr oder weniger bewusst in Selbststeuerung. Sie tun dies aus ihrem mehr oder weniger gepflegten Kulturverständnis heraus. Daher sehen wir in der Organisationskulturentwicklung eine entscheidende Dimension der Organisationsentwicklung. Erfahrungsgemäß sind Organisations- und Personalentwicklungsmaßnahmen nur dann hilfreich, wenn sie explizit oder implizit nachhaltig positive Wirkungen auf die Organisationskultur und über diese auf die Selbststeuerung der Menschen haben.

3.10 Die systemische Perspektive

Der Begriff »systemisch« markiert ein Wirklichkeitsverständnis und eine Haltung, aus der heraus Fragen gestellt und beantwortet werden. (Die vielfältigen Dimensionen des Begriffs »systemisch« sind an anderer Stelle abgehandelt, z. B. einführend von Klein/Kannicht 2007, Schmidt 2004.)

Hierzu gehören Grundannahmen, wie die grundsätzliche Überkomplexität und Unergründlichkeit beziehungsweise die letztendliche Unberechenbarkeit lebendiger Prozesse. Hierzu gehört die Metaperspektive, aus der Wirklichkeit nicht objektiv existiert, sondern diejenige des Betrachters ist und somit eine mehr oder weniger gemeinsam gestaltete Wirklichkeit der beteiligten Systeme darstellt. Auch wenn Fakten im Spiel sind, sind doch die Bedeutungsgebungen für die Selbststeuerung entscheidend. Daher sind Wirklichkeit und Wirksamkeit ohne die Lebenskultur der beteiligten Systeme nicht zu verstehen.

Systemische Betrachtungen machen immer wieder Klärungen notwendig, welche Aspekte der möglichen Wirklichkeiten wie einbezogen werden sollen, damit für die beteiligten Systeme sinnvolle Wirkungen entfaltet werden können. Man spricht von Rekursivität und Kybernetik verschiedener Ordnungen. Dies ist nicht ohne eine gewisse geistige Disziplin möglich. Dennoch darf das Gefühl für Konkretes und Lebendiges nicht verloren gehen.

Nicht zuletzt steht »systemisch« für Haltungen, die dem Leben und dem professionellen Handeln zugrunde gelegt werden, wie etwa Lösungsorientierung, Ressourcenorientierung, Offenheit gegenüber Unerwartetem und Würdigung der Vielfalt des Lebendigen. Daraus erwachsen schöpferische Gestaltungslust, Verantwortungsbereitschaft und beherztes Handeln gepaart mit professioneller Demut und Würdigung alles Lebendigen.

3.11 Persönliche Orientierung

Wie gerade beschrieben, geht es uns in diesem Buch vor allem um unser Selbstverständnis und unsere Kompetenzen an den Knotenpunkten zwischen Persönlichkeitskultur, Professionskultur, Organisationskultur und der Kultur des Wirtschaftens in unserer Gesellschaft. Dabei ist es uns ein Anliegen, die Zusammenhänge in ihrer Komplexität zu beschreiben.

Sie haben erfolgreich unseren Überblick durchstreift und wollen vielleicht nicht nur nebenbei, sondern ausdrücklich die aufgeworfenen Fragen auf sich selbst anwenden.

Daher möchten wir Sie einladen, mithilfe unserer Fragen herauszufinden, wo Sie sich selbst positionieren und welche der im Folgenden abgehandelten Dimensionen Sie im Augenblick mehr oder weniger beschäftigen und Fragen von Veränderungen aufwerfen könnten. Vielleicht gelangen Sie dadurch auch zu einem erweiterten Verständnis der Gesamtzusammenhänge.








4. Mensch und Professionalität


4.1 Der Beruf als Unternehmen

Hatte man früher hierzulande einen Beruf erlernt, so konnte man diesen, wenn es gut ging, bis zum Ruhestand auf seine bewährte Art ausüben. Heute jedoch müssen sich die Menschen auf ein viel flexibleres Berufsleben einstellen als noch vor einigen Jahrzehnten.

