Fremde in der Nacht

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Jak czytać książkę po zakupie
Nie masz czasu na czytanie?
Posłuchaj fragmentu
Fremde in der Nacht
Fremde in der Nacht
− 20%
Otrzymaj 20% rabat na e-booki i audiobooki
Kup zestaw za 93,72  74,98 
Fremde in der Nacht
Fremde in der Nacht
Audiobook
Czyta Andreas Heinemann
68,18 
Szczegóły
Fremde in der Nacht
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Barbara Sichtermann

Fremde in der Nacht

Ein Berlin-Roman

FUEGO

- Über dieses Buch -

Ein temporeich und witzig erzählter Berlin-Roman. Held ist der Versicherungsagent und Eisenbahnfreak Hagen Schäfer, ein Durchschnittstyp mit ziemlich undurchschnittlichen Problemen. Dazu gehören vor allem die komplizierten Ehe-, Liebes- und Triebgeschichten, in die er sich verstrickt hat. Besonders problematisch gestaltet sich die Beziehung zu Yvonne Genthien, der fünfzehnjährigen Anführerin einer Kinderbande. Das quirlige Ding schleicht sich erst in seine Wohnung, dann in sein Herz und schließlich in sein Bett. Da ist der Vorwurf sexueller Verführung Minderjähriger nicht von der Hand zu weisen. Liebe und Verrat, Irrungen und Wirrungen eines heißen Sommers in Berlin.

„Fremde in der Nacht ist ein Buch, bei dem fast alles stimmt: Sprache, Stil, Personen und ihr Lebensgefühl und das Porträt einer sich verändernden Stadt. Eine heiße Sommergeschichte - auch oder sogar besonders an kühlen Tagen ein fulminantes Lesevergnügen.“

Grace Maier auf www.luise-berlin.de

„Wir haben Autorinnen ... die so etwas schreiben können, hier im Lande. Wir brauchen sie nicht zu importieren.“

Die Zeit

Teil I

Juni 1994

Eine Medusa

Erst wenn die U-Bahnschächte so tief runterführen, dass die Luft in ihnen steht, riecht es nach diesem besonderen Gemisch aus Lehm und Öl, Eisenabrieb und Schotterstaub. Die Londoner Tube verströmt den Geruch durchgängig, die Pariser Metro auf weiten Strecken, die Berliner U-Bahn ausnahmsweise. Unterm Alexanderplatz kann man ihn spüren - nur auf den Tiefbahnsteigen, versteht sich - am Gesundbrunnen und in der S-Bahn Friedrichstraße kommt er vor, sonst nur ab und an. Ich als Berliner bedaure das, denn ich atme ihn allzu gern ein, den erdigen, brandigen Hauch. Obwohl er ja nun wahrlich kein Parfüm ist. Es gibt Leute, denen davon schlecht wird. Mir behagt er schon deshalb, weil ich mit ihm das Bewußtsein genieße, ganz tief unten zu sein, in Sicherheit. Da, wo man verschont bleibt, wenn oben eine Granate explodiert, ein Feuer ausbricht oder ein Baugerüst einstürzt. Doch ich mag den Geruch auch als Geruch. Das Modrige an ihm erscheint mir anheimelnd und das Beißende verlockend. Ich wollte schon immer ganz tief runter, schon als Knirps, und wissen, wie man Tunnels ausschachtet, Kabel verlegt und Kanalisationsrohre ineinandersteckt.

Meine eigene U-Bahnstation weist Spuren meines Lieblingsgeruchs auf - oder bilde ich mir das bloß ein? Nein, ich rieche es. Der »Heidelberger Platz«, Berlins schönster U-Bahnhof, liegt für hiesige Verhältnisse ziemlich weit unten. Er musste die höhere Lage an die hier kreuzende Ringbahn abtreten und sich ins Tiefgeschoss versenken lassen. Daher die Gewölbehalle mit den majestätischen Granitsäulen, die den Tunnel stützen, daher ein Anflug von - ja, jenem Gruft-Duft.

Mein »Heidelberger Platz« ist schwach besucht. Wer im gutbürgerlichen Wilmersdorf wohnt, hat einen Wagen. Nur die Kinder fahren mit dem Zug, die Omis, die Penner, die Studenten und ich. Nicht einmal einen Zeitungs-Kiosk beherbergt dieser Keller noch, kein Kartenverkaufshäuschen, keine Süßigkeitenbude und kein BVG-Büro. Das alles war einmal, die Baulichkeiten sind noch da, aber verrammelt. Heute ist nur noch ein Bettler vorhanden - oder soll ich sagen: ein Musikant? Der Kerl spielt Xylophon und ist aus einem dunklen Grund diesem einsamen Bahnhof treu. Schon oft wollte ich ihn fragen, warum. Ich schiebe es jedesmal auf. Dabei duzen wir uns, wir beiden letzten Freunde des »Heidelberger Platzes«. Als ich ihm kürzlich zwei Mark gab, sagte er: »Hast’n großes Herz. Ich heiße Otwin.« Und fragte nach meiner Lieblingsmelodie. Die beiden oberen Schneidezähne fehlen ihm. Das lässt ihn alt aussehen. Ich sagte ihm, dass ich Hagen heiße, und er spielte für mich »Strangers in the Night«.

