Ach du Schreck! AD(H)S

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Ach du Schreck! AD(H)S
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Arno Backhaus

Visnja Lauer / Dr. Just Lauer

Ach du Schreck! ADS

Vom Chaoskind zum Lebenskünstler


Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

3. Auflage 2011

ISBN 9783865065667

© 2009 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfotos: Colourbox; Arno Backhaus

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Ein ganz normaler Tag

I AD(H)S: KEIN SCHRECKGESPENST

DR. JUST LAUER / ARNO BACKHAUS

Was sich hinter AD(H)S verbirgt

Ursachen

Auswirkungen auf das Leben Betroffener

Behandlungsmöglichkeiten

Persönliche Erfahrungswerte

Worterklärungen

1 EINE KINDHEIT MIT AD(H)S

ARNO BACKHAUS

Immer in Bewegung, ständig „auf Schuss“

Von der Schule geflogen, sitzen geblieben, geklaut

Familienalltag: Streit und Schläge

Eine kriminelle Karriere im Kleinen

2 DIE GROSSE WENDE

ARNO BACKHAUS

Entscheidung für ein Leben mit Jesus

Ehe mit Hanna

Neuanfang

»Arno & Andreas«

Vergebung

Gemeindegründung

3 EIN KIND MIT AD(H)S

ARNO BACKHAUS

Der Wunsch nach einem Kind (Hanna Backhaus)

Unser Sohn Fabian: Diagnose AD(H)S

Die Familien-Konferenz

Die Herausforderung annehmen (Hanna Backhaus)

4 LEBEN MIT AD(H)S

ARNO BACKHAUS

Die Erkenntnis: Ich habe AD(H)S

Interview mit Hanna und Arno

Die ihre Hoffnung auf den Herrn setzen, bekommen neue Kraft

Menschen mit AD(H)S in der Bibel

Die Stärken stärken, die Schwächen schwächen

Kann es sein, dass ich AD(H)S habe? (Dr. Just Lauer / Visnja Lauer)

II AD(H)S: DIE EIGENE »FUNKTIONSWEISE« VERSTEHEN

VISNJA LAUER

Aktivierung

Die exekutiven Funktionen

Die unbewusste Verarbeitung von Informationen

Was ist durch AD(H)S bedingtes, was erworbenes Verhalten?

Identität und Selbstwert

Familiensituation

AD(H)S – Kreativität oder Störung?

Das Leben geht weiter

Quellenverzeichnis

Literaturempfehlungen

Danksagungen

Vorwort

Dieses Buch soll weder eine Selbstdarstellung noch eine Abrechnung mit meiner Familie sein, sondern Menschen ermutigen, die an ihrem eigenen AD(H)S leiden oder an dem ihrer Kinder, Ehepartner, Nachbarn, Arbeitskollegen oder anderer Personen aus ihrem Umfeld.

Während ich über die ersten 15 Jahre meines Lebens schrieb, wurde mir bewusst, dass so eigentlich eine kriminelle Karriere im Kleinen beginnt. Was wäre aus meinem Leben geworden, wenn ich nicht Menschen getroffen hätte, die mein Leben auf den Kopf gestellt haben?

Mit meinen Erfahrungen will ich Hoffnung wecken und anderen Mut machen. Aus einem chaotischen Leben und einer tragischen Geschichte kann etwas werden, wenn ein Mensch bedingungslos geliebt wird. Es lohnt sich, in Menschen zu investieren und sie zu lieben, wie sie sind! Aber wer liebt dich schon so, wie du »biest«?

Ich bin kein Theoretiker, sondern ein Autodidakt, ich fahre mit meinem Auto viel in Deutschland herum, halte Vorträge, gebe Konzerte und mache viele Er-fahr-ungen. Ich lebe, experimentiere, versage, lerne aus dem Versagen und lebe wieder, versage, lerne wieder daraus und lebe. In diesem Buch berichte ich über meine Erfahrungen im Umgang mit meinem AD(H)S und dem unseres Sohnes.

Ich könnte mir vorstellen, als Gott die Menschen schuf, fiel ihm auf, dass noch »das Salz in der Suppe« fehlte, und so ließ er sich AD(H)S einfallen. Was wäre die Welt ohne diese besondere, merkwürdige (des Merkens würdige), außergewöhnliche Spezies Mensch?

AD(H)Sler sind wirklich wie Diamanten! Man muss sie mit Fassung tragen.