Ständig gehen Berufe und Tätigkeitsbilder unter, auf der anderen Seite entstehen neue Berufe bzw. Funktionen in Organisationen, die mit klassischen Berufsbezeichnungen kaum noch erklärt werden können. Auch das Studium einer bestimmten Fachrichtung gibt heute meist wenig Auskunft darüber, als was man sich danach beruflich verstehen und womit man sein Geld verdienen kann. Hier geben meist erst tätigkeitsbezogene Erfahrungen und Fortbildungen ein deutlicheres Verständnis davon, welche Qualifikationen man mitbringt und wie die Position auf dem Arbeitsmarkt eingestuft werden.

Wer auf eine langfristige Zugehörigkeit zu einem Unternehmen oder einer sonstigen Organisation setzt, ist derzeit schlecht beraten. Und es ist fraglich, ob man mit der alleinigen Verantwortung des arbeitgebenden Unternehmens, für eine nachhaltige berufliche Entwicklung seiner Mitarbeiter gesorgt hat. Selbst wenn sich bei einzelnen Arbeitgebern entsprechende Haltungen zeigen, muss man zumindest bei kapitalmarktgesteuerten Unternehmen zweifeln, ob solche Haltungen zur Geltung kommen und ob die Partner solcher Verabredungen überhaupt noch im Amt sind, wenn es darauf ankommt.

Deshalb sollte man in jedem Fall selbst dafür sorgen, dass man eine berufliche Identität unabhängig von aktuellen Beschäftigungsverhältnissen entwickelt, durch angemessene Qualifikationen die eigene Arbeitsmarkttauglichkeit herstellt und durch Anpassungen auf dem Laufenden hält. Zudem nehmen die Zugehörigkeiten zu Organisationen immer öfter Eigenschaften freiberuflicher Beziehungsverhältnisse an, auch wenn man sich in »fester Stellung« wähnt.

Von daher wird die Beruf-Lebens-Gestaltung zunehmend zu einer unternehmerischen Aufgabe: Ich bin der Chef in meinem Unternehmen Beruf und als solcher auch verantwortlich für den florierenden Betrieb, für nachhaltige Entwicklung und meine Zufriedenheit sowie die »Bodenpflege« meines Berufs- und Tätigkeitsfeldes. Wie soll das gehen?

4.2 Neue Professionen

Professionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf zentrale existenzielle Bezüge des Menschen ausgerichtet sind. Dies wird insbesondere deutlich an althergebrachten Professionen, denen die klassischen Universitätsfakultäten zugeordnet sind.

– Priester, Seelsorger: Beziehung zu Gott (Theologische Fakultät),

– Arzt: Beziehung zu sich selbst mit Leib und Seele (Medizinische Fakultät),

– Jurist: Beziehung zu anderen Menschen (Juristische Fakultät),

– Lehrer: Beziehung zur Kultur (Philosophische Fakultät).

Diese Professionen verfügen jeweils über ein Wissenssystem, das einen zentralen Aspekt des menschlichen Lebens in der Gesellschaft betrifft und eine hohe Allgemeingültigkeit beansprucht. (vgl. Schmidt-Lellek 2007)

Nun gibt es immer wieder Bemühungen, neue Professionsbildungen aktiv zu betreiben. Dabei geht es um gesellschaftliche und kulturelle Anliegen, aber auch um neue Berufs- und Erwerbsmöglichkeiten der Akteure. Einer der neuen existenziellen Bezüge, um die sich vielfältige Professionalisierungsbemühungen ranken, könnte so umschrieben werden: Mensch und Beruf, Mensch und Organisation sowie Mensch und Wirtschaft.

Derzeit scheint es für diese integrierenden Perspektiven noch keine eigenen akademischen Disziplinen zu geben. Deshalb müssen wir von einem interdisziplinären Ansatz ausgehen. Klassische Disziplineinteilungen eignen sich unseres Erachtens auch gar nicht, einen Vorrang auf diesem Gebiet zu erlangen.

Offen ist, wie viele und welche der vielfältigen neuen Tätigkeitsbilder und Bezeichnungen wie z. B. Coach, systemische Berater, Change Manager oder Teamentwickler in den Rang einer Profession erhoben werden und welche anderen eher als Unterformen oder spezielle Varianten betrachtet werden sollen. Hierum befinden sich Dutzende von Hochschulfakultäten sowie Berufs- und Fachverbände in einem intensiven Wettstreit.

