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Als sie das Geld später in den Händen hielten, beschlossen die Freunde, den Abend nach den Rennen im »Schachtl«-Biergarten in der Pfarrkirchner Innenstadt bei einer deftigen Brotzeit ausklingen zu lassen.

Doch vorher, kurz vor dem letzten Rennen, fand die mit Spannung erwartete Auslosung des Möbelhaus-Gewinnspiels statt. Besonders Rudi Kellners Puls schnellte in die Höhe, als der Bahnsprecher die zehn Gewinner vorlas. Sein Name war jedoch unter den ersten acht Gewinnern nicht dabei, und damit sank seine Hoffnung auf einen der ausgelobten Einkaufsgutscheine. Aber die empfohlene Knick-Technik von Hans Baumgartner führte doch noch zum Erfolg. Der vorletzte Gewinner war Rudi Kellner, der sich seinen Preis gleich abholte.

»Den Gutschein werde ich meiner Freundin schenken, damit ich nächstes Jahr wieder auf die Rennbahn gehen darf.« Rudi grinste über beide Ohren.

»Hat die Knick-Technik also wieder einmal funktioniert.« Hans Baumgartner stand hinter den sechs Männern. Sie hatten ihn im Trubel der vielen Zuschauer und der Freude über den Gewinn gar nicht wahrgenommen.

»Ja, und der Pangraz war auch erfolgreich«, ergänzte Thomas Huber.

»Danke für die Tipps.« Helmut Drexler schüttelte Baumgartner anerkennend die Hand.

»Die Tipps sind gratis und kommen von Herzen«, wiegelte dieser ab.

»Trotzdem würden wir dich nachher gerne zum ›Schachtl‹ einladen, Hans«, schlug Huber vor.

»Das ist nett von euch, Männer, aber ich hab heut schon was vor. Schade, aber vielleicht klappt’s ein andermal.«

Zwei spannende und erfolgreiche Tage lagen hinter ihnen. Das Pfarrkirchner Pfingstmeeting war jedes Jahr ein Genuss. Die sechs Freunde beendeten das diesjährige Rennen im herrlichen Biergarten des »Schachtl«-Wirts bei Wurstsalat, Knusperschnitzel und Schweinsbraten, wohlwissend, dass sie morgen der Alltag wieder einholen würde.

Fünf

Mittwoch

Normalerweise fiel dem Kommissar Thomas Huber der morgendliche Fußweg von seinem Haus im Ortsteil Galgenberg zu seiner Dienststelle leicht, denn er liebte seine Arbeit. Das eher kleinkriminelle Milieu Pfarrkirchens und der Umgebung stellte keine allzu schwierigen Aufgaben an seine analytischen und kombinatorischen Fähigkeiten, außerdem kannte er die gesamte Region wie seine Westentasche. Als langjähriger Mittelfeldstratege des örtlichen Fußballclubs, des TUS Pfarrkirchen, hatte er auf den Plätzen aller umliegenden Gemeinden gespielt.

An diesem Mittwoch aber war sein Gang schwerer. Er und seine Kumpels hatten gestern Abend das aufregende Wochenende und die Wettgewinne ausgelassen gefeiert und erst lange nach Mitternacht den Gasthof »Schachtl« verlassen. Er war müde, gleichzeitig noch voller Eindrücke der zurückliegenden Tage. Doch es half nichts, er musste in den gewöhnlichen Polizeialltag zurückfinden.

Erschwerend kam hinzu, dass ihm ab heute Mandy Hanke, die vor einem halben Jahr aus dem thüringischen Gera nach Pfarrkirchen gewechselt war, als Teamkollegin zur Seite gestellt wurde. Nicht, dass er Probleme mit Teamarbeit hätte, aber Mandy war ein besonderer Fall. Jedes Mal, wenn ihre Zusammenarbeit bisher erforderlich gewesen war, hatte dies mit Ärger geendet, über sie, über ihn selbst, über ihre verbohrte Hartnäckigkeit, die sie an den Tag legte und die ihn um seine niederbayerische Gelassenheit brachte. Schon bald nach ihrer Ankunft hatte er den Kontakt mit ihr vermieden, wo es ging, und die Hilfe anderer Kollegen vorgezogen. Und nun sollte sie seine dauerhafte Begleitung bei Ermittlungsfällen und Nachforschungen sein.

