Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«

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Proust (vorn Mitte) im Defilee bei der Hochzeit von Arman de Guiche. Einzelbild aus einem Amateurfilm.

Verfilmungen, Ballett, Vertonungen

»Einige [Kritiker] waren der Ansicht, der Roman müsse eine Art kinematographisches Defilee der Dinge zeigen. Diese Vorstellung war absurd. Nichts ist von dem, was wir in Wirklichkeit wahrgenommen haben, weiter entfernt als eine solche kinematographische Schau.« (WZ, S. 271.)

Kino- und Fernsehfilme

Volker Schlöndorffs Ausstattungsfilm Un amour de Swann von 1984 hat zwar die Belle Époque recht sinnfällig darzustellen vermocht, ist dann aber auch an dieser Oberfläche hängengeblieben: »So knarzig hölzern wie verschwenderisch, macht Schlöndorffs Version des Dampfkinos aus Un amour de Swann eine His­torienklamotte.«60 Dass Odette eine Sexbombe wäre, ist ebenso wie die Darstellung de Charlus’ als Witzfigur ein Missverständnis, das auf die Lektüre von Painters Proust-Biographie zurückzuführen sein dürfte, in der Odette kurzerhand mit Laure Hayman und Charlus mit Robert de Montesquiou identifiziert wird – »die wirklichen Personen Prousts sind nicht in dieser Weise verkürz- und karikierbar«, stellt jedoch Jean-Yves Tadié in seiner irritierten Rezension »À côté de chez Swann«61 fest. Die Vielschichtigkeit, die Proust seinen Personen verleiht, wird immer wieder billigen Effekten geopfert, wie besonders prägnant in Swanns vulgärem und also gänzlich unproustischem Bordellbesuch zum Ausdruck kommt, der doch im Buch in einer freundlichen Unterhaltung mit dem »Mädchen mit den blauen Augen« gipfelt (»Schau an, neuerdings kommt man zu mir, um sich zu unterhalten!«, kommentiert die Puffmutter in WS, S. 512).

Raúl Ruiz’ Verfilmung von Le Temps retrouvé als Collage aus Rückblicken fängt zwar sehr kongenial, aber auch zu genial Prousts Umgang mit der Zeit ein: bei der notwendigen Verknappung des umfangreichen Stoffes lässt der Film dem Zuschauer nicht die ebenfalls notwendige Zeit, Zusammenhänge herzustellen und die einzelnen Sequenzen zu einem Ganzen zusammenzufügen: »dizzyingly complicated«, wie Peter Bradshaw in The Guardian vom 7. November 2013 konstatiert.

Chantal Akerman hat dagegen sehr umsichtig entschieden, sich mit der Captive auf einen cineastisch bewältigbaren Ausschnitt zu beschränken, in dem es ihr dann auch gelingt, die klaustrophobische Enge in der Beziehung Marcels zu Albertine und den Narzissmus in seiner »Liebe« sinnlich nachvollziehbar zu machen. Die Transponierung der Prisonnière in die Gegenwart hat zudem nicht nur den Zuschauer vom Kostüm- und Kulissen-Albtraum befreit, sondern auch den Allgemeingültigkeitscharakter der dargestellten psychologischen Mechanismen sichtbar werden lassen.

Die Verfilmung von Nina Companéez erzählt schulmäßig den Inhalt der Suche nach der verlorenen Zeit, vergisst dabei jedoch, dass dieser Inhalt nur Folie ist und der eigentliche Gehalt auf einer ganz anderen Ebene liegt, deren genauer Ort zwar in der Diskussion heiß umstritten ist, die aber jedenfalls sehr viel höher liegt, wie schon die Fülle an – offenbar verschmähter – Sekundärliteratur verdeutlicht. Die langweilige Kameraführung macht zwar verständlich, warum der Film fürs Kino nicht geeignet zu sein scheint, dem uneingeweihten Zuschauer bleibt bei dem Ganzen aber leider unerfindlich, warum Prousts Werk denn Weltgeltung haben soll, und meinem Bekanntenkreis, warum ich mich damit befasse.