Gleichzeitig befinden sich die klassischen Professionen selbst in einer Krise, da die bisher Sicherheit bietenden Professionsstrukturen sich verändern oder auflösen (vgl. Beck 1986).

Fraglich ist auch, inwieweit die genannten Professionsbezeichnungen wie z. B. Coach usw. sich überhaupt als Leitbegriffe eignen, um die genannten existenziellen Bezüge zu repräsentieren. Uns scheint es, dass der Bezug Mensch – Beruf besser durch eine Bezeichnung wie systemische Professionalität repräsentiert wäre.

»Die systemische Perspektive lädt dazu ein, sich in einem übergeordneten Verständnis von Professionalität zu verankern. Inhaltskonzepte, Methoden, Rollen und berufliche Szenarien können als beispielhafte Konkretisierungen von Prinzipien der Professionalität begriffen werden. Wirklichkeit und Beziehungen, professionelles Handeln und Sinnbezüge können so situativ, spezifisch und mit aktueller Lebendigkeit für jede Situation neu entworfen werden.« (Schmid 2003, 13)

 

Identitäten und Tätigkeitsbilder wie Coach, Teamentwickler, systemischer Berater, Change Manager könnten dann als zeit- und kontextgebundene Varianten systemischer Professionalität verstanden werden.

Der Nachteil einer solchen Bezeichnung wie systemische Professionalität ist, dass sie eher abstrakt wirkt. Wenn Menschen gegenwärtig eine professionelle Identität ausweisen und ihre Produkte anbieten wollen, fällt es nach wie vor leichter, wenn sie auf die damit verbundenen beruflichen Tätigkeiten – wie zum Beispiel Coaching – hinweisen. Auch Weiterbildungseinrichtungen müssen sich an diese Marktgewohnheit anschließen und dafür geeignete Zertifikate vergeben. Am Institut für systemische Beratung (ISB) in Wiesloch behelfen wir uns mit Titeln wie systemischer Berater in Organisation oder systemischer Coach in Organisationen. Titel dieser Art befriedigen das Bedürfnis, eine erkennbare Berufs- und Tätigkeitsbezeichnung vorweisen zu können. Sie verweisen gleichzeitig auf die übergeordnete Perspektive, für die der Begriff systemische Professionalität steht.

4.3 Professionalisieren

Im allgemeinen Verständnis meint Professionalität das Zuhause-Sein in einer Profession. Etwas professionell zu tun heißt von daher, es aus einem Berufsverständnis und einer beruflichen Identität heraus zu tun.

Das Wort »professionell« wird allerdings auch oft verwendet, wenn zum Ausdruck gebracht werden soll, dass jemand eine Sache kompetent macht. Streng genommen wäre hier das Wort »qualifiziert« besser. Ein Familienangehöriger kann als Pfleger qualifiziert tätig sein, ohne professionell zu sein. Er kann dann mit Zeit, Engagement, körperlicher Belastung etc. besser umgehen als jemand, der langjährig als Pfleger arbeitet und seinen Lebensunterhalt damit bestreiten muss.

Oft wird auch berufliche Qualifizierung und Professionalisierung synonym verwendet. Doch wäre auch hier zu differenzieren. Wenn im Vordergrund einer Fortbildung steht, weitere Fertigkeiten und Kenntnisse zu erwerben, um den Beruf kompetenter auszuüben, müsste man unserer Unterscheidung folgend von Qualifizierung sprechen und nicht von Professionalisierung.

Von Professionalisierung sprechen wir, wenn im Zentrum einer Weiterbildung das Verstehen eines Berufsbildes und der Erwerb einer beruflichen Identität stehen oder wenn jemand dabei sein bestehendes Berufsbild weiterentwickelt und seine professionelle Identität an die Entwicklungen der Umwelt und der eigenen Persönlichkeit anpasst. Hierbei werden zwar auch neue Kenntnisse und Kompetenzen erworben, doch steht dieser Neuerwerb nicht unbedingt im Vordergrund.