Woher nahm Polizeichef Kiermeier eigentlich das Recht, ihm die Polizeiarbeit derart zu vermiesen? Er hatte sich bisher nichts zuschulden kommen lassen, war stets pünktlich, meistens jedenfalls, war Teamplayer und konnte auch mit Kritik gut umgehen, meistens jedenfalls. Hatte Josef Kiermeier nicht bemerkt, wie schwer er sich mit seiner jungen Kollegin tat? Oder war eben dies der Grund für die Entscheidung seines Chefs? Insgeheim hatte er gehofft, dass Kiermeier ihn zum leitenden Kripoermittler machen und die Neue aus Thüringen seine Mitarbeiterin werden würde. Thomas war also maßlos enttäuscht gewesen, als ihm sein Chef mitgeteilt hatte, dass sie beide gleichberechtigte Ermittler unter ihm werden würden. Ausgerechnet eine Frau, und noch dazu eine aus dem »ostdeutschen Entwicklungsland Thüringen« mit wenig Berufserfahrung. Der Stachel saß tief bei Thomas Huber.

Mit solchen Gedanken schritt er durch den Eingang zu seinem Büro. Hätte er in diesem Moment gewusst, was in diesen Tagen noch alles auf ihn zukommen sollte, wäre ihm die Angelegenheit mit Mandy wohl vollkommen belanglos erschienen.

Mit einem »wunderschönen guten Morgen« betrat er das Büro und wollte damit vor allem sich selbst aufmuntern. »Wie steht’s, was gibt’s?«

»Vier nach acht! Bei Pünktlichkeit wüsste man auch ohne Nachfragen, was los ist.« Natürlich wies Mandy auf die minimale Verspätung hin. Die hübsche Thüringerin mit dem brünetten Pferdeschwanz war mit ihren 30 Lenzen fünf Jahre jünger als ihr neuer Teamkollege, hatte sich aber im Polizeidienst in Gera schon einige Meriten erworben. Auch sportlich stand sie dem begeisterten Fußballspieler in nichts nach. Ihre Neigung galt jedoch dem Triathlon und dabei insbesondere dem Radfahren.

»Forscher haben herausg’funden, dass Menschen, die am Montagmorgen zu spät in die Arbeit kommen, mehr vom Wochenende haben.« Damit wollte Thomas der vorlauten Polizistin den Wind aus den Segeln nehmen.

»Hast du denn nach dem langen Wochenende immer noch nicht genug?«, konterte Mandy.

»Wir reden hier von dem Wochenende Pfarrkirchens schlechthin, aber das ist anscheinend noch nicht bis Thüringen durch’drungen.«

»Du meinst, wenn hier ein paar Pferde im Kreis laufen, soll die Welt in Habachtstellung verfallen?«

»Wer keine Ahnung hat, sollte sich mit Kommentaren zurückhalten.« Etwas Besseres fiel Thomas nicht ein, und er hatte das Gefühl, dass seine Kollegin den nächsten verbalen Sieg errungen hatte.

»Komm schon, erzähl, wie war es auf der Trabrennbahn?« Mit dieser Aufforderung wollte Mandy einlenken und die drohende Verstimmung ihres Kollegen abwenden.

»Spannend«, erwiderte Thomas lakonisch, ließ sich dann jedoch auf das Friedensangebot Mandys ein. »Wenn das Wetter mitspielt, wie an den vergangenen beiden Tagen, gibt es einfach nichts Schöneres, als mit ganz Pfarrkirchen an der Rennbahnbande zu stehen und auf Pferde zu wetten. Das ist ein Volks- und ein Sportfest zugleich.«

»Den Sport treiben hier ja eher die Pferde«, warf Mandy ein.

Thomas war klar, dass die begeisterte Triathletin sprach. »Man kann das Wochenende auch damit verbringen, allein durch die Wälder zu laufen. Aber mit einem Trupp Freunde auf ein Pferd zu setzen und es dann im Schlussspurt gewinnen zu sehen, das ist einfach unschlagbar.«

»Mag schon sein.« Die Polizistin wurde kleinlauter. Thomas hatte einen wunden Punkt getroffen. Nach einem halben Jahr an der niederbayerischen Dienststelle hatte sie noch kein neues privates Umfeld gefunden und kompensierte dies mit langen Telefonaten nach Gera. »Wie soll man als Laie auf ein einzelnes Pferd wetten? Für mich sehen die alle gleich aus.«

»Ein gewisses Maß an Vorwissen ist von Vorteil«, gab Thomas zu, »aber du kannst durchaus jemanden um Rat fragen. Mach ich doch auch. Unser Ex-Kollege Hans Baumgartner, du hast ihn noch kurz kenneng’lernt, ist ein Pferde-Guru. Der ist immer gut für einen ausgezeichneten Wetttipp.«

