Tödlicher Crash

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Kapitel 10

An dem Ort, an dem Wolfgang Steinrigl zu Tode gekommen war, standen drei Tage nach seinem Tod überall Kerzen. Dutzende Kerzen. Es hingen auch Lebkuchenherzen an dem Baum, gegen den das Auto geknallt war, gekauft auf den ersten Weihnachtsmärkten, die bereits überall im Land ihre Pforten geöffnet hatten. Auch ein schön geschmückter Kranz war zu finden. Darauf stand: ›Wir vermissen dich!‹ Der Kranz stammte von dem Bruder des Toten, Thomas Steinrigl, und seiner Ehefrau Sigrid und ihren zwei Töchtern.

Thomas Steinrigls Ehefrau stand noch immer unter Schock. Dass sie den grausigen Tod ihres Schwagers am Unfallort fast live miterleben musste, das war doch etwas viel für sie gewesen. Die Medien belagerten ihr Haus schon seit Tagen. Und lange würde es nicht mehr dauern, bis sie entdecken würden, wie es um den Hof stand. Dass sie knapp davor waren, ihn verkaufen zu müssen.

Dass ihr Schwager ausgerechnet drei Kilometer entfernt von dem Ort, an dem er aufgewachsen war, im noch viel zu jungen Alter von 52 Jahren sterben würde, das hätte sich Sigrid nicht gedacht. Das hatte er nicht verdient. Sicher war ihr Mann, der Bürgermeister der 4.169-Seelen-Marktgemeinde im Bezirk Vöcklabruck, schon mal ein wenig eifersüchtig auf seinen erfolgreichen, superreichen Bruder gewesen, aber dieser unterstützte ihn, so gut er konnte. Da gab es nichts. Einmal hatte er schon tief in die Tasche gegriffen, als ihr Mann in Nöten war. Ihr Mann hatte ihm aber alles zurückgezahlt, wie es sich gehörte.

Doch warum war Wolfgang auf dem Weg zu ihnen gewesen, ohne vorher Bescheid zu sagen? Klar hatte ihr Thomas erzählt, dass sie vor ein paar Tagen noch miteinander telefoniert hatten. Da hatte er ihm gebeichtet, wie schlecht es um die Finanzen der Familie stand und dass sie möglicherweise ziemlich bald einen Teil des Grundstücks verkaufen mussten wegen der hohen Schulden, die er angehäuft hatte. Aber war das der Grund für seinen Überraschungsbesuch?

Seit sie ihren Landwirtschaftsbetrieb mit 80 Kühen auf Vollautomatisierung umgestellt und dazu einen Millionenkredit aufgenommen hatten, war der Milchpreis kontinuierlich gesunken. Politische Sanktionen auf der einen Seite, die Aufhebung der Kontingentierung auf der anderen Seite hatten dazu geführt. Zur selben Zeit wie die Milchkrise im Jahr 2015 war auch noch die Kontingentierung aufgehoben worden und es hatte plötzlich keine Obergrenzen mehr bei der Milchproduktion gegeben. Der Markt wurde liberalisiert. Das war einer der Gründe, warum sie überhaupt in die Automatisierung ihres Milchbetriebs investiert hatten. Aber die Marktliberalisierung war halt nicht ganz das, was sich die Milchbauern erhofft hatten: Es wurde insgesamt viel zu viel Milch produziert, was den Preis ordentlich nach unten drückte. Für die Familie Steinrigl bedeutete das: Schulden, Schulden, Schulden. Zuletzt wussten sie nicht einmal mehr, wie sie den Schulausflug ihrer beiden Mädchen finanzieren sollten.