Je erfahrener und kompetenter Teilnehmer von Professionalisierungen sind, umso mehr gilt es, vorhandene Kompetenzen in verfügbaren Berufsbildern zu identifizieren, sie zu transformieren und in neue Berufsbilder zu integrieren. Dies ist z. B. der Fall, wenn eine erfahrene Führungskraft ein Coaching-Curriculum absolviert. Sie muss dabei verstehen lernen, was professionelle Identität als Coach mit den dazugehörigen Rollenverständnissen und Beziehungsvorstellungen bedeutet. Sie muss einige für den Beruf des Coaches zusätzlich nötigen Konzepte, Vorgehensweisen und Verhaltensweisen erlernen. Bedeutsamer ist aber oft, das Repertoire der längst in anderen Berufsverständnissen gewachsenen Kompetenzen unter der Flagge Coaching neu zu konfigurieren. Dazu gehören z. B. das Zur-Verfügung-Stellen von Erfahrungen oder die Konfrontation mit Anforderungen, ohne für deren Übernahme durch den Klienten oder die Erreichung bestimmter Ziele des Gegenübers Verantwortung zu übernehmen.

Natürlich sind die Übergänge zwischen Qualifizieren und Professionalisieren fließend. Es macht jedoch schon einen Unterschied, ob jemand für eine bestimmte Tätigkeit qualifiziert oder umfassender professionalisiert wurde. Im ersten Fall kommt jemand aus einer Weiterbildung heraus, der sich jetzt Coach nennt und damit bestimmte Rollenvorstellungen, einem bestimmten Repertoire an Konzepten und Methoden und mit festen Vorstellungen von Settings, in denen ein Coach arbeitet, verbindet. Im zweiten Fall kommt jemand heraus, der sich im Bereich Coaching professionalisiert hat und jetzt mit alten und neuen Kompetenzen zwar auch als Coach tätig sein kann, doch mit Coaching eine umfassende Perspektive und Kompetenz in Bezug auf Menschen im Beruf und Menschen in Organisationen verbindet (DBVC 2007, 2008; Schmid/Messmer 2005, Kap. 11). Letzterer kann dann z. B. auch als Coach-Pool-Manager tätig werden oder die Coaching-Perspektiven in allen Unternehmensprozessen vertreten, ohne auf das klassische Repertoire eines Beraters zugreifen zu müssen, um sich als Coach zu fühlen. Eine solche professionelle Identität ist universeller und nicht an bestimmte Konkretisierungsformen gebunden.

4.4 Systemische Professionalität

Von systemischer Professionalität sprechen wir, wenn bei einer Professionalisierung nicht nur ein konventionelles Berufsbild mit einem bestimmten Repertoire an Konzepten und Methoden erworben wird, sondern auch die damit verbundenen Prozesse bewusst durchlebt und parallel dazu von einem Meta-Standpunkt aus verstanden werden. Bei diesem umfassenden Lernvorgang werden dann vielfältige Kompetenzen erworben, mit denen man sich selbst und andere Menschen in Professionalisierungsprozessen unterstützen kann.

Es ist damit zu rechnen, dass immer mehr Menschen im Laufe ihres Berufslebens mehrere professionelle Neuorientierungen durchlaufen müssen. Daher wäre es wünschenswert, wenn die Lernprozesse bei ersten Professionalisierungen so gestaltet werden, dass sie möglichst umfassend und kreativ auf künftige übertragen werden könnten. Zusätzlich müssen immer mehr Professionelle andere Menschen bei professionellen Neuorientierungen unterstützen beziehungsweise in Organisationen entsprechende Prozesse mitgestalten. Daher ist der Erwerb von Professionalisierungskompetenzen über das Erlernen eines bestimmten Berufes hinaus ein wichtiger Zusatznutzen, manchmal sogar der entscheidende Lerngewinn.