»Höre ich da Baumgartner?«, ließ sich eine Stimme an der Bürotür vernehmen. Der Polizeichef Josef Kiermeier hatte den morgendlichen Disput gehört und trat hinzu, um mögliche hochschlagende Wellen zu glätten. »Hat Ihnen der Hans wieder die entscheidenden Tipps gegeben, Herr Huber? Ich hoffe, Sie haben ihn entsprechend an Ihrem Gewinn beteiligt.«

»›Die Tipps sind gratis und kommen von Herzen‹, das ist doch der ewige Baumgartner-Spruch, wenn man sich bei ihm bedanken will«, verteidigte sich Thomas.

»Na, Frau Hanke, und was haben Sie an diesem herrlichen Pfingstwochenende Aufregendes unternommen, was den Vorzug vor unseren Pferden erhalten hat?«

»Ich bin mit dem Rad die Rott entlanggefahren. Wie Sie sagen, das Wetter war herrlich. Und so eine Tour macht auch alleine Spaß.«

»Gott sei Dank haben Sie den Weg auch wieder zurückgefunden und begleiten uns in dieser kurzen Arbeitswoche.« Damit war das Wochenendthema dienstgradmäßig beendet und die Bürotätigkeit eingeläutet.

Der Chef wandte sich zum Gehen, und auch Mandy steuerte in Richtung ihres Schreibtisches. Thomas setzte sich in seinen Bürosessel und warf der Kollegin einen skeptischen Blick hinterher. Die Woche lief genau so an, wie er es befürchtet hatte. Mit dieser ostdeutschen Zicke sollte er nun die meiste Zeit seiner Ermittlerarbeit verbringen und noch dazu im selben Büro. Ihm reichte es schon, dass sein Schreibtisch dem ihren gegenüber stand und somit ständig Blickkontakt herrschte, sofern man sich nicht hinter seinem Bildschirm versteckte.

»Ganz langsam in die Gänge kommen«, murmelte Thomas vor sich hin und rief am Computer ein Protokoll der vergangenen Woche auf, welches er nun gemächlich zu Ende führen wollte. Dabei konnte er wunderbar seinen Gedanken und inneren Bildern an die zurückliegenden Tage nachhängen, ganz so, wie wenn man mittels Fotos einen Urlaub wieder aufleben lässt.

Doch daraus wurde nichts.

Hilde Bernauer, die Sekretärin, kam in das Büro gestürmt und vermeldete atemlos und mit stockender Stimme einen Todesfall mit Hinweisen auf eine Gewalttat. Hilde war nicht gerade für ihre Schnelligkeit bekannt, und aus der Ruhe ließ sie sich normalerweise schon gar nicht bringen. Dass nun die Zeichen derart auf Sturm standen, war außergewöhnlich für das Pfarrkirchner Kommissariat, in dem ein Tötungsdelikt – sollte es sich tatsächlich als ein solches herausstellen – höchst selten vorkam.

 

Von Hildes Alarmstimmung angesteckt, sprang Thomas von seinem Stuhl auf und stellte sich vor die Sekretärin, die im Begriff war, zum Büro des Polizeichefs Kiermeier zu eilen. Auch Mandy erhob sich.

»Was ist wo passiert?«, bedrängte Thomas Hilde Bernauer und versuchte die Schrift auf dem kleinen Zettel zu entziffern, den diese in der Hand hielt.

»Ein Toter, männlich, drüben bei der Rennbahn im Traberstüberl … Er soll blutüberströmt sein. Karl und Stefan sind schon unterwegs«, brachte Hilde hervor. Sie wollte Thomas umrunden, um zum Büro des Chefs zu gelangen.

Mit dem Stichwort »Rennbahn« fühlte sich Thomas persönlich angesprochen. Wie aus Reflex entwand er Hilde den Zettel mit ihren Notizen des Telefonats, das sie zweifelsohne soeben mit einem Zeugen vor Ort geführt hatte, und machte sich selbst auf den Weg zu Kiermeier. Bevor Mandy oder die verdutzte Sekretärin nachkommen konnten, schlug er die Tür hinter sich zu.

Das Zimmer Kiermeiers befand sich am Gang schräg gegenüber. Ohne anzuklopfen, trat Thomas in den Raum und ertappte seinen Chef tief unter den Schreibtisch gebeugt, als wolle er sich die Schnürsenkel binden.