Einen Film von 170 Stunden Länge stellte 2009 Véronique Aubouy unter dem Titel Le Baiser de la Matrice ins Netz, der aus 3424 Videoclips von rund um den Globus (»von Papeete bis Kinshasa«) verteilten Teilnehmern besteht, die jeweils eine ihnen am 27. September 2008 um 12h GMT von der »Matrix« zufällig zugeteilte Seite aus der Recherche vorlasen und sich dabei filmten: »Auf diese Weise kann À la Recherche du temps perdu theoretisch in 10 Minuten gelesen werden.«

Erwähnt werden sollte hier vielleicht auch Percy Adlons Céleste von 1981, der zwar nicht die Suche verfilmt, sondern Proust selbst und vor allem Prousts Haushälterin Céleste Albaret zum Thema hat, dem aber die Proust-Mimesis in besonders eindrucksvoller Weise gelingt. Eine ähnliche schwierige Gratwanderung zwischen Roman- und Lebens-Verfilmung, hier noch zusätzlich gekreuzt mit einer tatsächlichen oder fiktiven Biographie des Regisseurs, unternimmt Fabio Carpi 2003 in Le intermittenze del cuore.

Unter der Adresse faz.net/proustfilm findet sich im Internet ein Amateurfilm von 1904 von der Hochzeit von Hélène (gen. »Élaine«) Greffulhe mit dem Herzog Arman de Guiche, in dem Proust allem Anschein nach einen Sekundenauftritt hat. Proust war mit dem Herzog befreundet und zum Hochzeitsdiner eingeladen, wo sich die denkwürdige Szene abspielte, dass der Vater des Bräutigams Proust ermahnte, als dieser über dem Gästebuch sinnierte: »Nur den Namen bitte, keine Gedanken.«

1971 Du côté de chez Swann. Regie: Claude Santelli. Mit Madeleine Renaud, Marie-Christine Barrault und Isabelle Huppert. Frankreich 1971. [TV-Verfilmung.]

1981 Céleste. Regie: Percy Adlon; mit Eva Mattes und Jürgen Arndt. Deutschland: Bayrischer Rundfunk / Pelemele Film, 1981.

1984 Un amour de Swann. (Dt.: Eine Liebe von Swann.) Regie: Volker Schlöndorff. Mit Jeremy Irons und Ornella Muti. Deutschland/Frankreich: Gaumont, 1984.

1999 Le temps retrouvé. Regie: Raúl Ruiz. Mit Catherine Deneuve, Emmanuelle Béart und John Malkovich. Spanien: Gémini, 1999.

2000 La Captive. Regie: Chantal Akerman. Mit Sylvie Testud, Stanislaus Merhar und Olivia Bonamy. Frankreich: Gémini, 2000.

2003 Le intermittenze del cuore. Regie: Fabio Carpi. Mit Vahina Giocante, Hector Alterio und Assumpta Serna. Italien 2003.

2004 Ushinawareta toki o motomete. Regie: Akihiro Toda. Mit Tetsushige Chiba, Saori Hatsuoka und Noritaka Nishimori. Japan 2004.

2009 Le Baiser de la Matrice. Regie: Véronique Aubouy. Frankreich 2009. [Internet.]

2011 À la recherche du temps perdu. Regie: Nina Companéez. Mit Micha Lescot, Caroline Tillette und Didier Sandre. Frankreich 2011. [TV-Verfilmung.]

Filmprojekte

Luchino Visconti ließ immer wieder Aspekte der Suche in seinen Filmen anklingen, so die Beziehung zwischen Charlus und Morel in Senso (1954), das Balbec der Belle Époque in Tod in Venedig (1971) und das Salonleben à la Madame Verdurin in L’Innocente (1976). 1970 hatte er sich sogar vorgenommen, die Suche nach der verlorenen Zeit als Ganzes zu verfilmen, mit Alain Delon als Erzähler, Marlon Brando als Charlus und Helmut Berger als Charlie Morel, den Visconti in das Zentrum seiner Verfilmung rücken wollte. Obwohl auch schon Drehorte ausgesucht worden waren und die Finanzierung gesichert war, und zudem Greta Garbo womöglich die Königin von Neapel gespielt hätte, machte Visconti im letzten Augenblick aus ungeklärten, womöglich aber gesundheitlichen Gründen einen Rückzieher.

Im gleichen Jahr wie Visconti startete Joseph Losey ein Projekt zur Verfilmung aller sieben Bände in einem einzigen, etwas über zweistündigen Film, für den er zwangsläufig Kürzungen im Text vornehmen musste; so wurden etwa die Madeleine-Episode wie auch der Elstir-Komplex gestrichen. Dafür sollten Vermeer und die Ansicht von Delft die Funktion eines Leitmotivs übernehmen. Harold Pinter hatte bereits für Losey ein Drehbuch geschrieben, und eine glänzende Besetzung stand zur Verfügung: Dirk Bogarde als Erzähler, Jeanne Moreau als Madame Verdurin und die Callas als Königin von Neapel. Dieses Vorhaben scheiterte schließlich an der Finanzierung, für die Valéry Giscard d’Éstaing die Unterstützung verweigerte mit den Worten: »Sie sind Amerikaner, im Mittleren Westen geboren. Wie können Sie sich da an einem Meisterwerk der französischen Literatur vergreifen?«62

Harold Pinters Drehbuch von 1972 wurde 1977 publiziert und 2000 von ihm gemeinsam mit der Dramaturgin Diane »Di« Trevis zum Bühnenstück umgearbeitet. 1995 wurde eine Radio-Adaption des Drehbuchs mit Harold Pinter als Erzähler von der BBC ausgestrahlt.