Heute ist er nicht da. Außer dem Abfertiger bin ich der einzige Mensch in der festlich erleuchteten Tiefe. Ich nutze das aus und öffne mal kurz mein multifunktionales Köfferchen, um einen Blick in den oben rechts im Deckel eingelassenen Vergrößerungsspiegel zu werfen. Die Fallwinde auf den langen Treppen stoßen einem in die Locken und richten Verheerungen an. Meine Haare trage ich ein bisschen länger über den Ohren, und Frau Maaßen, die ich jetzt aufsuchen will, hat nichts dafür übrig. »Im Westen ist das ja wohl Mode«, sagte sie neulich abschätzig. Ich nahm mir vor, beim nächsten Mal in ihrem Hausflur mit dem Kamm durch die Haare zu fahren, ich darf es nicht vergessen. Da kommt die Bahn, eine A3. Täusche ich mich, oder riecht der Luftzug, den sie mitbringt, eine Spur nach Teer?


Ich habe meine Frau in der U-Bahn kennengelernt. Es war eine jener romantischen Begegnungen, um die man oft beneidet wird, denn die meisten Paare sind sich auf Betriebsausflügen oder Geburtstagsparties erstmals näher gekommen, das ist das Normale, und es eignet sich nicht zum Erzählen. Aber im U-Bahnhof, wo man ja kaum verweilt - außer wenn man Fahrkarten verkauft oder als Musikant Geld erbettelt-, wo man vor der Fahrt enttäuscht ist, wenn man nicht gleich vom eintreffenden Zug aufgelesen und weggetragen wird, und wo man nach der Fahrt so schnell davonstrebt wie es eben geht, auf einem U-Bahnhof trifft man nicht die Frau fürs Leben. Und wenn es geschieht, ist es etwas Besonderes.

Es war am Wittenbergplatz, vormals Endstation der Linie 2. Eine schlanke junge Dame hastete die Treppe rauf, wie die ganze Menge, und verlor dabei einen Absatz. Die hohe Hacke brach so plötzlich und vollständig von ihrem Stiefelchen ab, dass die Frau mit einem lauten »Heh-!« halb zur Seite, halb nach hinten wegkippte und mir, der ich auf das »Heh« hin stehengeblieben war, voll in die Arme plumpste. Hinter mir war zufällig ein bisschen Luft gewesen, der Menschenstrom registrierte die Stockung sogleich und rauschte links neben uns vorbei. Ich hielt das Mädchen im Arm und starrte in ein erschrockenes Gesicht mit herrlichen kohlschwarzen Brauen. Sie sagte: »O Gott, pardon!«

Ich hätte sie gerne längere Zeit so gehalten, aber sie rappelte sich hoch und suchte, ihr Erröten verbergend, methodisch und ziemlich mutig zwischen all den eiligen 17-Uhr-Heimkehrern nach ihrem Stöckel. Ich war hinter ihr stehengeblieben. Als sie sich aufrichtete mit ihrem Absatz in der Hand, sah sie mich mit einem Blick an, den ich später an ihr liebte und der so viel besagen sollte wie: Bitte laufen Sie nicht weg, nur weil ich ein bisschen ungeschickt bin! Ich legte meine Hand auf ihren Rücken und gab ihr einen leichten Druck wie beim Gesellschaftstanz; sie reagierte und stakste die Treppe hoch, anmutig um ihr Gleichgewicht besorgt, denn der eine Schuh war ja nun flach, und sie musste versuchen, sich mit einem tänzelnden Schwanken auf diesen ungleich hohen Stiefeletten aufrechtzuhalten. Oben fanden wir ein ruhiges Eckchen, und ich reparierte da ihren Schuh. Es war ganz einfach: In der Sohle klaffte hinten ein kleines, nicht allzu ausgefranstes Loch, und aus der Stöckelbasis ragte ein stumpfer Zapfen heraus. Man brauchte nur ein wenig Fingerkraft. Sie sah mir zu und überlegte - das gestand sie später ein - wie sie es anstellen sollte, mir ihre Dankbarkeit an einem Ort zu bekunden, der etwas weniger gerammelt voll wäre mit Wilmersdorfer Witwen und Charlottenburger Schuhverkäufem. Ich hatte ähnliche Gedanken und wusste meinerseits nicht recht, wie ich sie in Worte kleiden sollte. Schließlich platzten wir beide in derselben Sekunde los und luden einander kreuzweise zu einem Cappuccino ein. Wir gingen ins »Crystal«, das nur zweihundert Meter entfernt war. Es hieß so nach seinen Lüstern, fiel außerdem durch eine mächtige Papageienvoliere auf sowie durch eine besonders nette Wirtin. Einer von den Vögeln konnte sprechen. Er sagte laut: »Prost, alter Gauner!« Wir blieben, bis die Gaststätte um 23 Uhr schloss. In der Tür brach sich Almut, als sie meinetwegen über die Schwelle stolperte - ich hatte was gesagt, worüber sie lachen musste - ihren Absatz noch mal ab. Ich trug sie zum Taxi. Wir waren schon ein Liebespaar.


