Tödlicher Crash

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Kapitel 3

Es dauerte nur wenige Stunden, bis sich die Meldung über den Tod des Finanzministers via Nachrichtenagentur bei den Medien des Landes verbreitet hatte. »Wolfgang Steinrigl: In den Tod gerast«, lautete eine der ersten Schlagzeilen der Online-Plattform »Heute Mittag«. Über das soziale Netzwerk Facebook verbreitete sich die Meldung in Windeseile. Die Boulevard-Plattform war deswegen immer am schnellsten bei der Verbreitung von Neuigkeiten, weil in der Redaktion bereits ein Agentur-Roboter zum Einsatz kam. Das bedeutete, dass ein Roboter die Eilmeldungen, die über Nachrichtenagenturen verbreitet wurden, automatisch online stellte. Nur über den Titel schaute noch ein Mensch, um die Nachrichten auf die Klientel abzustimmen. Text und Bild stammten direkt von der Nachrichtenagentur. Das war natürlich ein Wettbewerbsvorteil für das Medium, aber ein nicht unumstrittener. Es war schon mehr als einmal vorgekommen, dass die Schlagzeile mit einem falschen, völlig unpassenden Bild versehen war und somit das Gespött der gesamten Branche auf sich gezogen hatte. Und Medienmenschen behielten ihre Schadenfreude nur sehr selten bei sich.

»Fataler Unfall: Finanzminister tödlich verunglückt«, war in der Online-Ausgabe von »24 Stunden« zu lesen. Stolze neun Minuten nach der Meldung bei »Heute Mittag«. Als Hashtag, das war ein durch ein Raute-Symbol markiertes Stichwort, etablierte sich in den Social-Media-Diensten wie Facebook und Twitter »#steinrigl«. Es trafen im Sekundentakt neue Kurzmitteilungen dazu ein. Durch den Hashtag konnte man außerdem gleich erkennen, ob die Anzahl der Jubel- oder Trauermeldungen überwogen und was das Ableben des Ministers bei den Menschen auslöste. Unter den Kurzmitteilungen befanden sich zahlreiche Beileidsbekundungen, aber auch viele Erleichterungsausrufe und bösartige oder ironische Kommentare. Steinrigl war eben nicht bei jedem beliebt gewesen. »Wo bleibt die Sondersendung im TV?«, fragten sich einige Nutzer und schimpften auf den öffentlich-rechtlichen TV-Sender. Andere veröffentlichten Bilder, bei denen der Slogan »Mehr privat, weniger Staat«, der über einem Foto mit dem Kopf von Wolfgang Steinrigl prangerte, durchgestrichen war. So etwas nannte man ein sogenanntes Meme, das sich rasch weiterverbreitete, in dem es von vielen verschiedenen Nutzern geteilt wurde. Das gehörte zu den klassischen Internetphänomenen, die sich auch 2022 noch wacker hielten.

Wie genau der Finanzminister gestorben war und dass er mit seinem heißgeliebten, brandneuen, autonomen Auto unterwegs gewesen war, war offenbar noch nicht bekannt geworden. Zumindest gab es darüber vorerst keine Kommentare. Doch nicht nur auf Facebook und Twitter überschlugen sich die Mitteilungen zum Ableben des Finanzministers, auch in den Redaktionen des Landes ging es heiß her. Es war 19 Uhr. Viele Politik- und Chronik-Redakteure hatten bereits Feierabend oder befanden sich gerade am Weg zu Abendterminen. Die Redaktionskonferenzen waren um die Uhrzeit auch schon längst vorbei. Aber natürlich musste das Ereignis noch in die Blätter des Landes gebracht werden. In der Redaktion von »24 Stunden« saß Armin Tumler. Der 55-jährige Wirtschaftsredakteur war an dem Tag zum Abenddienst eingeteilt. Als ihn die Kollegen vom Online-Team über den Tod des Finanzministers informierten, drehte er als Erstes seine Tasse, die vor ihm stand, nach links. Auf dem Bild, das dadurch zum Vorschein kam, war eine Palme zu sehen, die ihn an seinen letzten Urlaub erinnern sollte. Armin Tumler nahm einen kräftigen Schluck aus der Tasse – und darin war kein Kaffee, sondern etwas Stärkeres. Dann seufzte er laut und machte sich widerwillig an die Arbeit.