Ballett

Hier ist wohl nur ein einziges Werk zu verzeichnen, Proust ou les intermittences du cæur, ein Ballett von Roland Petit nach À la recherche du temps perdu von Marcel Proust; Choreographie von Roland Petit 1974, Uraufführung 1988 an der Opéra Nationale de Paris mit dem Ballett und dem Orchester der Opéra nach Musik von Debussy, Wagner, Fauré, Saint-Saëns, Franck, Beethoven und Hahn. Wiederaufnahme mit Hervé Moreau, Mathieu Ganio, Eleonora Abbagnato, Stéphanie Romberg, Stephane Bullion und Manuel Legris 2007; diese Kreation ist auf DVD bei Bel Air Classique 2008 erhältlich. Wiederaufnahme in veränderter Besetzung 2009.

Vertonungen

Du côté de chez Swann. Chanson von Dave (d. i. Wouter Otto Levenbach). Text: Patrick Loiseau. Musik: Michel Cywie. Als Single erschienen 1975.

Marcel Proust. Video-Clip der Pariser Rock-Gruppe Jinx. Inari Productions, 2006.

Madeleine. Stück der Jazz-Gruppe Cattleya, auf dem gleichnamigen Album der Gruppe. Erschienen bei rent a dog productions, 2003.

Proust ist mein Leben. Stück der Rockgruppe Christian Rottler & Galakomplex, 2007. Überarbeitet als Flashanimationsfilm 2009.

J’aime tellement Proust. Chanson auf dem Album »Oserai-je t’aimer« (2005) des Sängers Pascale Borel.

The Different Albertines. Musical in zwei Akten. Text: Richard Nelson. Musik: Ricky Ian Gordon. Uraufführung 2003. CD bei PS Classic Records # PS-313.

Le Café Proust. Chanson von Aliénor (d. i. Nathalie Bonnaud) in Begleitung eines Trios. MP3-File, 2010.

 

Marcel Proust. Chanson auf dem Album »Karaoke Blues« (2010) des Folk-Sängers und Gitarristen Daniele Maggioli.

In Search of Lost Time. Stück auf dem gleichnamigen Album des Lars Jansson Jazz-Trios, 2011.

Die Gruppen Balbec und Swann scheinen leidiglich von den Namen Gebrauch zu machen.

Literatur zu »Proust und die Medien«

1977 Harold Pinter: The Proust Screenplay. New York: Grove Press, 1977.

1984 Suso Cecchi d’Amico / Luchino Visconti: À la recherche du temps perdu. Scénario d’après l’œuvre de Marcel Proust. Paris: Editions Persona, 1984.

1984 Bruno Villien: Visconti, Losey, Schlöndorff. Trois visions de Proust. Hollywood: American Society of Cinematographers, 1984. S. 24–30. (American Cinematographer Magazine.)

1985 Joanne Klein: Making Pictures: The Pinter Screenplays. Columbus: Ohio State University Press, 1985. [»The Proust Screenplay«, S. 103–128.]

1994 Joseph Losey: L’œil du Maître. Textes réunis et présentés par Michel Ciment. Traduits par Brigitte Lescut et Ia Burley. Lyon: Institut Lumière / Actes Sud, 1994.

1997 Michael Billington: The Life and Work of Harold Pinter. London: Faber and Faber, 1997.

1997 Brigitte Gauthier: Dramatologies. Document de synthèse présenté en vue d’une habilitation à diriger des recherches. 2001. Annexe C1: Débat sur »Harold Pinter scénariste«, Cinéma de l’Entrepôt. Paris, 25 avril 1997, avec Michel Ciment et Eric Kahane. S. 75–98.

2000 Harold Pinter / Di Trevis: Remembrance of Things Past. By Monsieur Marcel Proust. Play. London: Faber and Faber, 2000.