Thomas’ Bruder hingegen, der hatte gar keine finanziellen Sorgen. Er war gleich nach seiner Zeit beim Bundesheer mit 19 Jahren nach Wien gegangen, um dort Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Schon lange bevor der Vater starb, verzichtete Wolfgang, obwohl er der Ältere der beiden war, auf den Hof. Der Vater schenkte ihm stattdessen das Grundstück in Seenähe. Eigentlich war das Grundstück weit weniger wert gewesen als der Hof und der dazugehörige Grund. Wäre da nicht die Lage gewesen. Und die Umwidmung. Sicher war es schon immer schon ein schönes Fleckchen Erde gewesen. Man konnte bis an den See runter sehen. Und der See, der glitzerte zu jeder Tageszeit in einer anderen Farbe. In den Morgenstunden war er dunkelblau, zu Mittag türkis und am Abend verschmolzen Wasser und Himmel oft in einem gemeinsamen Farbton. Himmelblau.

Wolfgang Steinrigl hatte dort oft heimlich gelesen. Schön versteckt im Getreidefeld. Auch ein Mädchen hatte er zum ersten Mal dort geküsst. Die Gerste so hoch, dass sie keiner dabei beobachten konnte, zog er seine Marie damals dicht an sich heran und steckte ihr die Zunge in den Hals. Sie waren beide 15. Aber das Feld war eben nichts weiter als ein Feld gewesen – bis zur Umwidmung in Bauland. Und damit war das Grundstück schlagartig weit mehr wert als zuvor. Und der Preis war weiter gestiegen.

Plötzlich war nämlich immer mehr Prominenz an den See gekommen. Ausgelöst durch den einen berühmten Schriftsteller und eine Schauspielerin, die wirklich jeder kannte, wurde der Attersee schlagartig wieder in. Österreichs High-Society hatte sich regelmäßig blicken lassen. Und die Grundstücke in Seenähe waren immer gefragter geworden. Wolfgang Steinrigl hatte das ehemalige Ackerland schließlich zu einem verdammt guten Preis verkauft. Fast eine Million Euro hatte er durch den Verkaufserlös erzielt. Und dann hatte er das Geld in Aktien gesteckt. Dafür hatte er schon immer ein Händchen gehabt. Natürlich war Sigrids Mann Thomas da neidisch auf seinen Bruder gewesen. Dieser hatte nie hart arbeiten müssen und war reich geworden, während er, Thomas, sich am Hof abrackerte, um seine Familie durchbringen zu können. Aber Wolfgang Steinrigl wollte sich gar nicht zurücklehnen und seinen Reichtum genießen. Das Geld war seine Grundlage, um dann in Folge das zu tun, wovon er selbst überzeugt war. Er wollte die Welt verändern. Oder zumindest die österreichische Finanzlandschaft. Auch bei der Milchpreis-Liberalisierung hatte Minister Steinrigl seine Finger im Spiel gehabt. Er hatte Sigrids Mann den Tipp gegeben, in Milchkühe weiter zu investieren. Wenn Wolfgang jetzt wüsste, was für einen Schaden er mit seinem »Tipp« angerichtet hatte! Aber nein, Vorwürfe waren hier fehl am Platz, dachte sich Sigrid. Wolfgang hatte es nur gut gemeint mit ihnen.

Wolfgang bedachte seinen Bruder Thomas in seiner Lebensversicherung neben seiner eigenen Frau, die er zwar schätzte, aber nicht wirklich liebte, zu 50 Prozent. Er hatte schließlich keine eigenen Kinder. Das lag an seiner Unfruchtbarkeit, aber über die wurde nie gesprochen. Sigrid und ihr Mann hofften jetzt, dass die Versicherung das Geld bald zahlen würde. 50 Prozent des Vermögens von Wolfgang würde die beiden nicht nur aus ihrer Misere befreien, sondern sie könnten auch weiter investieren oder expandieren. Oder sich ein Seegrundstück sichern, das sie in Folge verpachten könnten. Ein Traum wäre das, dachte sich Sigrid. Endlich einmal keine Geldsorgen mehr.

Derzeit sah es allerdings nicht danach aus, als würde es bald zur Auszahlung kommen. Solange nicht geklärt war, ob es sich um einen Unfalltod handelte oder ob das Produkt des Autoherstellers defekt war – die Versicherung war schließlich auch zum ersten Mal mit der Haftungsfrage rund um ein selbstfahrendes Auto konfrontiert –, wollte man noch keine Versprechungen machen, wann die Summe ausbezahlt würde.

