Tödlicher Crash

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Kapitel 13

Einen Tag später. 5. Dezember 2022.

Das Wetter passte hervorragend zur Schwärze des Tages. Wieder einmal war der Himmel, wie so oft um diese Jahreszeit, nichts als grau. Die Nebeldecke lichtete sich nicht. Heute wurde dem 52-jährigen Wolfgang Steinrigl, Finanzminister der Republik Österreich, die letzte Ehre erwiesen. Zu Hause in St. Mergen im Attergau. Seine hinterbliebene Ehefrau hatte verfügt, dass er im Heimatgrab bestattet wurde und nicht etwa am Wiener Zentralfriedhof. »Dort fühlt er sich zu Hause«, so die Witwe. Und schließlich hatte er auf dem Weg dorthin auch seine letzten Meter zurückgelegt.

Die ganze Regierungsriege war angereist, als um Punkt 10.30 Uhr mit Beginn der Abschiedsfeier Tristan und Isolde zu hören waren, die Klänge Richard Wagners. Das Lied brachte die Trauer vieler anwesender Gäste perfekt zum Ausdruck. Wer von der Regierungsriege wirklich ernsthafte Gefühle hegte, war freilich schwer abzuschätzen. Die Blicke aller waren ernst – vom Bundeskanzler bis zur Sozialministerin. Kriminalkommissar Michael Leyrhofer stand relativ weit hinten und beobachtete das Geschehen aus einiger Distanz.

Der Sarg wurde von Ortsansässigen auf den Vorplatz der kleinen Gemeinde getragen. Rund 400 Leute waren insgesamt gekommen – nicht nur aus Wien, auch aus Deutschland, Holland und Schweden waren manche Politiker extra für dieses Ereignis angereist. Da standen sie nun – nicht nur Freunde, sondern auch die Feinde und politischen Gegner sowie Konkurrenten des toten Finanzministers. Und ganz vorne waren Thomas und Sigrid, die sich fest umarmten, um diesen schweren Tag gemeinsam durchzustehen.

»Ich verneige mich vor einem großen Österreicher«, sagte der Bundespräsident zu den Trauergästen. Er gehörte derselben Partei an wie der verstorbene Politiker, der KFP. Die KFP vertrat nicht nur konservative Familienwerte, sondern hatte sich in Wahrheit vor allem dem Neoliberalismus verschrieben. De facto sorgte die Partei aber dafür, dass Österreichs Politik und Wirtschaft noch immer von klassischen Männerbünden dominiert wurden. Frauen hatten, wenn überhaupt, nur noch Außenseiterchancen in der Politik des Landes.

Das Bild der Regierungsriege beim Begräbnis bestand deshalb bis auf eine Ausnahme ausschließlich aus Männern mit schwarzen Sakkos, weißen Hemden und dem Anlass gerechten schwarzen Krawatten. Keine Diversität. Auch der Koalitionspartner verzichtete großteils auf Frauen in seiner Riege. Nur die Funktion des Sozialministers war von einer Frau besetzt. Dabei spaltete sich die »Disruptionspartei« ursprünglich aus der grünen Ecke ab, um sich dann neben Umweltthemen vermehrt auf das Fortkommen von kleinen Unternehmen mit innovativen Ideen zu fokussieren. In Wahrheit war Disruption aber nur eines dieser Modeworte der digitalen Wirtschaft und die Partei passte so gesehen perfekt zum neoliberalen Denken der KFP.

»Wolfgang Steinrigl hat dem Staat Österreich einen großen Dienst erwiesen. Seine Denkweise war ganz besonders. ›Kümmere dich nicht darum, was früher lief. In Zukunft wird es anders.‹ Diese Worte hat unser lieber Minister immer wieder und wieder betont und ist damit der österreichischen Kultur des Jammerns und Raunzens entgegengetreten mit neuen, frischen Ideen für das Land. Sein innovativer Geist wird uns fehlen. ›Mehr privat, weniger Staat‹ ist eine der erfolgreichsten Leitlinien, die dieses Land je gehabt hat. Wir sind stolz auf dich, Wolfgang!«

Hatte der Bundespräsident da etwa eine Träne im Auge? Nach der ergreifenden Rede, die auch live über Social-Media-Plattformen wie Facebook gestreamt worden war, kamen noch weitere Redner nach vorne. Auch Thomas Steinrigl trat ans Rednerpult. Als Bürgermeister war er es durchaus gewohnt, Reden zu halten, daher war er auch nur mäßig nervös, aber hier war die Aufmerksamkeit doch noch um einiges größer als sonst. Und im Gegenzug zu seinen Vorrednern, die kaum einen persönlichen Bezug zu seinem Bruder hatten, trauerte er wirklich. Seine Rede war daher kurz und persönlich. Trotz des Schmerzes bliebe vor allem eines in seinem Herzen übrig: Dankbarkeit. Diese Erkenntnis teilte er auch mit den anderen Trauergästen.