Arno Backhaus

Ein ganz normaler Tag

Ich beschließe, das Auto zu waschen. Als ich zur Tür gehe, sehe ich, dass die Post auf dem Tisch liegt. Na gut, bevor ich das Auto wasche, werde ich schauen, wer mir geschrieben hat. Ich lasse die Schlüssel auf dem Schreibtisch liegen, schmeiße die Post weg, die mich nicht interessiert, und stelle fest, dass der Mülleimer voll ist. Ich werde die Rechnungen und Kontoauszüge im Schreibtisch verstauen und den Mülleimer ausleeren. Aber wo die Schublade des Schreibtisches schon mal offen ist, könnte ich doch eigentlich gleich die Schecks ausstellen, um die Rechnungen zu bezahlen. Wo ist das Scheckheft? Auweia! Es ist nur noch ein Scheck drin. Mein Vorrat an Schecks ist in der zweiten Schublade des Schreibtisches. Ah, da auf dem Tisch ist ja das Glas mit Saft, den ich vorhin gerade trinken wollte. Ich werde die anderen Schecks suchen – aber zuerst muss ich das Glas wegstellen; es steht zu nah am Computer. Ach, dann kann ich ja den Saft auch gleich wieder in den Kühlschrank stellen, er ist schon ganz lauwarm. Ich gehe Richtung Küche und sehe, dass die Pflanzen Wasser brauchen. Ich stelle das Glas Saft auf das Tischchen neben der Küche und – juhuuuuuuuu!, da ist sie ja, die Brille, die ich schon den ganzen Morgen gesucht habe! Die sollte ich besser sofort verstauen. Dann fülle ich eine Kanne mit Wasser und nähere mich meinen durstigen Pflanzen. Ahhhhhh! Jemand hat die Fernbedienung in der Küche gelassen und ich habe mich halb tot gesucht, als ich fernsehen wollte. Am besten bringe ich sie gleich dahin zurück, wo sie hingehört. Ich gieße meine Pflanzen ein wenig – ein bisschen gieße ich auch den Boden, den werde ich aber bestimmt gleich sauber machen –, werfe die Fernbedienung auf die Couch und gehe auf die Haustür zu, die ganze Zeit mit dem Gedanken beschäftigt: Was war es doch gleich, das ich die ganze Zeit machen wollte?

 

Am Ende des Tages ist das Auto nach wie vor schmutzig, die Rechnungen sind unbezahlt, das Glas Saft steht auf dem Tischchen neben der Küche, meine Pflanzen haben nicht genug Wasser, um überleben zu können, im Scheckheft ist nach wie vor nur ein Scheck und ich kann beim besten Willen die Autoschlüssel nicht finden! Als mir klar wird, dass ich den ganzen Tag überhaupt nichts zu Ende gebracht habe, bin ich überrascht, denn eigentlich war ich die ganze Zeit beschäftigt. Ich muss feststellen, dass AD(H)S eine sehr ernste und schwerwiegende Störung ist. Am besten versuche ich mal, was über das Internet rauszufinden. Aber erst mal schauen, ob mir irgendjemand eine E-Mail geschickt hat …1

AD(H)S: kein Schreckgespenst

DR. JUST LAUER/​ARNO BACKHAUS

Was sich hinter AD(H)S verbirgt

Gleich zu Beginn, lieber Leser, möchte ich Sie etwas verwirren. Die Begriffe ADS (Aufmerksamkeitsdefizit-Störung) bzw. ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung) sind mir persönlich unsympathisch, steht das »S« darin doch für »Störung« und weist damit unmittelbar auf Probleme, Defizite, Fehlfunktionen, kurz, auf eine Krankheit hin. Von einer solchen Vorstellung ausgehend werden die nicht selten genialen Fähigkeiten der Betroffenen, die sie zu besonders interessanten Menschen machen können, automatisch in den Hintergrund gedrängt. Die oft bewundernswerte Genialität von AD(H)Slern in bestimmten Teilbereichen des Lebens hat – genau wie die Verhaltensweisen, die an anderen Stellen Probleme bereiten und die Wurzel für die vielfältigsten Fehlentwicklungen sein können – ihre Ursache in speziellen Funktionsweisen des Gehirns. Arno Backhaus wird die besonderen Befähigungen dieser Menschen an späterer Stelle ausführlich beschreiben. Meine Ausführungen dagegen befassen sich beinahe ausschließlich mit den ungünstigen Aspekten und Auswirkungen dieser speziellen Art »zu ticken«. Sehen Sie mir das nach! Ich bin Mediziner und wir werden für gewöhnlich immer dann aufgesucht, wenn irgendetwas beim Menschen nicht so funktioniert, wie es sollte, und Beeinträchtigungen auftreten. Genau die sind es ja auch, die AD(H)S-Betroffenen das Leben schwer machen und uns dann von einer Störung sprechen lassen.