Abergläubisch bin ich nicht, aber ich frage mich manchmal, ob nicht solche romantischen Begegnungen einfach zu schön sind, um Steigerungen zuzulassen. Almut und ich verbrachten niemals wieder so beglückende Stunden wie damals im »Crystal«. Aufgeregt waren wir, betäubt vom Glück und schließlich etwas angesäuselt. Später hab ich mir manchmal gewünscht, Almut bräche sich noch einmal einen Absatz ab oder sänke mir zumindest unter Tage in den Arm. Aber sowas passiert höchstens zweimal.

Natürlich war es überflüssig, doch sie hatte jede Menge Komplexe. Zum einen wegen ihrer mageren Figur, an der mir gar nichts fehlte. Dass ihre Brüste winzig waren, schien mir gut zu ihr zu passen, und auch dafür, dass sie eine Banklehre abgeschlossen hatte und auf der Sparkasse in der Girokontenabteilung arbeitete, bewunderte ich sie aufrichtig. Sie aber glaubte, dass nur ein Mädchen mit enormen Formen und einem tollen Beruf wie Fernsehmoderatorin oder Profi-Sportlerin für mich gut genug sei. Dabei hätte ich mich mit so einer Superfrau nie wohl gefühlt.

Ich fand, dass meine U-Bahn-Braut vortrefflich zu mir passte, und ich weiß, sie fand das im »Crystal« absolut auch. Sie gab mir immer wieder diesen Treppenblick: Ich weiß, ich bin unmöglich, nimm mich trotzdem! Der Antwortblick, den ich versuchte, wollte sagen: »Keine Bange, Baby, ich lass dich nicht in Ruhe - du kannst machen, was du willst.«

 

Leider hat sie das wörtlich genommen.


Es ist Donnerstag, halb vier, die beste Zeit für Kundenbesuche. Das Wochenende hat noch nicht richtig angefangen, der Mensch ist offen für Fragen, die um den Ernst des Lebens kreisen. Andererseits ist es nicht mehr lange hin bis zu den arbeitsfreien Tagen, die Vorfreude hebt die Stimmung und stärkt die Bereitschaft, Bedenken zurückzustellen und einen Vertrag zu unterzeichnen. Frau Maaßen lebt im Osten. Man muss sie alle sanft anfassen, die Kunden von drüben, sie wittern den ganzen Tag Gauner. Zu Recht. Manchmal schmeichle ich mir, der einzige durch und durch ehrliche Versicherungsvertreter auf Berlins Böden zu sein, Umland inklusive. Wenn man, wie Frau Maaßen, nichts als eine Rente hat und einen Neffen großzieht, der so gut wie verwaist ist, sollte man die Verpflichtung spüren, für den Jungen eine Ausbildungsversicherung abzuschließen. Was wird denn sonst bloß aus dem Kind, wo die Arbeitsmarktlage ja hoffnungslos ist und die Tante auch nicht ewig lebt?