Es genügt eben heutzutage nicht mehr, dass beispielsweise ein Bäcker es versteht, nur Brezeln zu backen. Er muss auch bedenken, wer seine Kunden sind und wie und womit neue dazu gewinnen kann und was ihre Bedürfnisse sind. Seine hervorragend schmeckenden, knusprigen Brötchen und Brezeln sowie seine leckeren Sahnetorten nützen ihm nichts, wenn sich sein Geschäft gegenüber einer großen Seniorenanlage befindet. Hier wären für Gebissträger und Diabetiker geeignete, weiche Backwaren wahrscheinlich eher ein Gewinn als wenn sich das Geschäft gegenüber einem großen Schulzentrum befände. Unser professioneller Bäcker würde wahrscheinlich ebenfalls den Markt beobachten, sich evtl. mit anderen zusammenschließen und mit seinen bissgerechten Backwaren außerdem Krankenhäuser beliefern. Dafür muss er Kontakte herstellen und überzeugen können. Er muss berechnen, ob sich der neue Aufwand personell und finanziell lohnt. Vielleicht braucht er eine gewisse Kreativität, um durch Originalität aufzufallen. Er muss spüren, was andere wünschen usw. Und vielleicht wird ihn die Bäckerinnung aufgrund seiner vielfältigen Erfahrungen und Fähigkeiten zum Aus- oder Fortbilder weniger erfolgreicher Bäcker machen.

Professionalisierung bedeutet aus systemischer Sicht also mehr als nur Kompetenzerwerb in der Ausübung eines bestimmten Berufs. Systemische Professionalisierung umfasst alle Lernprozesse, die Menschen in die Lage versetzen, ihre fachlichen und persönlichen Kompetenzen zu immer wieder neuen beruflichen Identitäten und neuen Varianten beruflicher Praxis zusammenzufügen und damit immer wieder neu im Unternehmen oder auf den Arbeitsmärkten erfolgreich zu sein.

Systemische Professionalisierung beinhaltet die Bereitschaft und Kompetenz, sich selbst und andere in die Lage zu versetzen, sich beruflich immer wieder neu zu finden. Hierzu gehören Klärungen vielfältiger Fragen, von denen wir wieder einige zum Reflektieren Ihres eigenen Unternehmens Beruf anbieten:


Vielleicht erfordern diese Fragen etwas Übersetzungsarbeit, weil beispielsweise Lehrer ihre Schüler nicht unbedingt als Kunden und ihren Unterricht nicht als Produkte verstehen. Wir haben bewusst eine unternehmerische Sprache gewählt, da sie unternehmerisches Denken und unternehmerische Verantwortung für unser Berufsleben nahe legt. Außerdem haben wir Fragen der eigenen Lebensphilosophie formuliert. Beide Bereiche gehören eben zusammen. Denn systemische Professionalität bedeutet auch, diese Zusammenhänge zu gestalten.

4.5 Beruf als Lebensform

Die Zeiten, in denen ein Beruf ein sowohl qualitativ als auch quantitativ gut abgegrenzter Lebensbereich bleiben konnte, sind für die meisten Professionellen vorbei. Man mag die erhöhten Anforderungen und die oft damit einhergehende Leistungsverdichtung beklagen, doch müssen Professionelle auf absehbare Zeit lernen, damit umzugehen, und ein möglichst abgeklärtes und verantwortetes Verhältnis dazu finden.

4.5.1 Gestiegene Anforderungen

In den meisten Märkten ist ein Angebotsüberschuss zu verzeichnen. Daher ist es kaum möglich, sich dort ohne ein enormes Engagement zu bewähren. Andererseits erwarten auch Unternehmen von ihren außertariflichen Mitarbeitern volles Engagement. Hier sind 60 bis 70 Stunden Arbeitszeit pro Woche keine Seltenheit. Hinzu kommen die gestiegenen Belastungen durch gesteigerte Dynamik, Tätigkeitsmenge und Tätigkeitsvielfalt sowie das vermehrte Mitwirken in Teams und Prozessen und den hier wechselnden Rollen als dies früher der Fall war. Oft müssen noch Anforderungen an Mobilität, internationale Reisetätigkeit, Sprachkompetenzen und interkulturelle Kooperation hinzugerechnet werden.

4.5.2 Einstieg ins Berufsleben

Gleichzeitig müssen sich junge Menschen schon sehr viel früher als noch vor wenigen Jahrzehnten mit ihrem künftigen professionellen Profil und ihrem Erfolg in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt auseinandersetzen. Hierfür leisten Schule und Hochschule bislang wenig Hilfestellung. Dies hat neben den reformbedürftigen Strukturen und Kulturen wohl auch damit zu tun, dass die Handelnden in diesen Institutionen selbst oft nicht gelernt haben, sich diesen Thematiken zu stellen.