Auf der einen Seite hatte Sigrid ein schlechtes Gewissen, weil ihr Schwager noch nicht einmal begraben war und sie an nichts dachte als an sein Vermögen, auf der anderen Seite verfluchte sie die Versicherung. Wenn man sie einmal brauchte, dann war sie nicht da und drückte sich vor der Zahlung.

Auch Sigrids Mann Thomas saß schon wie auf Nadeln – ausgerechnet die Bank, die ihm eingeredet hatte, dass das ein bombensicheres Geschäft mit den Melkrobotern und Fütterungsrobotern werden würde, machte ihm jetzt ordentlich Druck. Wenn er nicht bis zum Monatsende, also bis zum neuen Jahr, die Rate zahlen konnte, würde ein Teil seines Grundstücks in den Besitz der Bank übergehen. »Hoffentlich zahlt die Versicherung bald«, sagte er Sigrid jeden Tag vorm Schlafgehen, bevor sie das Licht abdrehten. Auf Thomas’ Stirn grub sich dabei jedes Mal eine Falte ein. Eine Falte, die erst seit den Geldsorgen aufgetaucht und die Sigrid sofort aufgefallen war. »Mach dir keine Sorgen«, raunte Sigrid ihm dann zu. Sie war sein Fels in der Brandung. Thomas strich mit seinen Fingern durch ihre langen braunen Haare, die sie abends immer offen trug. »Wir schaffen das. Gemeinsam schaffen wir das.«

Kapitel 11

Stefanie Laudon war lästig. Kriminalkommissar Michael Leyrhofer hatte bisher mit dieser Journalistin von »24 Stunden« noch nie etwas zu tun gehabt. Sie schien normalerweise keine Mordfälle zu betreuen. Aber irgendwie hatte sie es geschafft, seine Handynummer rauszufinden. Sie erzählte ihm am Telefon die ganze Zeit etwas von wegen: »Das Auto war programmiert, um zu töten«. Und fragte ihn Dinge wie: »Hat man schon den Grund gefunden, warum das Auto gegen die Baumallee gekracht ist?« Er spulte daraufhin seinen Standardsatz ab: »Zu laufenden Ermittlungen können wir Ihnen derzeit keine Auskünfte erteilen. Wenden Sie sich bitte an die Pressestelle.«

Natürlich merkte diese Journalistin, dass das nur Ausflüchte waren. Leyrhofer brauchte Zeit. Zeit für die Ermittlungen. Bisher war seine Liste mit potenziell Verdächtigen noch nicht lang. Der Computer, der seit neuestem als Ergänzung zur herkömmlichen Ermittlungsarbeit »vorausschauende Analysen« erstellte, hatte zumindest drei Namen ausgespuckt. Einer davon, und das beunruhigte ihn wiederum, war der Name von dieser Journalistin. Stefanie Laudon. Wieso stand die da drauf? Auf jeden Fall musste sein Team sie überprüfen. Das verschob er allerdings auf später. Seine Intuition sagte ihm allerdings, dass der Computer in diesem Fall wohl falsch lag.

Die zwei weiteren Namen, die der Computer ausgespuckt hatte, waren Fritz Fuchsbauer und Manuel Erlach. Der Erste arbeitete im Finanzamt als Angestellter. Der Zweite war offiziell arbeitslos gemeldet. Über sein Facebook-Profil war allerdings rauszufinden, dass er als DJ regelmäßig Auftritte in Wiener Underground-Clubs hatte. Gemeinsam mit Erwin Hufnagl vom Cyber Security Competence Center (CSCC) analysierte der Kriminalkommissar nun die Ergebnisse. Hufnagl hatte schon ein wenig recherchiert.