Jeder Mensch, der einen U-Bahnwagen besteigt, macht eine Wandlung durch, und ich glaube zu wissen, was für eine. Reisende sind stets ein bisschen beunruhigt und meist in Eile - ist das Fahrzeug zuverlässig, habe ich auch nichts vergessen, komme ich rechtzeitig an? U-Bahnreisende empfinden nicht so. Sie sind von einem fraglosen Vertrauen erfüllt und würden am liebsten für die Dauer der Fahrt die Augen schließen. Ja, ein U-Bahnwaggon hat etwas so Bergendes wie eine Konservendose - er verwandelt seine Fahrgäste in zufriedene Sardinen. Und das Öl, in das wir alle eingelegt sind, die wir hier durch den Untergrund rollen, das U-Bahn-Fluidum, dem ich gern den Geruch zuschriebe, der mich unter Tage so reizt, es ist von einer besonderen Beschaffenheit: ein bisschen trübe, ein bisschen schwer, ein bisschen süß. Ich habe mir lange den Kopf zerbrochen, was diese Flüssigkeit repräsentiert. Die Erschöpfung des Feierabends? Die Müdigkeit des Morgens? Die Bild-Zeitung? Bis ich des Rätsels Lösung in einem Zeitschriftenartikel fand. Es ging darin um die vorgeburtliche Geborgenheit im Fruchtwasser und die Neigung auch der erwachsenen Menschen, diesen Zustand der vollkommenen und glückerfüllten Sicherheit symbolisch oder auf dem Wege der Ähnlichkeit zu wiederholen. Wir alle, die wir hier sanft gerüttelt, in die Kurve gedrückt und von einem grollenden Geräuschmix aus Räderrattern, Motorengedröhn und Bremsenseufzen betäubt werden, wir alle, die wir dasitzen oder an den Haltegriffen hängen, ernst, abweisend und doch hingegeben - wir fühlen uns zuhause in einem schützenden Bauch. Was ist der fötalen Behaglichkeit ähnlicher als der Aufenthalt in einem Wagen, der durch den Leib der Erde zieht? Die Dosenfische, sie sind längst am Ziel - deshalb auch ist die Rate der Zuspätaussteiger in der U-Bahn am höchsten. Alle, die hier fahren, haben nicht nur an demselben Rhythmus teil, sondern auch an denselben Freuden. Die Wonne des Getragenwerdens löscht unsre Sorgen aus.


Warschauer Straße — heute ist das noch eine umwegige Fahrerei mit der S-Bahn über Alexanderplatz; aber wenn erst die Oberbaumbrücke wiederhergestellt ist, könnte ich vom Heidelberger Platz aus durchrauschen und mit Frau Maaßen täglich Kaffee trinken. Was ich mir überlegen werde, denn sie kocht eine Plörre und ist voll von Vorurteilen gegen uns Westler. Aber sie ist eine vielversprechende Kundin - da mit einer großen Verwandtschaft gesegnet, von Sympathie für mich erfüllt und drauf und dran, mich öfters zu empfehlen.

Die Warschauer Brücke überspannt die S-Bahn und das Gleisdelta des Hauptbahnhofs, der eigentlich »Schlesischer Bahnhof« heißt. »Warschauer Brücke« ist aber auch ein U-Bahnhof, einer der ältesten, vom Beginn des Jahrhunderts, weswegen ich ihn verehre. Zu DDR-Zeiten war er geschlossen. Denn hundert Meter weiter südlich verlief die Mauer - in Gestalt von Oberbaumbrücke, Spree und nervösen Grenzern, die hier mal auf einen türkischen Jungen angelegt haben. Der war von der Westseite aus in den Fluß gefallen.

Jetzt wird der Bahnhof restauriert - und die historische U-Bahnlinie erhält ihre Endstation zurück. Vielleicht baut man sogar noch hoch bis zur Stalinallee. Für mich ist das ein Grund zur Freude. Wiewohl ich mich öfter mal frage, ob das alles gutgehen kann. Wieviel Baustellen verträgt ein so dünner Boden wie der Berliner? In der Friedrichstraße müsste die Erdkruste kurz davor sein, einzubrechen. Und so wird das auf farbigen Bauvorhaben-Tafeln angekündigte »Altberliner Flair«, das hier neu entstehen soll, in den Orkus saugen, noch bevor es geschlüpft ist.

Es ist heiß auf der Warschauer Brücke, der leichte Wind kühlt nicht. Unter blauen Abdeckplanen, die den schmucken alten Zierturm neben dem Bahnhof einhüllen, bricht eine Rotte Kids hervor - was hatten die da verloren? Ja, jetzt ist Feierabend; die Arbeiter gehen nach Hause, und die Diebe und Junkies und Obdachlosen drängen in ihre Quartiere. Längst sind die Nächte so warm, dass man auch im Freien schlafen kann - aber was passiert bei plötzlichem Gewitter? Die Kinder hier sind noch ganz grün, einer von ihnen, ein schlanker Schwarzer, ist vielleicht siebzehn. Vorneweg stakst ein Mädchen, eins von der Sorte, die urplötzlich wie wild zu stark wachsen. Ist nur’n halben Kopf kleiner als ich, das Gör, und schätzungsweise vierzehn. Ihre schwarzen Haare sind verfilzt und stehen wie Schlangen vom Kopf ab. Eine Medusa. Doch das Gesicht ist nicht schrecklich, o nein. Sie zeigt es mir deutlich, als sie ihre Rotte über die Brücke fuhrt und auf mich losstürmt, als wolle sie durch mich hindurchmarschieren. Sie lässt es drauf ankommen, und ich, jaja, ich weiche aus. Die Burschen grölen. Von der Schwarzhaarigen höre ich ein »Yeah!«, und dann lacht sie ein krächzendes Lachen. Man sollte diese Kids in großen Keschern fangen und so lange zum Straßenfegen, Müllsortieren und Reinigen der mit Graffitti beschmierten U-Bahnschachtwände einteilen, bis sie wissen, wo der Hammer hängt.