»Ein geliebter Mensch ist immer ein Geschenk. Und mein Bruder, der war neben meiner wunderbaren Frau und meinen zwei fantastischen Töchtern ein wichtiger Anker in meinem Leben. Er hat sich liebevoll um unsere Familie gekümmert und uns unterstützt – und zwar trotz seines dichten Zeitplans als Spitzenpolitiker. Wolfgang, ich weiß, deine politische Aufgabe war dir immer sehr wichtig und sie hat dich mit Stolz erfüllt. Du wolltest Österreich verändern und hast das mit deiner Politik auch geschafft. Meinen tiefsten Respekt dafür. Ich jedoch werde dich immer als den lieben, ehrlichen, verlässlichen Menschen in meinem Herzen behalten, der du abseits deiner wichtigen beruflichen Funktion warst. Wolfgang, danke, dass es dich gab. Der Schriftsteller Thornton Wilder hat einmal gesagt: ›Da ist ein Land der Lebenden und da ist ein Land der Toten; als Brücke dazwischen ist unsere Liebe.‹ Lieber Wolfgang, dieser Spruch gilt auch für uns beide. Du wirst immer in meinem Herzen sein.«

Die Rede von Thomas Steinrigl war mit Abstand die bewegendste. Zahlreiche Trauergäste hatten jetzt wässrige Augen, auch die Witwe Beate Steinrigl war unter ihnen. Sie hatte sich den ganzen Tag bewusst im Hintergrund gehalten und auch keine Trauerrede vorgetragen. Steinrigls Gattin Sigrid hatte sogar richtige Tränen in den Augen, als ihr Mann nach seiner herzzerreißenden Ansprache wieder neben sie trat. Sie griff sofort seine Hand und drückte sie fest. Ihre Blicke trafen sich. Sie waren voller Mitgefühl füreinander. Was würde er nur ohne seine Sigrid machen? Das wurde ihm in dem Moment, in dem er einen geliebten Menschen verloren hatte, wieder einmal mehr als deutlich bewusst.

Die 44-jährige Witwe Wolfgangs stand direkt neben Schwager und Schwägerin. Sie sah, dass sich die beiden wirklich liebten und miteinander verbunden waren. Sie wusste außerdem, dass die Anteilnahme von Wolfgangs Bruder Thomas aus tiefstem Herzen kam. Das versetzte ihr einen gewaltigen Stich im Herzen. Denn ihr Wolfgang hatte sie selbst nie so geliebt, wie der Thomas seine Sigrid und wie Thomas seinen Bruder liebte. Im Gegenteil: Beate wusste, dass sich Wolfgang immer wieder mit anderen Frauen vergnügt hatte, und er hatte ihr auch, außer ganz am Anfang ihrer Verbindung, nie die Beachtung und den Respekt geschenkt, die sie eigentlich verdient gehabt hätte. Sie hatte das fremde Parfüm an seinem Hemdkragen gerochen und verschmierten Lippenstift auf seinen Ärmeln gefunden. Gesagt hatte sie aber nie etwas. Sie hatte alles runtergeschluckt. Sie wusste nicht, was Wolfgang von ihrer Ehe erwartet hatte, aber sie hatte ihn definitiv aus Liebe geheiratet. Liebe, die mit der Zeit aufgrund ihrer Einseitigkeit aber mehr und mehr verblasst war. Ob daran wohl die Kinderlosigkeit schuld war, die an seiner Unfruchtbarkeit lag?