 

Fritz Fuchsbauer hatte offenbar zahlreiche böse E-Mails verfasst, in denen er den Finanzminister beschimpft hatte. Woher der Computer das wusste? In den geltenden Rechtsvorschriften für Ministerien gab es seit knapp einem Jahr einen Passus, der besagte, dass der Arbeitgeber den Inhalt der E-Mail-Kommunikation ganz offiziell mitlesen darf und dass E-Mails von den Mitarbeitern auch nicht verschlüsselt werden dürfen. E-Mails galten in Ministerien, ähnlich wie Social Media, mittlerweile als »öffentliche Kommunikation«. Das war wenigstens ehrlich – ehrlicher als so mancher sonstige Betrieb, der seine Angestellten heimlich ausspionierte. Dass es seit kurzem in den Ministerien und Ämtern eine Regelung dazu gab, war somit wirklich nur fair. Natürlich wurde das nicht so offen kommuniziert, und selbstverständlich wurde den Mitarbeitern vorgegaukelt, dass dies nur »in Ausnahmefällen« gemacht werde und nur die theoretische Möglichkeit dazu bestehe. »Liegt im Ermessen des Betriebes«, hieß die genaue Formulierung auf Papier. In der Praxis aber wurde jede E-Mail, die ein Ministerium erreichte oder die innerhalb eines Ministeriums hin- und hergeschickt wurde, gespeichert und in die »Precrime«-Computer der Behörden eingespeist. Dort wurden E-Mails in Folge bis zu zehn Jahre lang aufgehoben. Zugriff auf dieses System gab es selbstverständlich nur bei »schweren Straftaten« wie Verdacht auf einen terroristischen Akt oder Mord. Aber auch Drogendelikte oder Stalking zählten in Österreich zu »schweren Straftaten«. Ein Jahr Freiheitsstrafe als angedrohtes Strafmaß reichte aus, um Behörden die Erlaubnis zu erteilen.

Hufnagl las dem Kriminalkommissar, der, gemütlich zurückgelehnt, in seinem bequemen Ledersessel saß, eine E-Mail von Herrn Fritz Fuchsbauer vor. Fuchsbauer war einfacher Mitarbeiter in einem Infocenter des Finanzamts. Er schrieb: »Steinrigl ist so ein Arschloch! Ich könnte ihn umbringen! Eine Bombe soll ihn zerfetzen! In tausend Stücke reißen! Er hat es nicht anders verdient. Jetzt hat er angeordnet, dass wir im Infocenter die Menschen darüber aufklären müssen, dass sie künftig mehr Steuern zahlen müssen. WIR! Stell dir vor, WIR müssen den Leuten das jetzt sagen! Was können wir dafür, wenn der liebe Finanzminister uns kleine Leute ausbluten lassen will? Schröpfen und melken, wie eine Kuh! Weißt du, was ich mir jetzt täglich alles anhören muss deswegen? Einer hat schon mit seinem Fuß nach mir getreten. Ein anderer hat meine Brille zertrümmert. Wir brauchen bald Polizei hier, wenn diese Regelung beibehalten wird. Ich habe das auch schon bei meinen Chefs angemerkt, aber davon will keiner etwas wissen. Wir sollen höflich und freundlich bleiben, dann wird uns schon nichts passieren. Wie stellen sich die das vor, bitte? Den armen Leuten das letzte Hemd ausziehen, nur weil der Herr Finanzminister mal wieder ein Budgetloch zu stopfen hat? Der soll sich mal hier hinstellen und den Menschen sagen, dass sie künftig mit 150 Euro weniger am Konto über die Runden kommen müssen, weil die Steuern erhöht worden sind. Ich hasse diesen Steinrigl! Ich hasse ihn. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn. Ich könnte ihn wirklich umbringen. Das ist so kurzsichtig, was er macht. So dumm. Er gehört weg. Sofort.«

Rund zwanzig Mails in diesem Tonfall hatte Fuchsbauer verfasst. Alle waren an externe Kontakte gegangen, von denen auch mehrere geantwortet hatten. Einer schrieb ihm zurück: »Beruhige dich, Fritz. Das wird schon wieder!« Doch die meisten anderen fielen in den Tenor von Fritz Fuchsbauer ein und schimpften auf den Finanzminister. Schließlich war von der Steuererhöhung wirklich jeder in diesem Land betroffen gewesen.