In meinen Ausführungen muss ich mich leider auf einige wenige Aspekte zu dem riesigen Thema AD(H)S beschränken – sonst wäre ein eigenständiges Buch entstanden. Für umfassendere Informationen weise ich auf die Literaturempfehlungen hin.

AD(H)S:

Differenziertes Wissen tut not

In der Vergangenheit war es oft mühsam, Menschen von der Existenz, geschweige denn der Bedeutung von AD(H)S überzeugen zu wollen. Heute bestehen die Schwierigkeiten eher darin, dass viele das Wesentliche schon zu wissen meinen. Es wird dann nicht selten alles in einen Topf geworfen: die typischen Verhaltensweisen von AD(H)Slern, die daraus erwachsenden Probleme und individuellen Verarbeitungsmechanismen, die sehr stark von den Lebensumständen abhängen, in denen der einzelne Betroffene sich befindet bzw. aufgewachsen ist, und mögliche Begleitstörungen.

Bei AD(H)S handelt es sich um eine der häufigsten, wenn nicht sogar die häufigste psychische Störung im Kindes- und Jugendalter, die zunehmend als chronische Störung angesehen wird, da sie sich in der Mehrzahl der Fälle auch im Erwachsenenalter nicht verliert.

Zudem wird die enorme Bedeutung der Störung meines Erachtens immer noch unterschätzt. Differenziertes Wissen tut not! Handelt es sich doch bei AD(H)S um eine der häufigsten, wenn nicht sogar die häufigste psychische Störung im Kindes- und Jugendalter, die zunehmend als chronische Störung angesehen wird, da sie sich in der Mehrzahl der Fälle auch im Erwachsenenalter nicht verliert. Schätzungen zufolge soll AD(H)S bei 3 – 6 % aller Kinder und Jugendlichen und 2 – 4 % aller Erwachsenen vorliegen. AD(H)S im Erwachsenenalter ist in Deutschland spätestens seit 2003 anerkannt. Nach Ergebnissen der sogenannten Milwaukee-Studie, auf die wir noch zurückkommen werden, bildet sich die Störung lediglich bei 14 – 35 %2 der betroffenen Kinder zurück, je nachdem, welche Kriterien für eine Gesundung angelegt werden.

»Die Medien sind voll von Meldungen über AD(H)S-Kinder: kleine Chaoten, Zappelphilippe, Problemkinder. Was wird aus diesen Kindern eigentlich, wenn sie erwachsen sind? Aus Kindern mit AD(H)S werden, mit einiger Wahrscheinlichkeit, Erwachsene mit AD(H)S. Nur haben diese sich meist sehr unterschiedlich mit dieser Tatsache arrangiert. Ohne zu wissen, dass es AD(H)S gibt, geschweige denn, dass sie davon betroffen sind, schaffen sich AD(H)Sler ihre persönlichen Überlebensstrategien. Der ›Aha-Effekt‹ kommt vielfach erst, wenn sie selbst Kinder haben, die ›auffällig‹ sind. Wird bei ihrem Kind die Diagnose AD(H)S gestellt, erfahren sie, dass diese Veranlagung familiär gehäuft auftritt. Fragt man sie dann nach Erlebnissen aus der eigenen Kindheit, macht es ›klick‹.«

ARNO BACKHAUS

Die Diagnose AD(H)S

Die Diagnose AD(H)S wird gestellt, wenn Betroffene unaufmerksames und impulsives Verhalten mit oder ohne Hyperaktivität (motorische Unruhe) zeigen, das nicht ihrem Alter oder sonstigen Entwicklungsstand entspricht und zu deutlichen Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen führt. Die Diagnosestellung fordert auch, dass die Auffälligkeiten länger als sechs Monate bestehen, Krankheitszeichen bereits vor dem Alter von sieben Jahren erkennbar waren und die Symptome nicht besser durch eine andere Störung erklärt werden können. Die Aufmerksamkeitsproblematik bleibt bei Fortbestehen der Störung im Erwachsenenalter von zentraler Bedeutung. Für die beiden anderen Leit- oder Kernsymptome, Impulsivität und besonders Hyperaktivität, gilt das nicht in diesem Maße. Letztere ist bei betroffenen Erwachsenen kaum noch oder nur sehr abgeschwächt vorhanden und wird mehr als eine innere Ruhelosigkeit empfunden.