Aus vielen Gründen scheinen die Entscheidungsnöte bezüglich der richtigen Studien- und Berufswahl bei jungen Menschen sehr viel größer geworden zu sein. Das Damoklesschwert, zum Heer der Nutzlosen in unserer Gesellschaft zu gehören, bereitet untergründig Angst und Unruhe. Wer sich hier Zeit lassen will für eine Berufung, für ein interessantes Studium, für Lehrer, denen man sich anvertrauen will und für alle anderen Lebensinteressen, bekommt Druck. Andere absolvieren währenddessen zielstrebig praxis- und abschlussorientierte Studiengänge, machen Praktika, erwerben Zusatzqualifikationen und vertiefen Sprach- und Kulturkenntnisse bei Auslandsaufenthalten. Wo bleibt da der Raum, um mit guten Gefühlen tastende Schritte ins Leben zu machen und sich dabei womöglich noch ohne unmittelbare Verwertungsinteressen gemeinnützig oder kulturell zu engagieren?

4.5.3 Orientierungshilfen

Unternehmen legen zwar mittlerweile durchaus Wert auf ein Engagement außerhalb von Schule und Studium und auf eine gewisse Breite der Persönlich- keitsbildung, möchten aber gleichzeitig möglichst junge, vielfältig erfahrene, einsatzbereite und zielstrebige Mitarbeiter einstellen. Hier muss man auf neue Positionierungen der Zuständigen hoffen, dass die Last solcher Balanceakte nicht ganz auf die jungen Menschen verschoben wird.

Wünschenswert wäre auch, dass die dafür zuständigen Institutionen lernen, angemessene Bildung anzubieten, die sowohl die betroffenen Menschen, wie auch die organisationsintern Zuständigen für all diese Herausforderungen frühzeitig kompetent macht. Der Versuch, jungen Menschen in Konkurrenz zu ihren Mitlernenden immer größere Mengen an Wissen einzutrichtern, anstatt ihnen Kooperation, kollegiales Lernen und Urteilsfähigkeit für die wesentlichen Dinge sowie Lebenskunst beizubringen, führt zu Überlastungen und in Sackgassen. Fortschritte in Lernkultur und Didaktik könnten helfen, unnötige Belastungen junger Menschen wegen Orientierungslosigkeit und Beurteilungsnotstände zu minimieren. Viele Gleichgewichtsstörungen und Krisen der mittleren Lebensjahre haben mit Versäumnissen auf diesem Gebiet zu tun und die entsprechenden Lernbedürfnisse müssen vermutlich noch auf längere Zeit im Bereich der Erwachsenenbildung verspätet versorgt werden.

 

4.5.4 Jenseits der Lebensmitte

Auf der anderen Seite des Lebensbogens entstehen neue Herausforderungen, Voraussetzungen und Bedürfnisse bei den Menschen jenseits der Lebensmitte. Weil damit zu rechnen ist, dass Menschen auch in akademischen Berufen künftig sehr viel länger arbeiten müssen, wird auch für sie immer dringlicher, sich von Zeit zu Zeit weiterzuqualifizieren und neu zu professionalisieren. Viele werden dies in Eigenverantwortung tun wollen, um ihre Weiterbeschäftigung an hochwertigen Arbeitsplätzen zu sichern und um sich Befriedigung und Schaffensfreude bei der Arbeit zu erhalten.

Aber auch die Organisationen werden sich hier engagieren müssen, weil sie sich unzufriedene und leistungsunfähige Mitarbeiter nicht mehr leisten können, andere aber nicht zu bekommen sind. Aus den Unternehmen wird berichtet, dass es oft an der privaten Lebensführung liegt, wenn die Leistungs- und Lernfähigkeit älterer Mitarbeiter gering ist. Aus dem Lot geratene Familienverhältnisse, fehlendes Gesundheitsverhalten etc. würden mehr Verschleiß verursachen als stressige Arbeitsplätze. Man wird hier vertieft diskutieren müssen, was Ursache und was Folge ist.

Dabei ist zu beachten, dass die Kulturgewohnheiten, die später Schaden verursachen, in jungen Jahren entstehen und von Organisationen gefördert und gerne genutzt werden. Die Folgen von Ausbeutung und Selbstausbeutung treten erst viel später auf, wenn der alternde Organismus die Kosten dafür nicht mehr aufbringen, die Belastungen nicht mehr kompensieren kann. Doch dann sind Kursänderungen schwieriger als in jungen Jahren. Wichtig ist daher, dass gemeinsam neu für die Zusammenhänge Verantwortung übernommen wird.