Fuchsbauer, das hatten sie überprüft, war im Umgang mit dem PC nicht gerade der Hellste. Er hatte keine Ahnung davon gehabt, dass seine E-Mails technisch mitgelesen werden konnten. Dass dem Staat das auch rechtlich möglich war, davon hatte er ebenfalls noch nie etwas gehört. Fuchsbauer war auch kein aggressiver Mensch. Das hatten die Gespräche mit seinen direkten Kollegen ergeben, die täglich mit ihm zu tun hatten. Als der Finanzminister vor rund einem Jahr die Steuererhöhung beschlossen hatte, wonach die Steuerklassen, die Jahre zuvor gesenkt worden waren, wieder angehoben wurden auf das alte Niveau – und zwar rückwirkend mit 1.1.2019 –, mussten die Mitarbeiter des Infocenters die Bevölkerung beim Steuerausgleich darüber informieren, dass sie dieses Jahr bei der sogenannten »Arbeitnehmerveranlagung« nichts zurückbekommen würden, sondern dass die meisten von ihnen auch noch draufzahlen müssten. Die Infocenter-Angestellten, die die Menschen vor Ort darüber in Kenntnis setzen mussten, waren mit zahlreichen wütenden Bürgern konfrontiert worden. Es hatte tatsächlich auch Fälle gegeben, in denen die Polizei hatte einschreiten müssen. »Es war keine leichte Zeit für uns alle. Ehrlich gesagt, hatte ich damals auch große Lust, unseren Minister einfach auf den Mond zu schießen«, sagte eine Kollegin bei der Befragung aus. Damit war sie nicht die Einzige. So etwas in der Art ließen auch einige andere der Befragten anklingen.

Mit dem Verhör von Fuchsbauer selbst war dann relativ rasch klar, dass er nichts mit dem Mord an Wolfgang Steinrigl zu tun haben konnte. Er stotterte, zitterte und brach in Tränen aus, als man ihn mit den Verdächtigungen konfrontierte. Diese Palette an Emotionen konnte keiner mit der Intelligenz eines Franz Fuchsbauers spielen. Seine Computerfähigkeiten beliefen sich zudem nicht einmal auf ECDL-Niveau. Es bestand keine Chance, dass er sich in ein selbstfahrendes Auto gehackt haben könnte, und so wurde er ziemlich rasch von der Liste der Verdächtigen gestrichen.

Bei Manuel Erlach dauerte die Überprüfung etwas länger. Der 22-Jährige war ins Visier des »Precrime«-Computers geraten, weil die Kombination aus seinem Browser-Verlauf, seinem Online-Shopping-Verhalten sowie seiner Social-Media-Aktivitäten auf Facebook ihn verdächtig gemacht hatten. Die Ausgangslage war hier etwas verzwickter. Erlach hatte im Internet regelmäßig nach neuen »Hacks« gesucht. Auch »Auto« war bei den Suchergebnissen häufig vorgekommen und der Flexus Alpha tauchte ebenso in seiner Liste der gesuchten Objekte auf wie die Begriffe »Computer«, »Hacker« und »Cyber«. Dazu kam, dass Erlach in einem Online-Shop vor kurzem einen neuen, leistungsstarken Rechner gekauft hatte. Ein Exemplar, mit dem Cyberangriffe auf Autos wie den Flexus Alpha tatsächlich durchgeführt werden könnten. Über Social-Media-Kanäle wie Facebook oder Twitter teilte Erlach seit Jahren zudem häufig Artikel, in denen der Finanzminister kritisiert worden war. Auch hier fiel den Ermittlern besonders der Zeitpunkt, als die Steuererhöhung beschlossen worden war, auf. Damals veröffentlichte Erlach Dinge, die als »systemkritische Hassreden« klassifiziert werden konnten. Um es kurz zu machen: Erlach war kein Freund der Konservativen Familienpartei (KFP). »Die Bevölkerung ist zum Staatsfeind geworden. Der Finanzminister übt sich in bösartiger Niedertracht, um das Volk kleinzuhalten. Nieder mit dem herrschenden System! Nieder mit der KFP!« Dazu war im Posting ein Bild mit dem »Anarchie«-Zeichen zu finden.