19.33 Uhr. Das Smartphone von Stefanie Laudon vibrierte seit wenigen Minuten in immer kürzeren Abständen. Wenigstens hatte sie den Ton, also das Bling-bling, abgedreht. Aber warum hatte sie es auch unbedingt zu sich auf den Tisch legen müssen? Das war wohl die Macht der Gewohnheit gewesen, die sie jetzt aus ihrer Entspannung herausriss. Endlich hatte sie einmal komplett abschalten können, war weit genug weg von ihrem Alltag. Dort lautete ihr Credo berufsbedingt nämlich: »Immer erreichbar sein, weil, es könnte ja etwas passieren.« Jetzt saß sie gerade in einem Restaurant in der Altstadt von Barcelona. Am Placa Reial gab es zahlreiche nette Innenhöfe, rundherum herrschte hektisches Treiben. Ein paar Tische weiter führte gerade eine Gruppe von Jungs einen akrobatischen Tanz auf. Dazu dröhnte laute Musik aus dem Ghettoblaster. Nicht schlecht, die Kunststücke. Dafür musste man ordentlich trainieren. Sie stocherte noch ein wenig in der vegetarischen Paella herum, die vor ihr am Tisch stand. So richtig schmecken wollte sie ihr nicht. Da war sie wohl auf einen Touristen-Nepp reingefallen. Das Smartphone vibrierte erneut, was bedeutete, dass sie schon wieder eine neue Nachricht erhalten hatte. Stefanie legte ihre Gabel zur Seite und kaute hastig den Bissen zu Ende. Sie seufzte einmal tief und holte Luft. Dann klappte sie die Lederhülle auf, in der sie das Gerät zum Schutz vor Kratzern aufbewahrte. Sie war natürlich neugierig, was es so Dringendes gab. Nicht umsonst hatte sie sich vor mehr als zehn Jahren für den Journalismus als Beruf entschieden, obwohl die Bedingungen schon damals alles andere als rosig waren. Schlecht bezahlt. Hoher Konkurrenzdruck. Miserable Arbeitszeiten. Aber die Neugier … die Neugier und ihr großer Drang, die Welt zu verändern, ließen Stefanie jeglichen Rat ihrer Universitätsprofessoren und Lehrer, besser etwas »Gescheites« zu lernen, ignorieren.

»Steinrigl ist tot«, stand nüchtern in der Messenger-Nachricht von Facebook, die ihr ihre Freundin Meggie Winter geschickt hatte. »Freu dich, der alte Sack von Finanzminister wird uns nicht mehr das Leben schwermachen!!«, war dagegen in der Signal-Nachricht von Paul Mond zu lesen. Sie schrieb beiden kurz zurück: »WOW!!!! Was für News!« Die anderen Nachrichten waren Push-Mitteilungen von diversen Nachrichtendiensten, die sie abonniert hatte und die ebenfalls mit Steinrigls Tod Alarm schlugen. Diese konnte sie getrost ignorieren.

Die halb aufgegessene Paella, die so schmeckte, als wäre sie mit billigem Fertig-Pulver und viel zu lange gekocht worden, hatte die Journalistin nun völlig vergessen. Emotional ließ sie der Tod des Finanzministers erst einmal kalt. Es löste nichts in ihr aus. Absolut nichts. Als Privatperson hatte sie Wolfgang Steinrigl nie kennengelernt. Als Politiker hatte sie ihn in ihren Kommentaren oft genug kritisiert. Für sie war er ein unsympathischer konservativer Politiker, der das österreichische Sozialsystem immer weiter aushöhlte, dem Staat am Ende nur geschönte Bilanzen präsentierte und dabei auf die Änderungen, die das Land wirklich brauchte, vergaß. Sie verstand daher die Freude von Paul über den Tod Steinrigls. Sie selbst dachte sich eher, den vorzeitigen Tod, den hatte keiner verdient. Auch kein Arsch, der oft genug versucht hatte, bei ihrem Chefredakteur zu intervenieren, um ihre Berichte zu stoppen.