2002 Jean-Jacques Abadie / Claude Schwartz: Luchino Visconti à la recherche de Proust. Suilly-la-Tour: Findakly, 2002.

2003 Vincent Ferre: Mais dans les beaux livres, tous les contresens qu’on fait sont beaux. M. Proust, R. Ruiz, V. Schlöndorff, L. Visconti et H. Pinter. In: J. Cléder / J.-P. Montier: Proust et les images. Peinture, photographie, cinéma, vidéo. Rennes: Presses Universitaires de Rennes, 2003. S. 203–220.

2003 Steven Gale: Sharp Cut. Harold Pinter’s Screenplays and the Artistic Process. Lexington: The University Press of Kentucky, 2003. [»The Proust Screenplay«, S. 217–224.]

2005 Martine Beugnet / Marion Schmid: Proust at the Movies. Farnham: Ashgate, 2005.

2005 Uta Felten / Volker Roloff (Hrsg.): Proust und die Medien. München: Fink, 2005.

2006 Florence Colombani: Proust – Visconti. Histoire d’une affinité élective. Paris: Rey, 2006.

2008 Audrey Vermetten: De la lanterne magique au cinématographe. Les images animées dans À la recherche du temps perdu. In: Mélanges de la Maison Saint-Exupéry 4 (2008) S. 121–140.

2014 Thomas Carrier-Lafleur: Proust et le cinéma. Temps, images et adaptations. Thèse en cotutelle. Doctorat en littérature, arts de la scène et de l’écran, Université Laval, Québec, Canada, et Université Paul-Valéry, Montpellier, France. [Internetpublikation, 2014:] http://www.theses.fr/2014MON30023/document


Diagramm der Textgenese der Seite 16 v° des Cahier 54.

Zum Aufbau der »Suche«

»Mein lieber Proust, […] deine Bücher machen den Eindruck, als seien sie nicht ›komponiert‹ und als ob du deine Überfülle nach ­Belieben ausbreitest; doch obwohl ich erst noch deine zukünftigen Bücher abwarten muss, um zu einem endgültigen Schluss zu kommen, habe ich doch schon den Verdacht, dass alle Bestandteile ihre Positionen einem verborgenen Plan gemäß einnehmen.«

(André Gide, »Billet à Angèle«, in: La Nouvelle Revue Française,

Mai 1921, S. 588.)

Zur Makrostruktur

Als Proust 1911 Grasset À la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) zur Veröffentlichung anbot, war ein Werk mit den beiden Teilen Le Temps perdu (Die verlorene Zeit) und Le Temps retrouvé (Die wiedergefundene Zeit) geplant. Bei der Veröffentlichung des ersten Bandes 1913 unter dem Titel Du côté de chez Swann (Auf dem Weg zu Swann) hatte sich dann bereits Le Côté de Guermantes (Der Weg nach Guermantes) als dritter Band dazwischengeschoben, bei der Veröffentlichung des zweiten Bandes 1919 unter dem Titel À l’ombre des jeunes filles en fleurs (Im Schatten junger Mädchenblüte) wurde zusätzlich Sodome et Gomorrhe (Sodom und Gomorrha) als ein fünfter Band angekündigt. Bei dieser Entwicklungsgeschichte könnte man mit Feuillerat 1934 geneigt sein, die Suche als eine Art Wildwuchs zu betrachten, dem keinerlei Organisationsprinzip jenseits des assoziativen Weiterschreibens zugrunde liegt.

Man könnte dagegen auch, wie Tadié63 1971 vorschlägt (der freilich zusätzlich eine Überlagerung durch ein binäres Prinzip sieht – eine Überlagerung, die besonders deutlich im zweiten Vorschlag an Grasset zum Ausdruck kommt, s. die Tabelle unten –), von der Dreiteilung aus dem Jahr 1913 der ersten Veröffentlichung ausgehen mit Swann, Guermantes und Zeit, und darin ein dialektisches Prinzip wirken sehen: die Swann- bzw. Guermantes-Wege Judentum bzw. Francité, Kunst bzw. Gesellschaft, wilder Mohn bzw. Orchideenzucht als These und Antithese, denen das Finden der Berufung und die Entdeckung des Zusammenhangs der beiden Wege in Zeit als Synthese gegenübersteht. Später wird dann der Garten Eden in Combray bzw. Balbec über zwei Bände verteilt (Kindheit und Jugend), die Hölle der anderen ebenfalls (das Purgatorium der hohen Gesellschaft in Guermantes, das Inferno der niederen in Sodom) und die allmähliche Wiedereroberung des zeitlosen Paradieses der Kindheit durch die Kunst auf die restlichen drei Bände. Dieser Ansatz sieht demnach die Suche eher wie eine Irrfahrt auf der Suche nach dem Heiligen Gral, den nur findet, der dazu berufen ist – eine Sicht, die durch Prousts Gebrauch von »vocation« durchaus unterstützt wird. Die Binnenstruktur des Textes lässt jedoch ein dialektisches Prinzip kaum erkennen: der Erzähler neigt zwar zum »einerseits« und »andererseits«, zum »sei es … oder sei es …«, kaum aber dazu, in einer Synthese ein Fazit zu ziehen.