Die Diagnose AD(H)S wird gestellt, wenn Betroffene unaufmerksames und impulsives Verhalten mit oder ohne Hyperaktivität zeigen, das zu deutlichen Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen führt.

Es existieren mehrere verschiedene Formen von Aufmerksamkeit, die im Gehirn über unterschiedliche Nervenzellennetzwerke gesteuert werden. Aufmerksamkeit im Sinne von Wachheit meint einen Zustand des Organismus, der von hellwach bis tief schlafend reicht. Bei der selektiven Aufmerksamkeit geht es um die Zuwendung zu bestimmten Sachverhalten und das Ausblenden anderer Ereignisse, vergleichbar dem Lichtkegel eines Scheinwerfers. Am deutlichsten ausgeprägt scheinen die Schwierigkeiten bei der Daueraufmerksamkeit zu sein. Darunter versteht man die Fähigkeit, Handlungen zu planen und bis zum Erreichen des Zieles konzentriert weiterzuführen.

»Für AD(H)S-Betroffene kann eine simple Unterhaltung auf einer Party eine ungemein anstrengende Sache sein. Je mehr visuelle und akustische Eindrücke sie wahrnehmen, desto schwieriger wird es für sie, sich auf eine Sache zu konzentrieren. So schwierig, dass sie manchmal wirklich nicht mehr zu normaler Kommunikation fähig sind! So paradox es klingen mag, manche AD(H)Sler können ihre Konzentrationsschwierigkeiten beheben, indem sie während der Arbeit ein Radio oder einen Fernseher laufen lassen. Die dezente Geräuschkulisse verhindert dann, dass sie andere Ablenkungen registrieren.«

ARNO BACKHAUS

Besonderheiten der Hirnfunktion

Bei AD(H)S handelt es sich um eine der häufigsten, wenn nicht sogar die häufigste psychische Störung im Kindes- und Jugendalter, die zunehmend als chronische Störung angesehen wird, da sie sich in der Mehrzahl der Fälle auch im Erwachsenenalter nicht verliert.

Noch ist es verbreitet, von verschiedenen Formen von ADS zu sprechen: dem hyperaktiv-impulsiven, dem unaufmerksamen oder dem kombinierten Subtyp, je nach Ausprägung der drei Leitsymptome. Bei dieser Einteilung stehen die Kernsymptome ganz im Vordergrund. Die aktuelle Forschung beschäftigt sich intensiv mit den hinter diesen Symptomen steckenden Besonderheiten und Beeinträchtigungen der Hirnfunktion und hat dazu verschiedene neuropsychologische Erklärungsmodelle entwickelt. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen die sogenannten exekutiven (ausführenden) Funktionen, wobei es sich um eine Vielzahl von komplexen Prozessen in unserem Gehirn handelt, die entscheidend für ein zweckmäßiges, zielgerichtetes und selbstregulierendes Verhalten sind. Bei AD(H)S scheinen viele der exekutiven Funktionen beeinträchtigt zu sein. Auch das Arbeitsgedächtnis ist betroffen. Es ist von Bedeutung für die Speicherung und Nutzung von Informationen, die für die Planung und Organisation von Handlungsabläufen wichtig sind. AD(H)S-Betroffene haben Probleme bei der zeitlichen Organisation ihrer Handlungen und können Zeiträume und -verläufe nur schwer einschätzen. Es gelingt ihnen schlechter, die Konsequenzen ihres eigenen Handelns vorauszusehen, aus Erfahrungen zu lernen und entsprechend dieser Erfahrungen in Gegenwart und Zukunft angemessen und effektiv zu handeln.

»Viele AD(H)Sler haben große Schwierigkeiten mit Zeitabläufen. Sie haben ein anderes Zeitgefühl und tun sich ausgesprochen schwer, realistisch zu planen. Für ihre Mitmenschen bedeutet das: Sie sind oft unpünktlich, unzuverlässig und schwer zu fassen. Aber auch AD(H)S-Betroffene können an ihrem Zeitmanagement arbeiten! Jeder kann selbst entscheiden, welche Hilfsmittel ihm sympathisch sind: Timer, Zeitpläne, piepsende Uhren, bunte Erinnerungszettel … «

ARNO BACKHAUS

AD(H)S: Ein Phänomen

moderner Gesellschaften?