Wolfgang hatte nie etwas von Adoption hören wollen oder von einer Samenspende eines anderen Mannes. Jetzt – mit 44 Jahren – war es auch für sie biologisch fast zu spät. Dabei hätte Beate eigentlich immer gern ein Kind gehabt. Oder am besten zwei. Für Wolfgang war Beate wohl stets nur die »Vorzeigefrau« gewesen, die er zu gesellschaftlichen Anlässen mitnahm, wenn es von ihm erwartet wurde. Zu Veranstaltungen, wo er als Minister als Gastredner eingeladen war. Oder zu den zahlreichen Bällen, die in den Wintermonaten stattfanden. Das Tanzen hatte die beiden noch am ehesten ein wenig miteinander verbunden. Aber diese tiefe Liebe von Thomas und Sigrid, die hatten Wolfgang und sie nie füreinander empfunden. Deshalb fiel es der Witwe auch schwer, die richtigen Worte zu finden, ohne zynisch zu werden, und sie hatte sich bewusst dagegen entschieden, selbst ein paar Worte zu sprechen. Ihre mangelnden Gefühle hätten wohl selbst wenig aufmerksame Gäste bemerkt. Es war wesentlich klüger, das Image des glücklichen Paares auch nach dem Tod ihres Mannes aufrechtzuerhalten.

Am Ende der Wortspenden war noch einmal der Pfarrer dran. Er schloss die Trauerfeier mit folgendem Gedanken: »Lasst mich ziehen, haltet mich nicht. Gott hat meine Reise bisher gnädig gesegnet, ich kann nun getrost zu ihm zurückkehren.« (Mose – Genesis, 24,56) Der Pfarrer blickte dabei vor allem zu Beate. Und zu Thomas. Beide hielten aber gerade die Köpfe gesenkt.

Beate war froh, dass das Begräbnis sich dem Ende zuneigte. Sie hielt es nicht länger aus, wollte mit ihrem Gefühlschaos, das sie in sich trug, allein sein. Sie wusste nicht mehr, was sie denken und fühlen sollte. Wie ihr Mann jetzt genau ums Leben gekommen war, das interessierte sie nicht. Nicht mehr da war er. Und das war schmerzhaft. In ihr drin schlummerten doch noch gedämpfte Gefühle für ihn, und all die schönen Stunden, die sie trotz allem miteinander verbracht hatten, zogen an ihr vorbei wie eine Wolkendecke. Der Moment, an dem er sie zum ersten Mal in den Arm genommen hatte. Als sie gemeinsam Boule spielen waren und ihre Kugel unmittelbar neben seiner im Sand gelandet war. Oder der Moment, als sie bei einer Umdrehung beim Tanzen fast aus seinen Armen geglitten war und er sie im letzten Moment noch auffangen konnte. Nicht alles mit Wolfgang war schlecht gewesen, auch wenn er in für sie entscheidenden Momenten nie für sie da war.

Beate war von all dem Rummel genervt. Die Medien sollten sie endlich in Ruhe lassen. Auch jetzt gingen ihr die Fotografen auf den Geist, obwohl prinzipiell nur einige wenige Ausgewählte zugelassen worden waren. Mit einem Mal wurde ihr auch schlagartig bewusst, dass für sie ab sofort auch alle gesellschaftlichen Ereignisse, die für dieses Frühjahr noch vor ihnen beiden gelegen wären, passé waren. Schade war es vor allem um die tolle Ballsaison. Alleine konnte sie sich als trauernde Witwe schlecht am Opernball zeigen. Das würde man ihr als pietätlos auslegen. Und jetzt noch schnell ein Kind mit einem Unbekannten machen, das ging als Ministerwitwe auch nicht. Sie hatte ihr eigenes Leben immer hintenangestellt, um für ihren Mann da zu sein, wenn er sie brauchte. Was hatte ihr das jetzt gebracht? An dieser Frage verzweifelte die Witwe in dem Augenblick mehr als am Tod ihres Mannes. Die Träne in ihrem rechten Auge wirkte somit zumindest echt – wenn sie auch aus anderen Gründen, als für die meisten Außenstehenden ersichtlich war, floss. Die letzten Gäste streuten Erde in das offene Grab. Ein paar Kinder ließen Blumen auf den Sarg fallen. Bald war es überstanden. Sigrid und Thomas umarmten sich fest. Sie trauerten gemeinsam. Natürlich kamen sie zu Beate und Thomas sagte: »Wir sind jederzeit für dich da. Wenn wir was tun können, lass es uns wissen.« Aber Beate hatte zu den beiden nie ein inniges Verhältnis aufbauen können und würde ihr Angebot daher nicht in Anspruch nehmen wollen.