Auffällig ist in der Binnenstruktur des Textes dagegen eine Neigung zur Verdoppelung (übrigens ein ausgesprochen alttestamentliches Stilmittel, vgl. etwa Pharaos Träume) durch Parallelführung – so etwa in der Parallelführung der Beziehungen zwischen Madame de Sévigné und ihrer Tochter mit der zwischen Marcels Großmutter und Marcels Mutter, der Parallelführung der Beziehung zwischen Charlus und Morel mit der zwischen Madame Verdurin und der Prinzessin Sherbatoff, der Parallelführung der Beziehung zwischen Swann und Odette mit der zwischen Saint-Loup und Rachel (eine Parallelführung, die ihrerseits durch die Parallele zwischen Charlus und Morel einerseits mit Marcel und Albertine andererseits verdoppelt wird), aber auch weiträumigere Themen wie der Parallelführung von Homosexualität und Judentum; durch Spiegelung – so etwa in der Seitenvertauschung von Status und Bildung im Herzog von Guermantes und Jupien, dem Rollenwechsel zwischen Marcel und Empfangschef im Palais Guermantes einerseits und in Jupiens Bordell andererseits (wo sich die Orangeade der Prinzessin als Cassis wiederfindet) –; aber auch durch Wiederholung, wie dem nachdrücklichen Wiederaufgreifen von Motiven aus dem ersten Band im letzten, der nahezu wortgleichen Kopie der Argumentation zum Text–Leser–Autor-Verhältnis innerhalb von lediglich rund hundert Seiten in Zeit, oder solch klassischen Doubletten wie der zweimaligen Erzählung derselben Anekdote in geringfügig veränderter Form, wie etwa der vom Prinzen von Léon bzw. von Les Laumes auf dem Land (Gefangene bzw. Entflohene).

Leriche64 1999 sieht daher eine binäre Struktur als grundlegend an, die sie als »Zeit der Irrtümer« und »Zeit der Entdeckungen« bezeichnet. Der Weg von den Irrtümern zu den Entdeckungen gleicht hier nicht der Suche eines Berufenen mit schließlich glücklichem Ausgang, sondern der dynamischen Anpassung eines in der Zeit verhafteten (synchronischen) sozialen Ich (»moi social«) an die Wirklichkeit, bei der die Irrtümer nicht abgestreift werden, sondern einen integralen Bestandteil der Entdeckungen bilden, welche ohne jene gar nicht interpretierbar wären. Das in Swann von seiner Herkunft (Elternhaus und dessen Vorgeschichte), in Mädchenblüte von seinem Trieb und in Guermantes von der Gesellschaft geprägte Ich entdeckt in Sodom nicht zuletzt dank der Etymologien Brichots das Wirken der Geschichte in der Gegenwart und damit das für die Suche entscheidende Konzept des Ich als einer Wesenheit (»Weltlinie«, in Einsteinscher Terminologie), die ihre eigene Geschichte umgreift. In der Gefangenen und der Entflohenen fördert der Erzähler sein eigenes Ich in diesem diachronischen Sinn zutage, indem er sich erst in der Beziehung mit Albertine jeglicher Sozialität entledigt und anschließend, allein gelassen, auch des Triebes, bis ihm in Zeit wie eine Offenbarung die Möglichkeit bewusst wird, dieses selbstentdeckte Tiefen-Ich (»moi profond«) in einer Rückkehr zu den Wurzeln, nämlich zu dem Grundzustand des Kindheitsparadieses, dem Außer-der-Zeit-Sein, künstlerisch fruchtbar zu machen. Die Aufteilung des Textes zwischen Sodom und Zeit in zwei Teile entspricht dem spiegelbildlichen Aufbau der Suche und insbes. der Aufteilung der Sozialisierungsphase in Peergroup (Mädchenblüte) und Erwachsenenwelt (Guermantes) insofern, als sich in der Gefangenen das Motiv der gesellschaftlichen Bindung des Ich aus Guermantes wiederfindet, hier lediglich auf eine Person reduziert und in ihr Gegenteil als Ablösung verkehrt, und als sich in der Entflohenen zahlreiche Motive aus dem Balbec der Mädchenblüte wiederfinden, insbesondere das egozentrische Motiv der ›Einsamkeit in Gesellschaft‹. Das altkluge Kind, das mit zehn oder zwölf im Eden von Combray Bergotte liest, findet in der Wiedergefundenen Zeit sein Gegenstück in dem König Ödipus der Champs-Élysées, dem Pflegefall Charlus, den Jupien als sein »großes Kind« bezeichnet. Der Vergleich der Suche mit einer Kathedrale in Zeit regt dazu an, den Teil Sodom als die Mittelachse der Suche und als den Spiegel zu sehen, in welchem die im Augenblick verhafteten »sukzessiven« und gelegentlich »intermittierenden«, kindhaften, triebhaften bzw. sozialisierten Ichs aus Swann, Mädchenblüte bzw. Guermantes den umgekehrten Weg über den Bindungsverweigerer der Gefangenen und den Triebverweigerer der Flüchtigen zurück zum naiven ersten Blick in die Erwachsenenwelt der kindischen Greise in Zeit zurücklegen, um ein integrales und konstantes Ich außerhalb der Zeit zu finden.