Statt weiter zu essen, begann sie aber dennoch zu recherchieren. Schließlich gab es da etwas, was sie durchaus stutzig werden ließ bei der Sache: Wie war Steinrigl eigentlich gestorben? Sie hoffte, das als Erstes auf Twitter rauszufinden. »›Mehr privat, weniger Staat‹ hat damit hoffentlich ein Ende«, schrieb einer der schärfsten Kritiker Steinrigls auf Twitter. Stefanie kannte ihn persönlich und versah seinen Eintrag sofort intuitiv mit einem Smiley. Doch das war jetzt nicht das, was sie am meisten interessierte. Verdammt, sie wollte wissen, wie der Finanzminister gestorben war!

Wolfgang Steinrigl war schon immer einer gewesen, der gerne mit teuren Dingen protzte. Interessanterweise hatte das die Bevölkerung nie gestört, im Gegenteil. Er gab den Menschen das Gefühl, dass auch sie das alles, was er hatte, erreichen konnten. Frei nach dem amerikanischen Motto: Vom Tellerwäscher zum Millionär. Zuletzt hatte er vor allem mit seinem supertollen neuen Wagen, den er eigens aus den USA hatte einfliegen lassen, ordentlich angegeben. Ein autonomes Auto. Und genau dieses war es, das Stefanie schon vor ein paar Wochen interessiert hatte. Paul hatte ihr erzählt, dass derartige Fahrzeuge in der Vergangenheit recht einfach gehackt werden konnten und dass er es geschafft hatte, in das Steuerungssystem des Fahrzeugs einzudringen. Stefanie war daraufhin neugierig geworden, sie hatte außerdem eine gute Geschichte gewittert, denn Steinrigl hatte sich auch massiv dafür eingesetzt, dass diese Autos so schnell wie möglich in Österreich zugelassen würden. Sie hatte sich da schon gefragt, ob auch Schmiergelder von der Autolobby geflossen waren oder ob das Wunderauto von Steinrigl gar ein Geschenk, eine Art Bonus, der Autolobby gewesen war. Umso faszinierender war es für sie gewesen, als Paul ihr erzählt hatte, dass es auch Laien gelingen würde, sich in das Autosystem einzuloggen.

»Das muss ich ausprobieren«, war ihr erster Gedanke gewesen. Sie hatte Paul, der keine Ahnung hatte, was sie plante, die Anleitung dafür abgerungen. Er hatte ihr per Signal-Nachricht einen Link mit den Hinweisen, die bereits im Internet kursierten, zugeschickt. Stefanie ließ es sich nicht nehmen, diese Anleitung auch Schritt für Schritt auszuprobieren. Und sie hatte es tatsächlich geschafft, ins Steuerungssystem von Steinrigls Auto einzudringen. Sie war so schockiert darüber gewesen, dass sie gleich wieder ausgestiegen war und niemandem davon erzählte. Das war ein paar Tage vor ihrer Abreise nach Barcelona gewesen.

Als sich Stefanie nun am Smartphone die Bilder ansah, die zum Tod Steinrigls bisher auf Twitter veröffentlicht worden waren, stellte sie fest: Da ist er ja, der Flexus Alpha! Das Wunderauto des Ministers. Wenn auch total beschädigt, mit zahlreichen Schrammen am Vorderheck: Das war das autonome Auto, auf das der Finanzminister so stolz gewesen war. In Stefanies Kopf begann es zu rattern. Steinrigl war tatsächlich im Auto gestorben! Konnte ihre Aktion vor der Abreise zum Tod geführt haben? Hatte sie vielleicht irgendwas im Steuerungssystem verstellt, so dass etwas davon nicht mehr richtig funktionierte? Wer konnte schon wissen, was sich in den Code-Zeilen, die sie nicht verstand, aber brav ausgeführt hatte, tatsächlich verborgen hatte? Was, wenn darin ein Befehl versteckt war, der das System manipulierte? Hätte ihr Paul das nicht im Fall der Fälle gesagt? Andererseits: Paul hatte keineswegs damit rechnen können, dass sie diese Anleitung auch tatsächlich selbst ausprobierte! Stefanie fühlte sich merkwürdig, in ihrem Bauch grummelte es. Und das lag möglicherweise nicht nur an der unterdurchschnittlichen Paella.