 

Im Hintergrund gehalten hatte sich während der ganzen Zeremonie auch der Bankberater der Steinrigls, der ebenfalls zur Beisetzung eingeladen worden war. Ihn einzuladen hatte sich gehört, schließlich hatte er auch jahrelang die Finanzen von Wolfgang verwaltet, bevor dieser zum Minister ernannt wurde und sein Hauptkonto zu dessen Bedauern zu einer anderen Bank verlegen musste. Ein kleines Sparbuch hatte Wolfgang Steinrigl noch immer auf der lokalen Bank liegen gehabt. Dass der Bankberater zum Begräbnis kam, war in Ordnung. Aber dass er die Frechheit besaß, Thomas während der Zeremonie zuzunicken, regte diesen innerlich gewaltig auf. Nicht einmal am Grab seines verstorbenen Bruders hatte man seine Ruhe vor dem Finanzhai! Thomas musste an den Kredit denken, der wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf schwebte. Die finanzielle Situation der Familie belastete ihn einfach sehr. Warum nur hatte er neben den Melk- und Fütterungsrobotern auch noch das 10.000 Euro teure System gekauft, mit dem er seine Kühe überwachen und genauestens beobachten konnte! »Die Tiere erkranken dadurch weniger häufig und liefern noch bessere Erträge«, versprach der Hersteller des Systems. Funktionieren sollte dies dadurch, dass möglichst viele Daten von der Kuh erhoben wurden, um Rückschlüsse auf ihren Gesundheitszustand zu ziehen, um rechtzeitig eingreifen zu können. Bewegungsmesser, Brunstbeobachtung und Wiederkauaktivitätssensoren waren im Paket enthalten. Aber das war alles so ein Humbug! Bis jetzt war dies nur rausgeschmissenes Geld, das ihm jetzt so sehr fehlte. Das zahlte sich vielleicht für eine größere Herde aus, aber nicht für seine 80 Tiere. Jedenfalls hatte er daraus noch keinen messbaren Profit schlagen können. Für 10.000 Euro erwartete man sich hilfreiche Ergebnisse. Aber das System war einerseits sehr ausfallanfällig, andererseits hatten sie alleine aufgrund der Daten noch keinen Liter Milch mehr aus den Kühen rausholen können als zuvor. Außerdem hatte der Hersteller verschwiegen, dass die geeignete Software zur Analyse und Auswertung dieser Daten extra gekauft werden musste. Das waren Dinge, die hätte ihm einmal wer sagen müssen – und zwar vor dem Kauf der Sensoren! Selbst hatte der Landwirt und Bürgermeister einfach nicht die Zeit dafür, sich intensiver mit den Messergebnissen zu beschäftigen – außerdem konnte das kein Mensch so gut analysieren wie die Software. Und um die Befindlichkeiten seiner Tiere zu kennen, brauchte man die Sensoren nicht. Krank waren seine Tiere sowieso selten und wenn, dann wusste er auch ohne Überwachung, wie er zu reagieren hatte. Sein Bruder hätte ihm sicher die jetzt fehlende Geldsumme nach dieser Geschichte, ohne mit der Wimper zu zucken, vorgestreckt.

Sonja und Barbara, die 16-jährigen Zwillingsmädchen der beiden, warfen gerade ihre Blumen ins offene Grab, als Sigrid sanft die Hand ihres Mannes drückte und ihn damit aus den düsteren Gedanken zurück in die Gegenwart holte. Thomas sah seine Frau an und sagte: »Auf geht’s zum Leichenschmaus. Wolfgang hätte gewollt, dass wir uns auf das gute Essen freuen!«

Weder Sigrid noch Thomas hatten bemerkt, dass sie ein unbekannter Herr, der ganz offenbar niemanden kannte und so gar nicht zur Trauergesellschaft dazugehörte, aus der Ferne beobachtet hatte. Kommissar Michael Leyrhofer runzelte die Stirn. Irgendwas war da bei dem Bruder des Ministers, außer der Trauer. Er hatte dessen finsteren Blick beobachtet, und er sah die Sorgenfalten auf der Stirn von Sigrid. Der Kommissar hatte immer schon ein feines Gespür für Menschen gehabt. Gleich nach dem Leichenschmaus, dachte er sich, würde er den beiden auf ihrem Hof einen Besuch abstatten. Davor, das verbot ihm sein Respekt vor dem Toten, würde er ihnen noch Zeit für ihre Gäste geben und sich stattdessen ein wenig im Dorf umhören. In kleinen Gemeinden wusste schließlich jeder über jeden Bescheid. Vielleicht lag hier ja bereits ein Motiv für den vermeintlichen Mord vergraben.