Erlach wurde auch konkreter: »Steinrigl ist emotional bestenfalls mittleres Management. Und das gehört abgesetzt. Sofort.« Doch Erlach hatte nicht nur seine eigene Meinung recht aggressiv auf Facebook verkündet, sondern auch Artikel von Stefanie Laudon geteilt. Der Kommissar dachte sich kurz: Vielleicht steckt diese Journalistin mit Manuel Erlach unter einer Decke?

All diese Indizien reichten auf jeden Fall dafür aus, bei Erlach eine Hausdurchsuchung anzuordnen. »Den Herren schauen wir uns genauer an«, sagte der Kriminalkommissar zu seinem Einsatzteam. »Ich bin gespannt, was wir finden werden.«

Kapitel 12

Noch am selben Tag stand die Kriminalpolizei vor der Haustür des 22-jährigen Verdächtigen. Das mit dem Durchsuchungsbefehl war schnell gegangen. Das lag einerseits daran, dass es sich beim Toten um den Finanzminister handelte, andererseits an der Tatsache, dass die Beweiskraft relativ stark war. Neben dem CSCC-Cyber-Leiter Erwin Hufnagl kamen insgesamt drei weitere Personen aus seinem Team sowie die klassische Spurensicherung mit. Schließlich ging es dabei vor allem um die Sicherstellung der Computer und des entsprechenden Zubehörs des Verdächtigen und das gehörte nicht zum Job des Kriminalkommissars.

Manuel Erlach wohnte in einem Gemeindebau im 15. Wiener Gemeindebezirk in der Nähe der Johnstraße und der Verkehrsader Hütteldorfer Straße. Die Autos brausten vorbei, es stank nach Abgasen, alles war trist, grau in grau. So sah Wien im Dezember einfach aus, aber es passte gut zur Situation. Es dämmerte bereits. Der Johann-Hartmann-Hof lag in einer ruhigen Seitengasse und wirkte auf den ersten Blick eigentlich ganz gemütlich. Doch wegen der Gemütlichkeit war niemand hier. Die Beamten klingelten bei Erlach. Keine Reaktion. Da die Haustür offen stand, offenbar war der Türsummer kaputt, traten die Beamten ein und wagten sich gemeinsam bis vor die Haustür im 2. Stock vor. Einer der Mitarbeiter Leyrhofers lauschte an der Tür, während die anderen ihre Waffen bereithielten. Wenn Erlach der Täter war, könnte er schließlich auf den Besuch vorbereitet sein. Aus dem Inneren des Raums war laute Musik zu hören. Irgend so ein Techno-Kram, dachte sich Hufnagl. Es wummerte ganz schön durch die Wände und der Rhythmus ertönte gleichmäßig im Vier-Viertel-Takt. Nicht mein Geschmack, dachte Hufnagl. Aber das bedeutete vor allem eines: Der Tatverdächtige war also zu Hause.

Die Beamten klingelten erneut, dieses Mal direkt an der Tür. Dann klopften sie. Dann hämmerten sie. Und warteten. Und nichts geschah. Dem Einsatzleiter riss der Geduldsfaden. »Tür auftreten!« Bei der alten, ungesicherten Tür war das sogar ziemlich einfach. Es brauchte nur einen einzigen schwachen Stoß mit dem Fuß und schon stand das siebenköpfige Squat-Team in der 43-Quadratmeter-Wohnung des arbeitslosen 22-Jährigen.

Manuel Erlach hatte Kopfhörer auf, als die sieben Beamten, von ihm unbemerkt und ungebeten, in seine Wohnung stürmten. Er war mit dem Rücken zur Tür gedreht und spielte an so einem Ding herum, was später als DJ-Controller identifiziert werden konnte. Das war ein Gerät, mit der Erlach die Musik steuerte und zusammenmischte, die in einer ziemlichen Lautstärke aus den beiden Lautsprechern, die am Boden standen, kam. Bum Bumm. Bum Bumm. Bum Bumm. Bum Bumm.