Bd.Veröffentlichung(zu Lebzeiten)Vorhaben / Ankündigungen
1911 – 1. Vorschlag an Grasset:Die verlorene ZeitDie wiedergefundene Zeit
1912 – Vorschlag an Gallimard:Die verlorene ZeitDie immerwährende Anbetung oder MädchenblüteDie wiedergefundene Zeit oder Les colombes poignardées
1912 – Vorschlag an Fasquelle:Die Unstetigkeiten des Herzens i. Die verlorene Zeit ii. Die wiedergefundene Zeit
1912 – 2. Vorschlag an Grasset:Auf der Suche nach der verlorenen Zeit i. Swann ii. Guermantes i – Mädchenblüte iii. Guermantes ii – Die wiedergefundene Zeit
1913 – Vorschlag an Vaudoyer:Les intermittences du passé i. Le Temps perdu ii. Le Temps retrouvé
Vorabdrucke1912/13 im Figaro
i1913Du côté de chez Swann [Grasset] ii. Guermantes (mit den beiden Kap. Madame und Land, die in etwa Mädchenblüte entsprechen)iii. Die wiedergefundene Zeit (mit dem Kap. Mädchenblüte und Kapiteln, die weitgehend Sodom entsprechen)
ii1919À l’ombre des jeunes filles en fleurs [Gallimard]iii. Guermantes (weitgehend wie später durchgeführt)iv. Sodom i (weitgehend wie als Sodom ausgeführt) v. Sodom ii – Die wiedergefundene Zeit (weitgehend wie später in den Bänden Gefangene, Flüchtige und Zeit ausgeführt)
i1919Du côté de chez Swann [Gallimard][ohne Ankündigungen]
iii.11920Le Côté de Guermantes iiv. Guermantes ii – Sodom i v. Sodom ii – Die wiedergefundene Zeit
iii.2+iv.11921Le Côté de Guermantes iiSodome et Gomorrhe i v. Sodom ii vi. Sodom iii vii. Sodom ivviii. Die wiedergefundene Zeit
iv.21922Sodome et Gomorrhe ii vi. Sodom iii vii. Sodom ivviii. Die wiedergefundene Zeit
1. Dez. 1922Verlagsankündigung der NRF:Sodom iii (Die Gefangene gefolgt von Die Entflohene)

Zur inneren Struktur

 

»Der, der ›Ich‹ sagt (und nicht immer ich ist).«

(Proust an Jean de ­Pierrefeu, Januar 1920; Corr. XIX, S. 78.)