Kapitel 14

»Endlich haben wir das geschafft«, sagte Sigrid zu ihrem Mann, als die beiden mit ihren zwei Mädchen nach dem langen, intensiven Trauertag nach der Kirche und dem Wirtshaus auf ihren Hof zurückkamen. Tochter Sonja zog hastig ihren schwarzen Wintermantel aus und sagte zu ihrer Schwester Barbara: »Und, was machen wir jetzt?«

Die antwortete: »Gehen wir aufs Zimmer und schauen die nächste Staffel von Schneeball-Queen auf Netflix.«

»Ja, machen wir das.«

So schnell konnten die beiden Erwachsenen gar nicht schauen, da waren sie allein in ihrer Bauernstube. Sie zündeten das Feuer im Kamin an, um die beginnende, sich durch die im alten Gemäuer befindlichen Ritzen hereinschleichende Kälte von draußen wenigstens etwas einzudämmen. Sigrid setzte das Teewasser auf. Abends, da tranken die beiden keinen Kaffee mehr, sondern nur noch warme Kräutermischungen. Das hatte Sigrid auch ihrem Mann so angewöhnt, der früher gerne noch zu später Stunde einen Kaffee getrunken hatte, einfach, weil es ein warmes Getränk war. Plötzlich klingelte es. »Wer kann denn das jetzt noch sein?«, fragte Sigrid erstaunt. Die Bäuerin ging zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit.

»Guten Abend! Entschuldigen Sie die späte Störung, aber ich muss dringend mit Ihnen sprechen. Ich bin der Kriminalkommissar, der im Todesfall Ihres Schwagers ermittelt. Wir hatten bereits miteinander telefoniert. Es tut mir leid, dass ich mich nicht vorangemeldet habe, aber ich hätte da ein paar Fragen an Sie.«

Kriminalkommissar Leyrhofer war es etwas unangenehm, dass er sich nicht doch ein Pensionszimmer gebucht hatte und erst am nächsten Morgen zu dem Ehepaar gegangen war. Drinnen brannte der Kamin und es sah so aus, als würden die beiden noch ihre Trauer gemeinsam aufarbeiten. Entsprechend ablehnend war auch die erste Reaktion auf seinen Besuch. »Ich habe doch schon alles der Polizei gesagt«, seufzte Sigrid Steinrigl und war kurz davor, die Tür wieder zu schließen. Sie hatte das am Unfallort Erlebte schon oft geschildert und ihre Aussage auch zu Protokoll gegeben. Das letzte Mal war sie von einem der Beamten so behandelt worden, als hätte sie etwas mit dem Tod ihres Schwagers zu tun.

»Ich will diesmal auch gar nicht mit Ihnen sprechen«, sagte der Kommissar in bestimmtem Tonfall, »sondern mit Ihrem Mann.« Abwimmeln lassen wollte er sich jetzt nicht. Sigrid schien dies zu bemerken und öffnete die Tür ganz. Vielleicht war es besser, den Beamten nicht zu verärgern, dachte sie sich. Ärger hatten sie schließlich derzeit schon genug.

»Na, dann kommen Sie herein. Aber das nächste Mal rufen Sie bitte vorher an, der Tag der Beerdigung meines Schwagers ist wirklich nicht der optimale Zeitpunkt für Ihren Besuch.«

Der Zynismus in Sigrids Stimme war deutlich zu hören. Der Kommissar nahm es gelassen. Wo sie recht hat, hat sie recht, dachte er sich. Nichtsdestotrotz konnte die Arbeit nicht warten. Bisher hatte der Kommissar keinen einzigen ernstzunehmenden Verdächtigen und der Crash lag jetzt schon 14 Tage zurück. Allerdings, das musste er sich zu seiner Verteidigung immer wieder selbst sagen, wusste man erst seit sieben Tagen, dass es sich bei dem Delikt um einen Mord gehandelt hatte. Den arbeitslosen Hobby-DJ, den das »Precrime«-System ausgespuckt hatte, ordneten seine Kollegen und er eher in die Kategorie »dummer Zufall« ein. Seine Befragung im Ort heute Mittag hatte allerdings auch nicht das ergeben, was er sich gewünscht hatte. Da musste er noch einmal wiederkommen und nachbohren, denn das halbe Dorf schien beim Leichenschmaus gewesen zu sein und seine Ermittlungen waren diesbezüglich nicht sehr weit vorangeschritten. Umso wichtiger war es, dass er die Befragung von Thomas Steinrigl jetzt sorgfältig führte und genau hinhörte, ob sich hier Ungereimtheiten ergaben. Sein Gefühl sagte ihm, dass das Ehepaar irgendetwas bedrückte. Doch hing das wirklich mit dem Tod ihres Familienangehörigen zusammen?