Überhaupt fiel den Beamten sofort auf: Die Wohnung war sehr spärlich eingerichtet. Neben einer Matratze, einer Lampe, einem Tisch mit zwei Sesseln, einer Stereoanlage und einer Kommode, auf der dieses DJ-Zeug aufgebaut war, war nicht viel drin. Die Lampe war gerade so hell, dass man seine eigenen Hände vor den Augen erkennen konnte. Sie hatte sicher maximal 30 Watt und war die einzige Beleuchtung neben einer kleinen Schreibtischlampe, die auf der Kommode platziert war. Neben der Matratze stand ein Aschenbecher, der überquoll. Daneben lagen der Tabak, den man für Selbstgedrehte verwendete, sowie eine halbleere Wodkaflasche und ein gebrauchtes Kondom. Welche Frau würde freiwillig in diesem Loch übernachten, fragte sich Hufnagl.

Der 22-Jährige hatte die Beamten noch immer nicht registriert, so vertieft war er in seine Musik. Hufnagl sah sich weiter intensiv im Raum um: Der einzige Computer, den er entdecken konnte, stand zwischen dem Verdächtigen und seinem DJ-Controller und wurde gerade benutzt. Also ortete Hufnagl keine Gefahr, dass der Verdächtige das Teil so schnell würde entsorgen können. Es ließ ihn auch relativ rasch daran zweifeln, dass dieses schmale, junge Bürschchen etwas anderes tat, als sich wie ein Superhero vorzukommen, obwohl er nichts weiter war als ein arbeitsloser Drogensüchtiger.

Während Hufnagl den Raum mit seinen Augen durchforstete, hatte ein anderer Beamter sich einer einfachen, altbewährten Methode, die auch so manches Elternteil bei seinen Kindern bereits eingesetzt hatte, um auf die Anwesenheit eines Erziehungsberechtigten aufmerksam zu machen, bedient: Er zog den Stromstecker. Schlagartig war es still im Raum. Totenstill.

Erlach drückte zuerst wie wild an den Knöpfen auf dem DJ-Controller herum, ehe er sich umdrehte. »Oida, meine Aufnahme ist im Arsch!«, fluchte er vor sich hin. Doch dann entdeckte er die Eindringlinge in seinem Heim. »Was, was … wer sind Sie? Was machen Sie hier?«, waren seine ersten Fragen. Er war sichtlich schockiert und hatte nicht mit einer Hausdurchsuchung gerechnet. Seine Pupillen weiteten sich vor Schreck. Er konnte es gar nicht fassen, dass da plötzlich sieben Männer in seiner Wohnung standen. War das wegen dem bisschen Haschisch, das er noch zu Hause hatte?

Das konnte doch nicht sein! Der Konsum von Marihuana und Haschisch wurde in den letzten Jahren zunehmend toleriert. Und verkauft hatte er das Zeug nie. Und vom Koks, das er gestern Abend im Club zu sich genommen hatte, war nichts mehr übrig. Die Drogen konnten also auch nicht dafür verantwortlich sein, dass da plötzlich sieben Polizisten mitten in seinem Zuhause standen. Waren die Beamten etwa hier, weil er ab und zu illegale Musik-Files aus dem Netz runtergeladen hatte? Aber das war doch stets die Ausnahme gewesen! Er versuchte, seine Musik für die Partys, so weit es eben finanziell ging, zu kaufen und nicht gratis aus dem Internet zu saugen. Das stand im DJ-Codex. Das machte man alleine schon aus Respekt den Künstlern gegenüber nicht. Er hatte sich nur ein paarmal nicht daran gehalten, als er wirklich total pleite war. Und er hatte sich die Musik immer nachträglich auch noch legal gekauft, wenn er wieder Geld erwirtschaftet hatte. Aber das konnte es doch auch nicht sein, oder? Zwar waren mittlerweile echt viele Webseiten im Netz blockiert, die Musik illegal angeboten hatten, aber dass die Polizei deshalb zu irgendwem persönlich gekommen wäre, davon hatte er noch nie gehört.