Frau Maaßen wohnt in der Kopernikusstraße, in einem Haus aus dem vorigen Jahrhundert. Ich bin etwas zu früh und nutze die Zeit, mich im Treppenflur kurz zu kämmen. Wenn man wie ich einen natürlichen Kastanienton im Haar hat und außerdem natürliche Wellen, soll man die Haare so lang wachsen lassen, bis beides zur Geltung kommt. Das hat mir Almut auseinandergesetzt, und es hat mich überzeugt. Die Maaßen kann ihre Augenbrauen noch so hochziehen. Macht sie aber gar nicht, heute. Als sie auf mein Klingeln hin geöffnet hat, nickt sie nur mehrfach mit dem Kopf und sagt nach einem Seufzer:

»Herr Schäfer, kommse rin. Kaffee steht schon auf’m Tisch. Stellense sich vor, der Karli ist ausgebüxt...!«

»Karli?«

»Mein Neffe, Sie wissen doch. Ist einfach ab durch die Mitte. Unauffindbar seit vorgestern.«

Das sind ja Neuigkeiten. Die Maaßen forscht mit großen Augen in meinem Gesicht, im Schummerlicht des Korridors erkenne ich, dass ihre Ohren glühen. Sollte sie eine geheime Freude daran empfinden, mir den zu Versichernden, den Knaben, um dessentwillen ich die weite Reise von Wilmersdorf nach Warschau unternommen habe, als abgängig zu melden? Wo bleiben die mütterlichen Gefühle, die sie vorgeblich für den Stromer hegt? Als wir im Wohnzimmer angekommen sind, sehe ich tiefe Ringe unter ihren Augen und einen Zug äußerster Besorgnis um den Mund. Na also. Der Karli ist verschwunden, aber man wird doch wohl alles dafür tun, ihn wieder aufzufinden. Einer Versicherung steht nichts im Wege.

»Wie alt isser denn genau, Ihr Karli?«

»Gerade dreizehn geworden. Nehmse Sahne?«

»Ja danke. Mit dreizehn kann so’n Junge ja schon alleine über die Straße gehen. Machen Sie sich mal keine allzu großen Sorgen.«

»Na, wennse wüssten...«

»Ist die Polizei eingeschaltet?«

»Besser nicht, denk ick.«

»Wieso nicht?«

»Fällt auf mich zurück, wa?«

»Na aber, Frau Maaßen. Sie könn’ Ihren Neffen doch nicht anbinden. Und die Erziehung - für die sind Sie ja nun gar nicht verantwortlich.«

»Nee, das fällt auf mich zurück. Wennse wüssten...«

Da gibt’s also ein Geheimnis. Karli ist scheint’s kriminell oder lebt sonstwie gefährlich. Die Maaßen mag gar nichts erzählen. Doch wozu ist man Vertrauensperson? Abwarten ist alles. Wir trinken Kaffee.

»Und das mit der Versicherung«, sagt die Frau am Rand der Tränen, »das ist ja nun wohl hinfällig, wa?«

»Aber nicht doch, ganz im Gegenteil. Gerade so’n Problemkind wie Ihr Karli braucht den Schutz, das isses doch, ‚n strebsamer Jugendlicher erarbeitet sich zur Not seine Ausbildung selbst, ’n gefährdeter Jugendlicher, der ist drauf angewiesen, dass vorgesorgt wird, nicht wahr? Da ist dann die Versicherungssumme sozusagen der Haltegriff, der ihn vorm Absturz rettet.«

Mir scheint, Frau Maaßen empfindet die Wörter »Haltegriff« und »Schutz« als Trost, sieht ihren Karl schon auf der Straße des Erfolges und ist nun doch bereit, sich mir anzuvertrauen. Ich hole angelegentlich das Notebook raus. Sie redet. Ogottogott, dieses Kind. Aber sie könne nun nicht so schnell gutmachen, was ihre Schwägerin über Jahre hinweg versaubeutelt habe. Das Schlimmste mit Karli sei, dass er sich nicht ausspreche. Man wisse ja nicht, was in ihm vorgehe. Sie sei auf Vermutungen angewiesen.