 

Sie hatte den selbstfahrenden Wagen am Bild sofort erkannt. Ein Wunder, dass das noch keiner ihrer Kollegen aufgegriffen hatte. Aus ihrem Bauchgefühl heraus, ohne lange nachzudenken, veröffentlichte sie auf Twitter folgende Frage: »Wurde Wolfgang Steinrigl von seinem selbstfahrenden Auto in den Tod katapultiert?« Wenn sie ein wenig länger darüber nachgedacht hätte, hätte sie sich diese Frage wohl besser verkniffen und zuerst einmal versucht, mit Paul abzuklären, ob sie tatsächlich eine Mitschuld an dem Tod Steinrigls haben konnte. Aber Paul wollte sie mit so etwas nicht via Signal-Nachricht konfrontieren. Klar, der Messenger galt als supersicher und sie hatten sich schon oft über Hacks auf diesem Weg ausgetauscht und es war noch nie etwas passiert. Aber jetzt betraf es SIE. Sie könnte möglicherweise in einen Mord verwickelt sein. Oder war es ein unglücklicher Unfall gewesen?

Unfälle mit teilautonomen Fahrzeugen hatte es in der Vergangenheit schon mehrere gegeben, das wusste Stefanie. Sie hatte das immer wieder gespannt mitverfolgt. Vor ein paar Jahren war etwa ein 38-Jähriger ums Leben gekommen, dessen Tesla gegen eine Leitplanke gefahren war. Das Auto hatte Feuer gefangen und der Fahrer hatte nicht überlebt. Natürlich hatten Autokonzerne damals immer dem Fahrer die Schuld gegeben. Schließlich hätte er nicht die Hände vom Lenkrad nehmen dürfen, hieß es. Aber beim neuen Nexus Alpha spielte das jetzt keine Rolle mehr. Der war genau so konstruiert, dass er völlig selbstständig fahren konnte und der Autobauer übernahm in der Regel die volle Haftung für Schäden oder Unfälle. Stefanie war daher, auch abseits der quälenden Fragen, ob sie selbst etwas damit zu tun gehabt haben könnte, sehr gespannt, wie sich die Causa Steinrigl und Nexus Alpha entwicklen würde. Sie war so gespannt, dass sie die Finger nicht von ihrem Smartphone lassen konnte, und nachsah, was sich im Netz getan hatte.

Mit ihrer Twitter-Frage hatte Stefanie eine wahre Welle an Diskussionen ausgelöst. Ihre Kurzmitteilung wurde tausendfach weiterverbreitet und Hunderte Menschen, von denen sie viele nicht kannte, antworteten ihr. Geduldig scrollte sie sich auf ihrem Handy durch die zahlreichen Kommentare in der Hoffnung, dass sich darunter auch einer fand, der ihr vielleicht weiterhelfen konnte. Schließlich war sie mit zahlreichen Sicherheitsforschern auf Twitter befreundet. Doch von diesen hatte sich vorerst keiner an der Diskussion beteiligt. Stattdessen hatten politikinteressierte Menschen geantwortet, die sich mehr für die Person Steinrigls interessierten als für selbstfahrende Autos. Der Tod des Ministers bewegte eben sehr viele Menschen emotional.

Stefanie hatte in der Eile übrigens völlig vergessen, die Ortungsdienste auf ihrem Smartphone abzudrehen. Das hieß: Ihre Kurzmitteilung auf Twitter war mit der Ortsangabe »Placa Reial, Barcelona« versehen. Derartige Ortsangaben drehte die technikaffine Journalistin, die sehr auf ihre Privatsphäre bedacht war, ausschließlich im Urlaub auf, und zwar aus praktischen Gründen. Sie nutzte die Funktion, um ihre Fotos später auf ihrem Computer besser zuordnen zu können. Jetzt aber konnte die ganze Welt sehen, dass sie gerade in Barcelona war. Und die tausendfach geteilte Nachricht, die es zu späterer Stunde auch noch in die TV-Nachrichten schaffte, konnte sie jetzt auch nicht mehr löschen. In diesem Moment fiel es der 33-jährigen Redakteurin allerdings gar nicht auf. Erst als einer ihrer Leser auf Twitter Stunden später mit der Frage: »Barcelona? Nice! Wünsche eine schöne Zeit« reagierte, bemerkte Stefanie, dass sie die Ortsangabe aktiviert hatte, und drehte diese für die nächsten Tweets gleich ab. Sie schaltete außerdem das akustische »bling bling«, das mit jeder neuen Reaktion auf ihren Tweet folgte, relativ rasch wieder ab, als die ersten Gäste von den Nachbartischen aufmerksam zu ihr rüberblickten.