Zu dieser häufig zitierten Bemerkung Prousts könnte man verschärfend hinzufügen: derjenige, der »Ich« in der Suche sagt, ist niemals Proust selbst, sondern entweder sein Erzähler oder die erzählte Person, nämlich das vom Erzähler erinnerte frühere Ich, das in der Sekundärliteratur im allgemeinen als »Marcel« bezeichnet wird. Die Trennung zwischen den beiden deutet sich zwar schon auf den ersten Seiten in der Traumsequenz des »wachen Schläfers« an, der von sich als Kind träumt, wird jedoch erst mit der berühmten Tasse Tee explizit vollzogen, aus der vor dem inneren Auge des offenbar schon älteren Erzählers die Erinnerung an den jugendlichen Erzähler wiederaufersteht. Mit dieser Zweigleisigkeit der Erzählung – rückblickender älterer Erzähler und jüngere erzählte Person – verbindet sich auch eine chronologische Aufspaltung in eine Erzählerzeit, die bis zum Jetzt des Erzählers reicht, und eine erzählte Zeit, die lediglich bis zum Jetzt »Marcels« reicht. Verwischen sich die Grenzen zwischen diesen beiden Zeitsträngen, so führt dies häufig zu unbestreitbaren Anachronismen, gelegentlich aber auch nur zu vermeintlichen Anachronismen, wenn etwa bei Rückblicken nicht hinreichend deutlich wird, ob es sich um einen Rückblick des Erzählers oder eine Erinnerung der erzählten Person handelt; so wird etwa die Beobachtung in Mädchenblüte S. 477, der Vater des 19jährigen Albert Bloch mache sich bei Marcels und Saint-Loups Besuch Umstände wie bei der Gelegenheit, als sein Sohn die Lehrberechtigung erhielt, nur verständlich, wenn man sie nicht als Erinnerung Marcels versteht, sondern als Erinnerung des Erzählers an die sehr viel später erfolgende »agrégation« Blochs. Ob es sich bei Prousts tatsächlichen Anachronismen schlicht um Irrtümer handelt oder nicht vielmehr, wie man bei den vermeintlichen Anachronismen jedenfalls vermuten darf, um eine absichtsvolle Auflösung der Grenze zwischen Erzähler und Marcel, lässt sich aus dem Text heraus nicht entscheiden; die meisten unheilbaren Anachronismen scheinen aber im Zuge der Textüberarbeitung entstanden zu sein, und in den Cahiers finden sich umgekehrt keine Spuren etwa nachträglich eingearbeiteter Anachronismen. (Zu Prousts Anachronismen und zur erzählten Zeit der Suche siehe im einzelnen unten, »Zur chronologischen Struktur«.)

Die Verdoppelung »dessen, der ›ich‹ sagt« gibt Proust die Möglichkeit, die objektive Wahrnehmung der Welt durch seinen »mit ungenügender Beobachtungsgabe« (Swann S. 196 u. ö.) ausgestatteten jugendlichen Protagonisten von der Warte des erfahrenen älteren Mannes zu beurteilen und zu analysieren; so ist etwa im ›Drama des Zubettgehens‹ die misstrauische Art, in der Françoise den Brief Marcels an seine Mutter betrachtet, auch für einen Zehnjährigen wahrnehmbar, aber die gänzlich subjektive Deutung, dass sie die Schrift auf dem Umschlag so eingehend betrachte, um Aufschluss darüber zu erlangen, auf welchen Artikel ihres Ehrenkodex sie sich in der gegebenen Situation zu beziehen habe, ist nur dem älteren Erzähler im erinnernden Rückblick möglich. Auf der anderen Seite gibt der Zusammenfluss von Erzähler und erzählter Person in einem gemeinsamen Ich dem Autor die Möglichkeit, die Betrachtungen des Erzählers dem betrachteten Protagonisten als eigene Wahrnehmungen zu implantieren. Leo Spitzer beschreibt dieses »geheimnisvolle Doppelspiel« etwas überspitzt als das zwischen einem »überlegen erzählenden« und einem »benommenen, dumpf erlebenden«65 Ich. Dem Leser, der sich naheliegenderweise mit dem »überlegen erzählenden« Ich identifiziert, braucht deshalb häufig auch nicht mehr gesagt zu werden, was der Erzähler schon weiß und Marcel noch nicht ahnt. Bei der doch ziemlich harmlosen Episode in Balbec etwa, in der Charlus Marcel als »kleinen Schlingel« apostrophiert und seinen Badeanzug bekrittelt, akzeptiert man zwar, dass der 17jährige Marcel dem keine große Bedeutung beimisst, ›weiß‹ aber dennoch Bescheid schon allein deshalb, weil der doch sonst alles analysierende Erzähler diese scheinbar belanglose Episode offenbar für erzählenswert befindet – und im Vertrauen auf den Leser diesem wortlos die Analyse selbst überlässt.