Der Kommissar blickte durch die Bauernstube. Schon beim Reinkommen war ihm neben den Tassen mit dem dampfenden Tee gleich ein zentral platziertes Display aufgefallen, das an der Wand befestigt war, als plötzlich der Hausherr, Thomas Steinrigl, zu ihm kam und ihm verlegen die Hand schüttelte. »Herr Steinrigl, bitte nehmen Sie es mir nicht übel, dass ich Sie an so einem traurigen Tag stören muss. Es ist nur mein Job«, entschuldigte sich der Kommissar einmal mehr beim Landwirt.

»Kein Problem, ich versteh das, dass Sie auch nur Ihren Job tun müssen. Kommen S’ rein in die gute Stube. Wollen S’ einen Tee? Sigrid hat uns gerade einen gemacht. Das Wasser kocht sicher noch.«

»Gerne doch. Rein aus Neugier: Darf ich fragen, was Sie da an der Wand hängen haben?«

»Ach das«, sagte der Landwirt. Sein Blick verfinsterte sich schlagartig. »Das ist ein Display für den Kuhstall. Damit können wir immer sehen, was die Roboter gerade machen. Wir haben Melkroboter und Fütterungsroboter und Sensoren, die unsere Tiere rund um die Uhr überwachen.«

»Spannend, spannend. Bei unserer Arbeit sollen uns auch Computer dabei helfen, effizienter zu sein und Fälle schneller aufzuklären. Mein subjektives Gefühl sagt mir aber, dass das nicht wirklich etwas bringt. Ich wusste gar nicht, dass man in der Landwirtschaft genau denselben Fehler macht.«

»Wenn man so wenig Zeit hat wie ich, braucht man das«, seufzte der Landwirt. »Das ist schon eine enorme Arbeitserleichterung. Und den Tieren schadet das nicht. Zumindest haben wir noch nichts bemerkt.«

»Ganz glücklich wirken Sie damit aber nicht«, stellte der Kommissar fest.

»Schauen Sie, die Zeitersparnis durch die Automatisierung ist enorm. Nur so kann ich meine Funktion als Bürgermeister dieser wunderschönen Gemeinde überhaupt ausführen. Aber bis wir die Kosten der Anlage wieder reinkriegen, das kann dauern.«

»Wie viel kostet so etwas denn?«

»Das wollen Sie gar nicht so genau wissen. Ein Melkroboter alleine kommt auf 120.000 Euro. Wir haben zwei davon. Und dann kommen da noch die Steuerungsanlage dazu, die Fütterungsroboter und die Spaltenroboter, die die Laufgänge reinigen. Dann haben wir noch automatische Selektionstore, damit die Kühe immer rechtzeitig gemolken werden. Und dann haben wir noch verschiedene Sensoren zur Überwachung der Tiere. Aber ich schätze, so genau wollten Sie das alles gar nicht wissen. Entschuldigung, wenn ich Sie damit vollquatsche. Sie sind ja wegen was ganz anderem da.«

»Nein, nein, das ist alles sehr interessant. Auch wenn ich selbst nicht unbedingt ein Freund der modernen Technik bin, das ist doch trotzdem die Zukunft, oder? Zumindest wird uns das immer eingeredet. Wie viel kostet das denn jetzt alles zusammen?«

»Über eine Million Euro. Wir haben dafür einen Kredit aufnehmen müssen«, sagte der Landwirt zaghaft. Ohne es zu merken, entstanden auf seiner Stirn Falten und sein Ausdruck wurde ganz hart.

»Der Kredit … Bringt Sie der jetzt vielleicht in Schwierigkeiten?«

Der Landwirt blickte auf zum Kriminalkommissar und schluckte. Plötzlich wurde er ganz nervös und fing sofort an, sich zu verteidigen. Da hatte Leyrhofer wohl ins Wespennest gestochen. »Das dürfen S’ jetzt nicht falsch verstehen! Ich mein … Natürlich hilft uns die Lebensversicherung von meinem Bruder jetzt weiter, aber glauben S’ mir, froh bin ich deswegen nicht über seinen Tod!«