Es kann auf Dauer nicht so bleiben, dass Menschen bis zu einem bestimmten Alter um jeden Preis auf Hochtouren im Hamsterrad laufen und dann von heute auf morgen in die Leere eines sogenannten Ruhestands entlassen werden.

4.5.5 Seniorexperten

Irgendwann werden voraussichtlich lebensphasenorientierte Personalarbeit, echte Altersteilzeitmodelle und weiteres professionelles wie gesellschaftliches Engagement bis ins hohe Alter nach dem Ausscheiden aus einer hauptberufli-chen Tätigkeit durchzusetzen sein. Allerdings hat die Erfahrung auch gezeigt, dass erhebliche Anstrengungen notwendig sind, das dafür notwendige Umdenken bei den Betroffenen auch in den Unternehmen zu bewirken.

So arbeiten wir am ISB zusammen mit interessierten Fachleuten und Unternehmen an Konzepten mit der Frage, wie reife Professionelle nach dem Ausscheiden aus ihren hauptberuflichen Funktionen neben dem neuen Privatleben in neuen altersgemäßen Rollen professionell aktiv bleiben können. Sie können zum Beispiel als Mentoren oder Senior-Experten jüngere Menschen unterstützen oder mit ihnen in Projekten zusammenarbeiten, für die Augenmaß und Geduld erforderlich sind. Dies kann in Kooperationsformen zwischen Unternehmen einer Region oder als Form der Mittelstandsförderung organisiert werden oder als Engagement für nichtkommerzielle Gesellschaftsbereiche im Auftrag von Unternehmen. Außer dem unmittelbaren Nutzen für alle Beteiligten kann darin ein wertvoller Beitrag zum gesellschaftsübergreifenden Generationendialog gesehen werden.

4.5.6 Beruf als Lebensinhalt

Hier soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass man moralinsauer einem Moloch-Beruf andere Werte und Lebensqualitäten entgegenhalten muss. Für viele schaffensfreudige Menschen kann das Berufsleben phasenweise oder lebenslang zum Hauptlebensinhalt werden.

Da heute bereits mehr als fünfzig Prozent der Frauen mit Hochschulabschluss keine eigenen Kinder mehr haben, entfällt auch für viele Paare die Notwendigkeit, familiengeeignete Lebensformen zur Verfügung zu stellen. Mann/Frau kann (oder muss) sich ein Leben allein und zu zweit vorstellen, in dem Selbstverwirklichung im Beruf zum Hauptinhalt und zur Hauptquelle von Lebensbefriedigung gewählt werden. Gute Konzepte hierfür gehören zu den Anliegen einer guten Professions- und Organisationskultur.

4.6 Professionelle Kompetenzen

In vielen Professionen haben die für einen Markterfolg erforderlichen Kompetenzen erheblich zugenommen. Zum einen aufgrund der Zunahme an Komplexität der Aufgaben und Funktionen, zum anderen aufgrund der höheren Konkurrenz der Anwärter auf hochwertige Tätigkeiten. Immer mehr ausgebildete Menschen konkurrieren um immer anspruchsvollere Funktionen. Dadurch steigt für alle die Notwendigkeit, mit mehr Kompetenzen und mehr Erfahrungen aufzuwarten, ohne dass das unbedingt zu Beschäftigungssicherheit, zu besonders interessanten Tätigkeiten oder zu hoher Entlohnung führt. Durch das Erfüllen hoher Ansprüche wird das Anspruchsniveau höher getrieben (Schmid 1996a, 2007b). Wenn dabei ein vernünftiges Maß verloren geht, ist allerdings fraglich, ob dabei im Ganzen mehr Qualität und Leistung herauskommen kann. Für den Einzelnen ist es auf jeden Fall schwer, sich solchen Dynamiken zu entziehen. Denn irgendwie muss jeder überzeugen.