Eine Verdoppelung im gesamttextuellen Maßstab bildet die elaborierte Wiederholung des Swann-Romans als Albertine-Roman. Bei Erscheinen des ersten Bandes der Suche bemängelten viele Kritiker dessen »schlechte Konstruktion« (s. dazu oben das Kap. »Rezeption«, S. 83–89), bei der der Swann-Roman völlig unmotiviert in der Luft zwischen Combray und dem Bois de Boulogne hänge. Auch Rilke sprach in seiner Empfehlung von WS für Lesungen an Marie von Thurn und Taxis66 ausdrücklich nur von den Teilen Combray und Ländliche Namen: Der Name, was sicherlich so zu verstehen ist, dass er Eine Liebe von Swann für vernachlässigbar hielt. Proust wies in dem Zusammenhang immer wieder darauf hin, dass man den Rest seines Werkes abwarten müsse, bevor der Gesamtplan sichtbar werde; darauf hatte Proust ja auch schon im Text selbst auf S. 70 etwas verklausuliert mit der Passage vom »ungeheuren Bauwerk der Erinnerung« angespielt. Das bedeutet aber auch, dass Proust schon 1913 bei Erscheinen von WS vorgehabt haben muss, dem Swann-Roman an späterer Stelle seinen Platz in der Gesamtkonstruktion als Präfiguration eines noch zu schreibenden Eifersuchtsromans aus eigenem Erleben des Erzählers zuzuweisen. Dies erklärt dann auch, warum der Erzähler, der sich als heterosexuell darstellt, am Ende von SG darauf insistiert, eine Frau zu heiraten, von der er zu wissen meint, dass sie lesbisch ist:

Es ist absolut notwendig, und entscheiden wir es besser sofort, weil ich mir jetzt darüber im Klaren bin, weil ich meine Meinung nicht mehr ändern werde und ich ohne das nicht leben könnte, es ist absolut notwendig, dass ich Albertine heirate. (WS, S. 733.)

Denn dass ›verbotene‹ Lieben vorzüglichen Stoff für Eifersuchtsdramen liefern, hatte er ja schon anhand von Racines Phädra eingehend studiert; und dass es dem Erzähler vor allem um die Förderung seiner eigenen Eifersucht geht, um die Möglichkeit, sie am eigenen Fall aus nächster Nähe zu erfahren, wird auch aus dem Eifer ersichtlich, mit dem er Albertine und Andrée allein auf gemeinsame Exkursionen schickt, statt als Albertines Liebhaber oder doch wenigstens als Sittenwächter mitzufahren:

[Albertine, die] mich zwang – um Vorwände zu finden, die rechtfertigten, dass ich sie nicht begleitete, ohne dass ich allzu krank erschienen wäre, und um andererseits sicherzustellen, dass sie begleitet wurde –, tagtäglich mehr Erfindungsgabe zu entfalten als Scheherezade. (G, S. 174.)

Aber warum sollte Marcel unbedingt die Eifersucht von innen kennenlernen wollen? Die Antwort liegt an unscheinbarer Stelle verborgen:

Ich hatte einmal Françoise dabei angetroffen, wie sie mit einer großen Brille auf der Nase in meinen Papieren blätterte und eines wieder zwischen sie legte, auf dem ich einen Bericht über Swann und sein Unvermögen, auf Odette zu verzichten, aufgezeichnet hatte. (G, S. 499 f.)

Marcel schreibt demnach gerade den Roman von Swanns Eifersucht und braucht dafür Stoff! Dies wirft dann die Frage auf, inwieweit nicht die Entstehung des Marcelschen Swann-Romans die Entstehung des Proustschen Albertine-Romans spiegelt. Hat der homosexuelle Proust nicht nur seine Erfahrungen mit dem heterosexuellen Agostinelli in seinem Albertine-Roman verarbeitet, sondern ihn vielmehr von vornherein – man muss hier betonen: mitsamt seiner Verlobten – bei sich aufgenommen, um die Eifersucht auf eine Liebe, die sich seiner Erfahrungsmöglichkeit entzieht, detailliert an sich selbst studieren zu können? Dann ist er damit unumstritten äußerst erfolgreich gewesen.

Zur chronologischen Struktur

»Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.«

(Thomas Mann, Joseph und seine Brüder.)

Um eine Chronologie aus einem fiktiven Text herauszuschälen, kann man im wesentlichen zwei Wege verfolgen: eine innere Chronologie entwickeln, die sich auf zeitliche Abstände zwischen den berichteten Ereignissen und auf Altersangaben der handelnden Personen stützt, und eine äußere Chronologie, die sich Verweise auf geschichtlich verifizierbare Daten zunutze macht. Bei einer Biographie würde man erwarten, dass beide Chronologien übereinstimmen, bei einem Roman jedoch überrascht es nicht, wenn sich Diskrepanzen ergeben, sogenannte »Anachronismen«. Bei der Überlegung freilich, welches denn diese Anachronismen sind, kommt es sehr darauf an, wie man die historische Zeitachse an die fiktive Zeitachse legt, mit anderen Worten, welche historischen Zeitangaben man für wesentlich für den Text und deshalb für maßgeblich für eine Chronologie ansehen möchte, und welche nur von marginaler Bedeutung zu sein scheinen und deshalb für die Chronologie außer acht gelassen werden können, womit nicht gesagt sein soll, dass sie für den Roman nicht auch funktional sein könnten.