»Welche Lebensversicherung?«

»Ach so, ich dachte, dass Sie wegen der hier sind«, sagte Thomas Steinrigl überrascht. »Mein Bruder hat mich als Begünstigten eingetragen. 50 Prozent bekomme ich neben seiner Ehefrau, weil er selbst keine Kinder hat und unsere Eltern tot sind. Die Summe käme uns gerade sehr gelegen. Wenn wir bis Monatsende die Kreditrate nicht zahlen können, schaut’s schlecht aus für unseren Hof. Wir könnten einen Teil davon verlieren, zumindest ein Stückchen Grund. Das würde bedeuten, dass wir einen Teil unserer Milchkühe verkaufen müssen, weil wir nicht genügend Land für die Futterproduktion haben. Dann würden wir noch weniger Erträge erwirtschaften und noch mehr in Zahlungsverzug kommen. Und dann hat sich dieser neumodische Krempel am Ende tatsächlich absolut nicht ausgezahlt«, erläuterte Thomas Steinrigl seine Misere. »Aber ich dachte, das wissen Sie schon alles. Bei seiner Frau Beate waren Sie doch sicher schon.«

 

»Nein, das wusste ich bisher nicht. Aber danke, dass Sie so offen sind. Das macht Sie gleich viel weniger verdächtig«, sagte der Kommissar und lachte. Der Landwirt fand das freilich weniger witzig. Er lief rot an im Gesicht und sah weg. Entweder, er fühlte sich ertappt, oder ihm war das Ganze einfach nur peinlich.

»Und haben Sie schon Kontakt mit der Versicherung aufgenommen?«

»Natürlich, gleich am nächsten Tag.«

»Und?«

»Das dauert, sagen die.«

»Kennen Sie sich eigentlich gut mit der Technik aus, die da bei Ihnen am Hof jetzt zum Einsatz kommt?« Zwischen der Fragerei nahm der Kommissar einen Schluck aus seiner Tasse Tee, die ihm Sigrid mit einem noch immer alles andere als freundlichen Blick auf den Tisch gestellt hatte.

»Ja, wie man es nimmt. Ich kann alles bedienen und es funktioniert alles. Ein Supertechniker muss man dafür nicht gerade sein, aber natürlich braucht man ein gewisses Verständnis dafür. Nur einmal hat’s ein bisschen einen Wirbel gegeben. Da sind die Schleusen von selbst aufgegangen und meine Kühe sind ins Dorf gerannt«, erzählte Thomas Steinrigl.

»Aha. Und woran lag das?«, fragte der Kommissar. Er konnte sich dunkel daran erinnern, davon ein Foto in der Zeitung gesehen zu haben. Da stand auch dabei, dass es sich beim betroffenen Landwirt um den Bruder des Ministers gehandelt hatte. Aber das hatte er in der Zwischenzeit längst wieder vergessen gehabt. Jetzt schrieb er sich nebenbei rasch in sein Notizbuch: ›Kuhstall. Fehlalarm. Minister. Zeitungsberichte checken.‹

»Das weiß ich bis heute nicht so genau. Wir haben einen Techniker kommen lassen. Danach hat’s wieder funktioniert.« Thomas Steinrigl blickte zu seiner Frau hinüber. Er fühlte sich von den Fragen des Kriminalkommissars langsam ein wenig ins Eck gedrängt. Warum wollte der das alles von ihm wissen? Der Kommissar ließ überdies nicht locker. »Und warum, glauben Sie, war Ihr Bruder an dem Tag in der Gegend unterwegs? War er auf dem Weg zu Ihnen?«

»Das weiß ich, ehrlich gesagt, nicht. Ein paar Tage vor seinem Tod haben wir miteinander telefoniert und ich hab ihm von meiner finanziellen Lage erzählt. Das hat ihn natürlich nicht sehr erfreut, er war besorgt. Ich glaub, er wollte vorbeikommen und mir seine Hilfe anbieten.«

»Aber sicher sind Sie sich nicht?«

»Nein. Zumindest war nichts geplant in der Richtung. Wenn, dann wär das ein spontaner Besuch von ihm gewesen. Das ist aber äußerst selten passiert.«

»Wir wissen von seinem Terminplan, dass er davor bei einem Termin war, der nicht allzu weit entfernt gelegen ist.«

»Na, das könnte schön passen. Mein Bruder hatte ein irrsinniges Pflichtgefühl gegenüber seiner Familie. Er hat mir in der Vergangenheit schon einmal ausgeholfen, also finanziell, mein ich. Ich hab ihm damals aber alles zurückgezahlt!«

»Das glaube ich Ihnen, keine Sorge.« Der Kommissar versuchte, den aufgeregten Bauern etwas zu beschwichtigen. Trotzdem musste er ihm noch ein paar Fragen zu seinem Verhältnis zu seinem Bruder stellen. »Haben Sie sich eigentlich immer gut verstanden, Sie und Ihr Bruder?«