 

»Herr Erlach, wir haben hier einen Durchsuchungsbefehl für Ihre Wohnung. Uns interessiert besonders Ihr Computer. Wie viele Computer besitzen Sie und wo haben Sie Daten gespeichert? Vielleicht auf USB-Sticks oder externen Festplatten?«

»Was genau wollen Sie denn mit meinem Computer?«, fragte Erlach schüchtern. Er hatte sichtlich Respekt vor den Beamten. Hufnagl wusste bereits nach den ersten Antworten, dass dieser Junge nichts mit dem Tod Steinrigls zu tun haben konnte. Dennoch mussten sie sich an die Vorschriften halten und die Hausdurchsuchung korrekt abwickeln.

»Mitnehmen wollen wir ihn. Er ist konfisziert. Sie kriegen ihn frühestens in sechs Monaten wieder zurück, bis wir alles genauestens geprüft haben.«

Für Erlach brach eine Welt zusammen. Auf seinem nigelnagelneuen Laptop, der noch keine zwei Monate alt war, befand sich doch all seine Musik. Und ohne Musik konnte er seine DJ-Karriere vergessen. Vorbei war es dann mit »DJ Zoombox«. Mit einem Schlag. Man war in der Szene schon out, wenn man sich ein paar Wochen wegen Krankheit nicht auf den Partys blicken ließ, und es reichte, um Wochen danach keinen Auftrag mehr zu bekommen.

»Sechs Monate? Aber warum das denn?«

»Das werden Sie noch früh genug erfahren.«

Die Beamten sammelten den Computer ein, auch den Akku dazu und die 20 USB-Sticks, die alle direkt neben dem Laptop – einem Lenovo Thinkpad – lagen, und verschwanden, so wie sie gekommen waren. Durch die zerstörte Tür. Hufnagl tat der 22-Jährige irgendwie leid. Er sah seine verzweifelten Augen, die knapp davor waren, Tränen zu produzieren. Er sah, wie der Junge, der sowieso schon ganz blass war, weil er scheinbar aufgrund seines regen Nachtlebens kaum Sonnenlicht abbekam, regelrecht verfiel. Aber Auftrag war Auftrag.

»Wir schicken Ihnen heute noch jemanden vorbei, der die Tür repariert. Schönen Tag noch!«

Zurück blieb ein völlig verstörter, total perplexer »DJ Zoombox« in einer fast leeren, heruntergekommenen Wohnung. Sein Mix, den er gerade aufgenommen hatte fürs Radio, war zerstört. Sein Equipment fort. Erlach nahm einen Schluck aus der halbleeren Wodka-Flasche und griff zum Telefon. Er rief seinen besten Freund an: »Du, Fritz, bei mir war gerade die Polizei. Stell dir vor, sie haben meinen Computer mitgenommen!«

»Warum das denn?«

»Ich weiß es nicht! Ich habe keinen blassen Schimmer. Die zwei Gramm Gras haben sie nicht die Bohne interessiert. Glaubst du, das ist wegen der Musik-Files? Dabei habe ich doch fast alles gekauft!«

»Glaube ich nicht. Vielleicht hat dich irgendein Dealer verpfiffen. Was die dann mit deinem Rechner wollen, weiß ich allerdings auch nicht.«

»Du, kann ich beim nächsten Gig gemeinsam mit dir auflegen? Du bekommst auch die Hälfte meiner Gage und ich ruf den Veranstalter noch heute an, dass wir gemeinsam spielen!«

»Hmm … ja, klar. Easy, Bro. Natürlich!«

Und schon war DJ Zoombox wieder eine Spur entspannter. Auf seinen Homie, seinen besten Kumpel, konnte er sich einfach verlassen. Da war es ihm auch egal, warum die Beamten eigentlich seinen Laptop konfisziert hatten. Hauptsache, sein Ruf als DJ wurde nicht beschädigt.

»Scheiß Kieberer!«

»Ja. Scheiß Bullen.«