In den 1970er-Jahren konnten sich z. B. Beraterausbildungen neben der Selbsterfahrung auf das vertiefte Verständnis einiger Konzepte und die Beherrschung eines bestimmten Repertoires von Beratungstechniken konzentrieren und hatten dafür zumindest im therapeutischen Bereich reichlich Zeit. Dabei leistete man sich einerseits Ruhe zur Vertiefung und Reifung, andererseits allerdings auch manche Ineffektivität und Fehlgewichtung. Gleichzeitig meinte man, auf andere Feld- und Fachkompetenzen weitgehend verzichten zu können. Mängel und Selbstüberschätzung blieben oft unerkannt, weil sie von einseitigen Schulenvorstellungen gedeckt und von Kunden toleriert wurden.

Man war in einseitigen Welterklärungen und Eigengesetzlichkeiten verhaftet und erhob sie anderen gegenüber zum Maßstab. Man hatte vielleicht ein Ganzheitlichkeitsverständnis gemäß der eigenen Schule. Doch Ganzheitlichkeit im Sinne von Einbettung eigener Beiträge in die unternehmerische und gesellschaftliche Gesamtverantwortung und Integrationsfähigkeit in die dort täglichen Steuerungsbelange war meist weniger gefragt. Kritik auf Kundenseite wurde eher als Widerstand gegen Fortschrittlichkeit gedeutet, denn als berechtigte Ansprüche auf passgenaue Zulieferung.

Wie sehr sich seit dieser Zeit die Situation verändert hat, bringt die folgendeÜbung aus heutiger Zeit zum Ausdruck (vgl. Schmid et al. 2010, 26 ff.).

4.7 Beratermarktübung



Auch wenn an dieser Stelle nicht weiter auf diese Übung eingegangen wird, ist unmittelbar zu spüren, dass sie ein ganzes Spektrum von Arbeitsebenen und Lernfragestellungen integriert. Die vielfältigen Betrachtungsweisen und Arbeitsebenen erfordern Flexibilität und Disziplin, ein effektives Zusammenspiel in wechselnden professionellen Rollen, Praxisbezug und einen ökonomischen Umgang mit Ressourcen. Inhalte des Beratungsanliegens und die einzelnen Beratungsfiguren, die früher ausführlich und oft ausschließlich Thema waren, sind in einen komplexen, ganzheitlichen und praxisrelevanten Zusammenhang eingebettet.

Im Folgenden werden einige Aspekte heutiger Anforderungen an professionelle Kompetenz näher erläutert.

4.8 Kompetenzperspektiven

Manche werden diese Erfahrung noch aus der Schulzeit kennen: Man hat viel gelernt, weiß viel und fühlt sich fit. Man kommt dran, kann seine Leistung schlecht vermitteln und wird aus eigener Sicht zu Unrecht als nicht kompetent eingeschätzt. Doch was kompetent ist, entscheidet der Beobachter. Kompetenz ist also auch eine Frage der Perspektive. Über Kompetenz, die zu Markte getragen werden muss, entscheiden die Marktteilnehmer. Wo dies der Fall ist, geht die Bedeutung von rein fachlichen Kompetenzbeurteilern zurück bzw. es behalten nur diejenigen Autorität, die sich an die relevanten Märkte ankoppeln können. Das hat sein Gutes, weil sich dann die Fachorganisationen ihrer gesellschaftlichen Relevanz versichern müssen. Auf der anderen Seite müssen substanzielle fachliche Entwicklungen vor unsinnigen Auswüchsen der Märkte geschützt werden. Davon später mehr.

Am auffälligsten für den einzelnen Anbieter ist, dass professionelle Kompetenz weniger an optimierten Teilkompetenzen gemessen wird, sondern daran, ob verschiedene Komponenten immer wieder neu situationsspezifisch zu einer Gesamtkompetenz zusammengefügt werden können. Die jeweilige Orchestrierung der eigenen Kompetenzen muss zudem ökonomisch und persönlich überzeugend sein.

Niemand kann heute mehr erwarten, dass er das gesamte Programm seiner Kompetenzen und Produkte vorstellen kann, um zu überzeugen. Wenige Kostproben müssen überzeugen. Sie müssen suggerieren, dass Professionelle in der Lage sind, einen originellen und in vielen Dimensionen passenden Beitrag zu leisten. Gelingt dies, sind finanzielle Fragen oft eher zweitrangig.