Schon bald titelte die erste Online-Zeitung in Österreich: »Killermaschine Flexus Alpha«, eine weitere: »Roboter-Auto brachte Finanzminister um«. Technik-Feindlichkeit war in vielen Redaktionen noch immer weit verbreitet. Schließlich waren aus der Sicht vieler Chefredakteure auch die Social- Media-Dienste schuld daran gewesen, dass die Bedeutung ihrer Medien immer weiter sank. Die böse Technikbranche kostete sie Umsatz und Reputation. Vor allem in den Redaktionen, in denen es noch Herausgeber jenseits der 70 gab, die das Ruder einfach nicht aus der Hand geben wollten, wurde massiv Stimmung gegen alles, was mit Robotern zu tun hatte, gemacht. Die Roboter kosteten schließlich auch Jobs und waren deshalb sowieso böse. Und Technikfeindlichkeit kam im Land immer gut an. Nicht umsonst zählte Österreich seit Jahren innerhalb der EU zu den Ländern mit den meisten Skeptikern, was neue technische Innovationen betraf. Da hatte auch kein wirtschaftsliberaler Finanzminister, der zahlreiche Erleichterungen für Start-ups beschlossen hatte, die Stimmung im Land bisher auf Dauer ändern können. Unter den jüngeren Journalisten war dies freilich etwas anders, doch die hatten in den Redaktionen meist noch nicht das Sagen, sondern mussten widerwillig zur Kenntnis nehmen, was ihre Chefredakteure für eine Blattlinie verfolgten.

Bei »24 Stunden«, dem Blatt, bei dem Stefanie Laudon arbeitete, war das freilich ein wenig anders. Die Qualitätszeitung war eine der ersten in Österreich, die online auf eine Kooperation mit Facebook gesetzt hatte. Das brachte am Ende nicht nur fette Zugriffe und damit schöne Statistiken für die Werbeindustrie, sondern auch viel Geld. Stefanie hatte diese Kooperation initiiert, auch wenn sie selbst sehr skeptisch bei dem Gedanken war, die Leser der Zeitung damit in die Fänge einer einzigen großen, kommerziellen Firma zu treiben. Einer Firma, die dann praktisch im Alleingang bestimmen konnte, welche Inhalte auf welche Art und Weise angezeigt und platziert wurden. Nichtsdestotrotz überwogen für das Medienhaus klar die Vorteile. Und Stefanie war jung und clever genug, um hier mitzuspielen und die Vorteile zu erkennen, die derartige Kooperationen mit sich brachten. Sie kannte sich mit technischen Dingen irrsinnig gut aus. Es wurde ihr praktisch in die Wiege gelegt, denn ihr Vater war Informatiker und lehrte sie schon in jungen Jahren das Programmieren. Die Journalistin erinnerte sich daran, wie sehr ihr das spielerische Arbeiten am Rechner Spaß gemacht hatte. Sie hatte ihre Kenntnisse auch noch weiter vertieft, als sie älter war. Für ein Informatikstudium hatte ihr dann allerdings doch ein wenig die Leidenschaft gefehlt. Sehr zur Enttäuschung ihres Vaters, der sie gerne als seine Nachfolgerin in der Firma etabliert hätte. Aber Herr Laudon hatte immer akzeptiert, dass seine Tochter ihren eigenen Kopf hatte. Aufzwängen wollte er ihr nie etwas. Gelernt hatte die Journalistin von ihrem Vater allerdings trotzdem wirklich viel. Zu ihrem früh erworbenen Wissen zählte etwa auch, dass man immer gewisse Tools einsetzen sollte, um seine Online-Aktivitäten zu verschleiern. Nur ihre Freundin Meggie weigerte sich bisher konstant, auf den verschlüsselten Messenger, den sie mit dem Großteil ihrer Freunde, Bekannten und Informanten gleichermaßen zur mobilen Kommunikation einsetzte, zu wechseln. Ihr Problem, dachte sich Stefanie. Dabei wäre es doch so einfach, zu wechseln.