AD(H)S-Betroffene haben das zentrale Problem, sich angemessen zu organisieren und aufgabenangepasst zu verhalten, wodurch die Entwicklung von Selbstständigkeit in allen Bereichen des täglichen Lebens mehr oder weniger beeinträchtigt wird. In einem Gesellschaftsgefüge, das sich durch zunehmende Komplexität auszeichnet und wachsende Anforderungen an die Fähigkeit des Einzelnen stellt, zu lernen und sich selbst zu organisieren, wirken sich diese Beeinträchtigungen nachteiliger aus. Das ist ein wesentlicher Grund, warum AD(H)S heute in aller Munde ist, häufiger diagnostiziert wird und eine Modekrankheit zu sein scheint.

AD(H)S ist heute in aller Munde, wird häufiger diagnostiziert und scheint eine Modekrankheit zu sein. Aber diese Störung gab es schon immer.

Besonders kritische Geister vermuten ja, sie sei eine Erfindung der Pharmaindustrie und einiger findiger Ärzte! Aber diese Störung gab es schon immer. In der Literatur werden seit Jahrhunderten Menschen mit AD(H)S beschrieben. Besaß nicht schon Petrus die Eigenschaften eines AD(H)Slers (s. S. 141)?

»AD(H)Sler leben oft im Chaos. Jegliche Routinearbeiten sind ihnen verhasst, und dazu gehört häufig auch das Aufräumen. Hat sich dann erst einmal eine größere Unordnung entwickelt, sind sie nicht mehr in der Lage, diesen ›Berg‹ zu bewältigen. In den letzten Jahren gab es viele Buchveröffentlichungen über ›Messies‹, Menschen, die ihren Haushalt oder Arbeitsplatz einfach nicht in den Griff bekommen und schier im Chaos untergehen. Es gibt bereits einige Messie-Selbsthilfegruppen und in den USA wurde sogar ein 12-Schritte-Programm entwickelt, mit dessen Hilfe man Herr über das Chaos werden kann. Alle diese Tipps eignen sich auch für AD(H)S-Betroffene, die übermäßige Schwierigkeiten mit Ordnung haben.«

ARNO BACKHAUS

Veränderte Lebensbedingungen lassen aber eine wachsende Zahl Betroffener auffällig werden, »durchs Raster fallen«, weil die erhöhten Anforderungen an eine angemessene Selbststeuerung und Selbstorganisation des Verhaltens nicht mehr erbracht werden können.

Der hitzig diskutierte Gegensatz von Vererbung und Umwelteinflüssen ist durch die neuere Forschung aufgelöst worden und das Zusammenwirken beider Ursachen wird immer besser verstanden.

Die Gesellschaft wird sich in absehbarer Zeit sicher nicht in eine Richtung verändern, die AD(H)S-Betroffenen das Leben leichter macht. Im Gegenteil, aller Voraussicht nach werden die Anforderungen an die menschliche Lern- und Anpassungsfähigkeit noch weiter steigen.

 

»Als ›Gegenpart‹ zum Messie gibt es aber auch überdurchschnittlich viele zwanghafte AD(H)Sler. Die Entwicklung der Zwanghaftigkeit kann dabei als Überlebensstrategie verstanden werden. Zwanghafte AD(H)Sler sind gewissenhaft, perfektionistisch, überordentlich, halten Regeln penibel ein, reden nur dann, wenn sie sicher sind, dass es auch ›stimmt‹, was sie sagen. Ihre Zwanghaftigkeit äußert sich als ein unangemessenes Kontrollbedürfnis in vielen Lebensbereichen. Diese AD(H)S-Betroffenen werden häufig nicht als solche erkannt.«

VISNJA LAUER

Ursachen

Was sind die Ursachen von AD(H)S? Eine spannende Frage. Der in der Vergangenheit oft hitzig diskutierte Gegensatz von Vererbung und Umwelteinflüssen ist durch die neuere Forschung aufgelöst worden und das Zusammenwirken beider Ursachen wird immer besser verstanden.

Die Entstehung der Kernsymptome wird durch vielfältige Faktoren beeinflusst. Der Einfluss der Gene bei der Entwicklung von AD(H)S wird mit deutlich über 50 % angegeben; in Veröffentlichungen ist überwiegend von 60 – 80 % die Rede. Daneben können vor, bei und nach der Geburt erworbene Schädigungen des zentralen Nervensystems Symptome auslösen; sie sind aber insgesamt eher von geringerer Bedeutung. Solche Schädigungen entstehen beispielsweise durch Nikotin- und Alkoholkonsum während der Schwangerschaft, durch Frühgeburtlichkeit mit niedrigem Geburtsgewicht, insbesondere wenn gleichzeitig Hirnblutungen aufgetreten sind, Sauerstoffmangel im Gehirn oder Infektionen.