Und sie erzählt von einer Kinderbande, die ihr Hauptquartier hier im alten Bahnhof gehabt hat, im Mäuseturm. Da ist der Karli immer mitgezogen, da hatte er seine zweite Heimat, seine besten Freunde, auch ein Mädchen ist dabei gewesen, an der er sehr gehangen hat. »Heute fangense ja so früh an, Sie glaubens nicht.« Ich muss an die kleine Gang von vorhin denken und frage mich, ob Karli dabei war.

»Wie sieht er aus, Ihr Neffe? Haben Sie ein Foto?«

Sie steht auf, geht zum Regal und sucht in einem Album. Seit die Bauarbeiten im Bahnhof begonnen haben, sind die Kinder, erfahre ich, zum Alex umgezogen, Karli wohl mit ihnen. Sie kämen nur noch manchmal hier vorbei, vor allem abends, wenn die Bauarbeiter weg sind. Karli ist öfter schon über Nacht ausgeblieben - aber zwei Nächte, das ist neu. »Was treiben diese Kinder denn?«

»Na, klauen, Automaten knacken, solche Sachen ebent.«

»Und... äh ... Drogen?«

»Oh - der Karli nich. Nee, das hätt ich gemerkt.«

Sie reicht mir ein Foto rüber. Netter kleiner Lausejunge, blond, schmal, helle Augen. War er dabei auf der Brücke? Ich kann’s nicht sagen. Hab eigentlich nur die Medusa gesehen - und den Schwarzen.

»Verstehense, dass ich... mit der Polizei... lieber gar nich erst anfangen will? Verstehense?«

Klar verstehe ich. Will gerade - und strecke die Hand aus - ihren Arm ein wenig tätscheln, blicke hoch, und da steht Frau Maaßen mit zuckendem Gesicht und weint. Ihre Ohren flammen.

»Was soll ich denn bloß machen? Herr Schäfer!«

Sie fällt in den Stuhl. Legt die Stirn in beide Hände, und mir kommt das Notebook auf dem Tisch jetzt reichlich albern vor. Ich klopfe der Tante sanft auf die Schulter. Sie fasst sich. Von ihrer Oberlippe wischt sie eine Träne.

Da sage ich:

»Vielleicht kann ich ... helfen ...?« und wünsche sofort, ich hätte es nicht gesagt. Ja, bin ich denn völlig verrückt? In Frau Maaßens Gesicht kommt starke Bewegung. Ein Lächeln arbeitet sich durch ihre Sorgenfalten, und ihre Augen leuchten gegen den Tränenflor an. Sie stammelt:

»Das würden Sie tun?«

Ich räuspere mich. Sie fragt:

»Hamse auch Kinder?«

Ich verneine.

Aber Respektsperson kann ich trotzdem sein. So lasse ich wissen:

»Dem Karli gehört doch nur mal die Meinung gegeigt, wie? Der iss doch im Grunde ‚n guter Junge, he? Wenn man dem das mal ganz klar sagt, dass seine Zukunft aufm Spiel steht...«

Soweit denkt Frau Maaßen gar nicht. Ihr reicht es, wenn der Lümmel aufgefunden und nach Hause geschleift wird, ein bisschen Körperkraft würde das ja erfordern. Und sie ist mit ihrer Arthritis dazu nicht mehr so fähig. Wenn ich den Zugriff übernähme und das Schleifen... Ohrfeigen täten nicht nötig. Sie würde sich dann morgen mit ihrem Bruder in Verbindung setzen.

 

Aber ich bin nicht in der Stimmung, jetzt mit der Tante auf Streife zu gehen. Schütze eine weitere Verpflichtung vor, hier in der Gegend, und verspreche, die Augen offenzuhalten, auch im Mäuseturm nachzusehen. Frau Maaßen nickt mit dem Kopf. Ihr wird klar, dass sie mein Hilfsangebot ein bisschen zu großzügig ausgelegt hat. Ich packe das Notebook ein.

Sie putzt sich die Nase, bringt mich zur Tür und gibt mir zum Abschied die Hand. Ich springe die Treppen runter, als könnte ich die Medusa und ihren Tross noch einholen.