Das Smartphone wollte an diesem lauen Abend in Barcelona einfach nicht mehr verstummen. Die grauenvolle Paella war mittlerweile abserviert und die Journalistin hatte vom Kellner die Rechnung verlangt. Die turnende Männerschar war bereits weitergezogen und am Platz kehrte langsam ein wenig Ruhe ein. Die meisten Touristen zogen sich jetzt in eine der zahlreichen Bars, die es in der näheren Umgebung gab, zurück oder verschwanden nach langen Sightseeing-Tagen schlichtweg in ihre Hotels. Am Tisch vor Stefanie vibrierte es erneut. Jetzt, kurz vor 23 Uhr, schrieb ihr auch endlich die eigene Redaktion eine Nachricht.

»Steinrigl tot, autonomes Auto involviert – wie schnell kannst du hier sein?«

Stefanie wetzte ungeduldig auf ihrem Stuhl herum. Eine innere Unruhe durchströmte ihren Körper. Was tun? Zurückfliegen oder abschalten? Eigentlich hätte sie noch drei weitere Tage in dieser wunderschönen, aber doch sehr von Touristen überlaufenen Stadt verbracht. Der Todesfall Steinrigl interessierte sie aber aus journalistischer Sicht sehr. Sie war neugierig: War es ein Unfall, war es ein technischer Defekt oder war es Mord? Hatte das Lobbying der Autoindustrie etwas damit zu tun? Oder gar sie selbst und ihr unerlaubtes Eindringen in das System? Alles war möglich! Ihr Herz schlug schneller, als sie an diese Fragestellungen dachte und wie sie diese aufarbeiten würde. Da gab es eigentlich nichts mehr zu überlegen. Sie schrieb ihrem Chef eine E-Mail, um ihm mitzuteilen, dass sie es bis morgen Mittag zurück nach Wien schaffen könnte. Dann rief sie bei der Airline an, um ihren Flug umzubuchen. Das war, wie sich herausstellte, gar kein Problem. Die Morgenmaschine am nächsten Tag war nicht ausgebucht. Stefanie kaufte sowieso immer ein sogenanntes »flexibles Ticket«, das man jederzeit umbuchen oder stornieren konnte. Zu oft war es ihr in der Vergangenheit schon passiert, dass sie dringend in die Redaktion zurückmusste. Im Ressort »Tagesthemen«, in dem sie fix angestellt arbeitete, ging es eben um das Tagesgeschehen. Die Redaktion zahlte ihr die Kosten für den Aufpreis des Tickets außerdem immer ohne Murren. Es war nicht das erste Mal, dass sie es auch in Anspruch nehmen musste.

Stefanie winkte den hübschen Kellner, mit dem sie kurz zuvor noch geflirtet hatte, herbei, damit ihr dieser endlich ihr Wechselgeld retourbrachte. Das hasste sie an Spanien, dass man hier in den Restaurants am Ende immer so lange warten musste. Wenig später brachte er ihr die fünf Euro 20 Cent in der Schale an den Tisch und lächelte sie ein letztes Mal an, bevor er sich weiterer Kundschaft zuwandte. »Adios«, sagte sie, doch das hörte er nicht mehr. Sie war schließlich nur eine weitere Touristin, die Geld in die spanische Stadt brachte. Über den Placa de George Orwell, an dem zahlreiche Einheimische in Tapas-Bars herumsaßen und sich lautstark unterhielten und lachten, ging Stefanie schnurstracks in ihr Hotel. Dass die Leute ausgerechnet an dem Platz so viel Spaß hatten, an dem an Orwell und an 1984 gedacht wurde! Das war fast ein wenig ironisch. Den Rest des angebrochenen Abends verbrachte Stefanie mit weiterer Online-Recherche. Wie oft war der Flexus Alpha bereits in Unfälle verwickelt gewesen? Wie gingen diese in der Regel aus? Wie war das selbstfahrende Auto programmiert? Kurz nach zwei Uhr früh drehte die blondhaarige Journalistin erschöpft ihren Laptop ab und gähnte. Morgen, das wusste sie, würde ein langer Tag werden.