Genetische Ursachen

Auf die besondere Bedeutung genetischer Einflüsse wurde zunächst aus Familienstudien geschlossen. Dort zeigte sich eine mit dem Verwandtschaftsgrad zunehmende Erkrankungswahrscheinlichkeit. Bei erstgradig Verwandten von Kindern mit AD(H)S ist das Risiko für die Entwicklung von AD(H)S zwei- bis achtfach erhöht. Kinder betroffener Erwachsener sind sogar in 40 – 60 % der Fälle selbst betroffen. Adoptionsstudien zeigen eine deutlich höhere Übereinstimmung der Ausprägung von AD(H)S bei getrennt lebenden biologischen Geschwistern als bei zusammen aufwachsenden Halbgeschwistern, sodass die familiäre Häufung nicht durch Erziehungsfaktoren, sondern nur durch genetische Faktoren zu erklären ist.

Aktuell werden ca. 18 Genveränderungen mit AD(H)S in Verbindung gebracht. Diese betreffen vor allem Gene, die sich auf die Verfügbarkeit und Funktion bestimmter Hirnbotenstoffe auswirken. Das sind chemische Substanzen, die für die Weitergabe von Informationen zwischen den Hirnnervenzellen zuständig sind. Die bei AD(H)S auf mehreren Genen und an verschiedenen Genorten gefundenen Veränderungen wirken sich in bevorzugter Weise auf den Botenstoff Dopamin aus und gehen einher mit Funktionsstörungen von Regelkreisen in bestimmten Hirnregionen.

Die bei AD(H)S auf mehreren Genen und an verschiedenen Genorten gefundenen Veränderungen wirken sich in bevorzugter Weise auf den Botenstoff Dopamin aus.

Jede einzelne Genveränderung für sich genommen hat nur geringfügige Effekte auf die Entwicklung von AD(H)S. Je mehr verschiedene Genorte aber bei einer einzelnen Person verändert sind, desto wahrscheinlicher wird die Entwicklung von AD(H)S. Treten zusätzlich die oben erwähnten Schädigungen vor, bei und nach der Geburt ein, erhöht sich diese Wahrscheinlichkeit. Je mehr Faktoren also im Einzelfall zusammenkommen, desto wahrscheinlicher wird es, dass die dadurch ausgelösten Veränderungen bestimmter hirnbiologischer Abläufe zusammengenommen ein solches Ausmaß annehmen, dass daraus Krankheitssymptome entstehen. Zusammengefasst legen die bisherigen Untersuchungen nahe, dass AD(H)S einen komplexen Erbgang aufweist und durch das Zusammenwirken verschiedener Genveränderungen untereinander und mit Umweltrisiken bedingt ist.

Umwelteinflüsse

Günstige psychosoziale Faktoren können das Auftreten von Symptomen oder eine Verschlechterung verhindern.

Auch das Umfeld, in dem ein Kind aufwächst, hat Einfluss auf die Entwicklung von AD(H)S. Während ungünstige psychosoziale Faktoren – wie emotionale und körperliche Vernachlässigung in der frühen Kindheit – das Auftreten der Störung wahrscheinlicher machen, können günstige psychosoziale Faktoren – wie eine intakte, unterstützende und psychisch gesunde Familie – das Auftreten von Symptomen oder eine Verschlechterung verhindern. Bildlich gesprochen vermag eine förderliche Umgebung das Überlaufen des vollen Fasses zu verhindern, während hinderliche es sogar noch füllen und mehr oder weniger schnell überlaufen lassen.

Die Forschung erweitert fortlaufend unsere Kenntnisse über die Einflüsse von Umwelt und sozialer Interaktion auf das menschliche Gehirn. Eigentlich war ja immer schon klar, dass Umgebungseinflüsse sich irgendwie auf Menschen auswirken. Heute können wir solche Auswirkungen teilweise sogar sichtbar machen und konkrete organische (materielle) und funktionelle Veränderungen des Gehirns benennen. Halten wir das noch einmal nachdrücklich fest: Umwelterfahrungen beeinflussen die Struktur und die Funktionsweise unseres Gehirns, und das auch im Hinblick auf AD(H)S und die Schwere der AD(H)S-Symptomatik.