Draußen geht jetzt ein kräftigerer Wind, aber es ist immer noch heiß. Über die Warschauer Brücke strömen die Friedrichshainer Werktätigen heimwärts. Sie haben alle diese Ost-Verschlossenheit in ihren Mienen - eine Mischung aus Ärger und Gier. Tja, Leute, jetzt kommt der Weststandard, und eine günstige Hausratversicherung sollte drin sein - bevor Karli und seine minderjährige Chefin bei euch einbrechen und den gerade erworbenen Videorecorder abräumen. Ich schwenke rüber zur S-Bahn - nicht ohne vorher kurz hinter die Plastikplanen der Bahnhofsbaustelle gespäht zu haben. Nichts. Um Frau Maaßens willen sollte ich tatsächlich am Alex ein bisschen herumgucken. Zwar überlege ich, ob es nicht besser sei, diese Kundin zu vergessen, aber die Tante ist ja schließlich auch ein Mensch, und als solcher tut sie mir einfach leid.

Am Alex steige ich immer gerne in die U-Bahn um: wegen Grenander.

So heißt der Architekt des Bahnhofs. Halb Berlin hat er untertunnelt, vor allem in den zwanziger Jahren, und mein Schicksalsbahnhof Wittenbergplatz stammt auch von ihm. Ist Heidelberger Platz die schönste, so Alex die großartigste aller Berliner Stationen. Einst lief die Mauer durch das Gewölbe, als Westler konnte man mit der Gesundbrunnen-Neuköllner Linie auch den Alex unterfahren, aber die Züge hielten nicht an, und vom Herumspazieren in den Riesenkellern war nur zu träumen. Und obwohl das jetzt alles schon vier Jahre anders ist, weitet es mir jedesmal wieder das Herz, wenn ich zur Hönower Linie herabsteige.

Vom unteren Bahnsteig her riecht es verführerisch nach Ackerkrume und Schmieröl - ich bin in meinem Element. Ich brauche gar keinen Geheimauftrag von Frau Maaßen, ich habe ganz von selber Lust, hier rumzulaufen. Sei mir gegrüßt, Grenander. Du hattest nicht viel Platz für das Zwischengeschoss, wie? Und konntest auch nicht wissen, dass die Menschen gegen Ende des Jahrhunderts gern mal zwei Meter hoch werden. Jetzt müssen sie ihre Köpfe einziehen, bevor die Tiefe sie aufnimmt. Dort aber werden sie reichlich belohnt. Der Hönower Bahnsteig ist ein grüner Dom, hoch, weit und unwirklich wie die Kultstätte eines verschollenen Stammes Innerirdischer, die nur künstliches Licht kennen. Der einzige Luxus ist Höhe. Der einzige Schmuck sind die Nieten an den vierkantigen Trägern - wenn man von der Wandkeramik absieht. Die erscheint zunächst schlicht grün. Guckt man aber genauer hin, erkennt man, dass der Schimmer changiert. Es sind nur geringe Farbnuancen, worin sie sich unterscheiden, aber die genügen, damit die Wände leben. Später ausgebesserte Stellen erkennt man sofort: an der dicken farbigen Gleichförmigkeit, von der ein deprimierender Schwimmbad-Effekt ausgeht. Auch sonst ist die Entwicklung unterm Pflaster seit Grenander rückläufig. Einst wurden für Fahrkartenschalter Architektenwettbewerbe ausgeschrieben! Heute gibt es nur noch Automaten, ohne jeden Reiz.

Nach dem Mauerfall warf ich mich auf die Ostbahnhöfe. Ich machte den Versuch, Almut an meiner Passion teilnehmen zu lassen, und fuhr mit ihr durch Grenanders Welt. Es klappte anfangs prima; sie hörte sich geduldig meine Ausführungen über Strecken, Waggons und Bahnhofsarchitektur an. Ich vergaß sogar, mich vor ihr zu schämen, dass ich Modelleisenbahner bin und ziemlich viel Zeit und Geld in dieses Hobby stecke. Aber ihre Toleranz war oberflächlich. Und ihre Lust zum Hinausfahren klang ab. Ich mochte sie nicht drängen, also wartete ich. Wir machten unsre erste Reise nach Paris. Danach, so hoffte ich, würde sie sich schon wieder auf die Schiene locken lassen. Von wegen. Jetzt war es an mir, in ihre Passion eingeweiht zu werden.


Dass sie »anders« sei, hatte sie mir gleich zu Beginn gesagt. Sie hatte es ein paar Mal wiederholt und einige geheimnisvolle Andeutungen drumherumgewoben, aber ich wußte nie genau, was es bedeuten sollte. Sie vielleicht auch nicht, dachte ich unbesorgt. Wer ist denn schon wie alle? Klar war mir lediglich, dass dieses Anderssein mit Sex zu tun hatte, das war aus dem Zusammenhang ihrer Andeutungen hervorgegangen.