»Eigentlich ja, immer. Unser Vater hat mir den Hof überlassen, obwohl ich der Jüngere von uns beiden bin. Das ist, von außen betrachtet, am Land eher unüblich und lag daran, dass der Wolfgang immer Wirtschaft in Wien studieren wollte. Er bekam stattdessen vom Vater den Grund am See. Der war plötzlich sehr viel mehr wert als gedacht. Das war sein Glück. Er konnte ihn teuer verkaufen.«

»Welchen Grund hatte Ihr Bruder denn?«

»Das war ein Grundstück mit Seeblick direkt zum Attersee. Es war eigentlich Ackerland, wurde aber umgewidmet in Bauland, noch bevor ich zum Bürgermeister gewählt wurde. Und mein Bruder hat dafür eine ordentliche Summe Marie bekommen. Das hat er dann clever investiert. In Aktien. Ich sag’s ja, ein Finanzgenie. Glauben S’ mir, er ist nicht umsonst der Finanzminister von Österreich geworden!«

Thomas Steinrigl war sichtlich stolz auf den Erfolg seines Bruders. Neid und Missgunst konnte der Kommissar aus dessen Augen jedenfalls nicht herauslesen. Aber trotzdem galt es jetzt, Vorsicht walten zu lassen und Thomas Steinrigl und seine Frau auf die Liste der Verdächtigen zu setzen. Manchmal täuschte ihn sein Instinkt schließlich auch. Vielleicht wollten die beiden doch an das Geld der Lebensversicherung? Schließlich kannte sich Thomas Steinrigl mit Technik aus, und seine Frau war wie durch Zufall am Unfallort anwesend gewesen. Sie konnte irgendetwas vertuscht haben, was den Polizisten vor Ort nicht aufgefallen war. Und er, ihr Ehemann, konnte das Auto auch aus der Ferne gesteuert haben. Das musste auf jeden Fall noch genauer überprüft werden, da war sich Leyrhofer sicher. »Eine letzte Frage hätte ich da noch an Sie …«

»Ja?«

»Wo waren Sie am 20. November zwischen 16.00 und 17.30 Uhr?«

»Am Gemeindeamt. Da hatten wir Gemeindesitzung, das können sechs Herren bezeugen.« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Die Frage war aber auch sehr naheliegend gewesen.

»Das müssen wir selbstverständlich überprüfen. Danke für Ihre Kooperation.« Der Kommissar wusste bereits, dass das Alibi von Steinrigl stimmte. Das hatte ihm bereits einer der Gemeinderäte im Dorf ungefragt erzählt. Trotzdem war sich der Kommissar sicher, dass er nicht zum letzten Mal in der Gemeinde St. Mergen im Attergau zu Gast war. Für heute, sagte sich der Kommissar nach einem Blick auf die Uhr, reichte es aber. Die Befragung war so weit zu Ende und der Blick auf seine Uhr sagte ihm, dass es bereits 20.12 Uhr war. Das war keine Zeit, um weiter zu stören. Zumindest nicht am Land. »Danke, dass Sie sich so viel Zeit für meine Fragen genommen haben. Wie Sie sich sicher denken können, müssen wir uns wahrscheinlich noch einmal unterhalten. Nächstes Mal melde ich mich allerdings vorher an. Ich würde Sie bitten, in den nächsten Wochen nicht das Land zu verlassen, Sie stehen unter Mordverdacht.«

Nicht das Land verlassen? Was war denn jetzt in den Kriminalkommissar gefahren? Thomas Steinrigl schluckte. Zählte er jetzt etwa ernsthaft zum Kreis der Verdächtigen, obwohl er ein hieb- und stichfestes Alibi hatte? Er, der seinen Bruder über alles geliebt hatte? Für Geld beging er doch keinen Mord! Abgesehen davon: Wieso überhaupt Mord? Bisher war doch nur von einem Unfall die Rede gewesen.

»Mord? Sagen S’ bloß, mein Bruder ist ermordet worden!«

»Es deutet derzeit alles darauf hin. Aber mehr dazu können wir Ihnen noch nicht sagen«, sagte der Kommissar, der seinen »Verdacht« einmal mehr schwinden sah. So reagierte einfach niemand, der den Mord an seinem Bruder geplant hatte. Thomas Steinrigl wirkte ernsthaft überrascht. So viel schauspielerisches Talent traute er dem Herren nicht zu.

»Keine Sorge, das ist reine Routine. Sie brauchen sich wirklich keinen Kopf deswegen zu machen. Bei uns wird niemand unschuldig eingesperrt«, so die letzten Worte des Kriminalkommissars.

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