Während unserer Pariser Wochen - es war die Zeit, als wir täglich miteinander ins Bett gingen und uns immerzu Streiche spielten: Sie versteckte meine Schuhe und meine Krawatte, und ich praktizierte ihr eine lebendige Schnecke in die Handtasche - während dieser Zeit vergaß ich ganz, dass da etwas nicht stimmen sollte. Sie erschien mir wunderbar normal, ich konnte, abgesehen von ein paar kleineren Eigentümlichkeiten, keinen Unterschied zwischen ihr und den Liebhaberinnen meiner Jugendjahre entdecken. Während ich nichts Böses ahnte, dachte sie nur eins: Wie sag ich’s ihm? Und sie verfiel auf eine glänzende Idee: Sie verlegte ihre Andersartigkeit in die Vergangenheit. Nur in dieser Zeitform konnte sie mir alles sagen.

Wir saßen auf einer Bank im Jardin de Luxembourg. Es war Sommer. Ich hatte eine Flasche mit Sprudel dabei, Almut eine Tüte mit Blätterteigbruch. Ich war glücklich. Sie nicht. Wie kam es nur, dass ich es nicht merkte? Glück macht blind. Der es einem schenkt, denkt man, muss davon im Überfluss haben.

»Du hast mich nie gefragt«, sagte sie, »was ich meine, wenn ich sage, ich sei >anders<...«

»Na, dass du auf Frauen stehst, kann ich mir nicht vorstellen -«

Sie lachte. Es klang komisch. Ich sprach schnell weiter:

»Also, ich finde, das einzig Ungewöhnliche an dir sind deine langen Beine, deine schlanken Hüften, deine schönen -«

Sie unterbrach mich:

»Jaja, das ist es ja. Es ist schon vorbei mit dem Anderssein. Du hast es mir ausgetrieben. Jetzt bin ich wie normale Frauen...«

Sie wandte sich mir zu, und ich wollte sie in den Arm nehmen, um die Versöhnung nach einem nie erfolgten Zerwürfnis, nach der bloßen Drohung einer Krise zu besiegeln, hatte dafür auch schon eine passende Antwort auf den Lippen, nämlich ein launiges »Das ist doch meine Rede«, als ich sah, dass sie mir die Blätterteigtüte hinhielt und selbst kaute. Ich nahm ein bisschen Gebäck und begriff, dass es zu früh gewesen wäre, die Sache beizulegen. Jetzt, wo die Gefahr nicht mehr akut, sondern ins Dunkel der Vergangenheit abgeschoben schien, konnte man über sie reden. Und ich bat Almut, mir alles zu sagen.

Sie holte aus, sprach über ihre Jugend, stockte dann und fragte, ob ich mir unter »weiblichem Exhibitionismus« etwas vorstellen könne. Ich musste lachen, was sie verstimmte. Ich beherrschte mich und sagte, ich dächte dabei an Stripteasetänzerinnen. Sie wandte ein, dass diese Mädchen häufig gar keine echten Exhibitionistinnen seien. Sie machten es des Geldes wegen und hätten keine wahre Freude dran. Bei ihr sei es folgendermaßen:

Sex in der Abgeschlossenheit des Schlafzimmers habe ihr früher wenig bedeutet. Sie habe es dem Mann zuliebe getan. Was sie brauchte, war ein Zuschauer, also eine dritte Person. War die zugegen und als Voyeur glücklich, während sie es trieb, dann - und nur dann - kam sie auf höchste Touren und ging, wie sie es ausdrückte, ins Nirwana ein. So sei sie nun mal gestrickt gewesen, da habe sie gar nichts dafür gekonnt. Sie hatte sich immer, als junges Mädchen bei ihren ersten Liebschaften, gewundert, wie wenig sie empfand. Bis sie einmal, bei Sex im Freien, sich beobachtet glaubte und auch tatsächlich beobachtet wurde. Da plötzlich durchfuhr sie der große Schauer. Und sie wusste: So geht’s. Seitdem brauchte sie für ihre Lust einen Mann mehr als andere Frauen.

Almut redete sich alles von der Seele. Sie sah zuerst in ihrer Veranlagung einen Makel und entschloss sich, in Therapie zu gehen. Sprang aber vor der ersten Sitzung wieder ab. Mittlerweile hatte sie einen lebenspraktischen Ausweg gefunden: die Phantasie. Wenn sie mit ihrem damaligen Freund ins Bett ging, stellte sie sich vor, es stünde ein Fremder hinter der Gardine, und schon ging alles gut. Aber die Vorstellungskraft erlahmte mit der Zeit. Nachdem Almut ihr alle Varianten entlockt hatte, einschließlich des unterm Bett versteckten Einbrechers, der entzückt wichste, während über ihm die Matratzenfedem kreischten, war Schluss. Verzweifelt blätterte sie im Telefonbuch. Und sie rief das Sex-Krisentelefon einer alternativen Beratungsstelle an.