Durch das heftige Eintreten ohne Vorwarnung schrak Kiermeier auf, und bei seinem Versuch, eine aufrechte Position einzunehmen, stieß er sich den Kopf an der Schreibtischkante.

»Was soll denn das? Mensch, Huber, haben Sie denn keine Manieren!«, bellte er seinen Untergebenen an und rieb sich den Hinterkopf, dort, wo seine dezimierten Haare es noch schafften, einen kleinen Wirbel auszubilden.

Thomas konnte sich nicht vorstellen, was sein Chef dort unten gesucht hatte, er wollte es auch gar nicht wissen.

»Chef, wir haben einen Toten. Eine Leiche ist bei der Rennbahn g’funden worden. Ich muss sofort dahin!« Thomas machte Anstalten, wieder zur Tür hinauszueilen.

»Moment!«, kam ihm Kiermeier zuvor. »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Wer ist getötet worden und wie? Wer hat uns informiert? Ist ein Rechtsmediziner einbezogen worden und wer ist sonst noch am Tatort?«

Thomas schielte auf den Zettel, den er zuvor Hilde aus der Hand genommen hatte, und suchte nach Antworten auf die Fragen seines Chefs. Leider konnte er zu keiner einzigen dazu etwas auf dem Papier entziffern. »Mehr wissen wir nicht. Deshalb möcht ich so schnell wie möglich hinüber zur Rennbahn.«

»Zunächst einmal sprechen Sie sich mit Hilde ab, damit ein Rechtsmediziner herbeigerufen wird. Des Weiteren informieren Sie die Spurensicherung, schließlich wollen wir nicht, dass im Falle eines Falles viel Zeit verstreicht und wertvolle Hinweise verloren gehen, weil sich halb Pfarrkirchen am Tatort herumtreibt. Und – Herrgott noch mal – Huber, haben Sie es immer noch nicht begriffen? Sie bilden ein Team mit Frau Hanke! Habe ich mich letzte Woche nicht verständlich genug ausgedrückt? Sie fahren zu zweit!«

»In Ordnung, Chef«, mehr traute sich Thomas nicht zu erwidern.

Der 56-jährige Polizeioberrat war eigentlich die Gelassenheit in Person. Befand er sich aber in einem erhöhten Aggregatszustand wie soeben, und das war bestimmt nicht auf den leichten Schlag auf den Hinterkopf zurückzuführen, so war eine Gegenrede tunlichst zu vermeiden.

Thomas eilte zurück zur Sekretärin, veranlasste das Herbeiholen eines Rechtsmediziners und besprach sich mit der Spurensicherung. Die Leute der SpuSi sollten sich bereithalten und kommen, sobald die Situation am vermeintlichen Tatort geklärt sei. Schließlich war noch nicht ersichtlich, ob es sich tatsächlich um eine Gewalttat handelte. Dann kehrte er in das gemeinsame Büro zurück. Mandy saß an ihrem Schreibtisch und sah mit fragendem Blick zu Thomas auf. Auch ihr war von Kiermeier erklärt worden, dass sie ab sofort ein Team mit Thomas bilden würde, insofern hatte sie es als selbstverständlich angesehen, bei der Tatortbesichtigung dabei zu sein. Der offensichtlich beabsichtigte Alleingang des niederbayerischen Polizisten zu Kiermeier und der SpuSi hatte sie ratlos und verärgert zurückgelassen. Nun wusste sie nicht genau, wie sie reagieren sollte, meinte aber, es sei die Aufgabe ihres voreiligen und eigenbrötlerischen Kollegen, die Angelegenheit wieder ins Lot zu bringen. Genauer gesagt: Sie wartete auf eine, wenn auch noch so kleine, Geste der Entschuldigung.

»Worauf wartest du? Wir haben zu tun«, entfuhr es Thomas, der keine Lust hatte, gegenüber seiner neuen Partnerin Schwäche oder gar Schuldgefühle zu zeigen.

»Auf Ihre freundliche Einladung, Herr Kollege«, erwiderte Mandy und zwängte sich an Thomas vorbei hinaus auf den Flur des Präsidiums.

Vermutlich will sie nun auch noch den Dienstwagen fahren, dachte Thomas voller Ingrimm, als er Mandy zum Portal hinaus folgte. Entgegen seiner Befürchtung steuerte Mandy jedoch die Beifahrertür an.

Mit eingeschaltetem Martinshorn fuhren sie die Arnstorfer Straße hinunter und bogen dann rechts in die Kolpingstraße ein. Der Weg führte an der Rennbahnstraße über die Bahngleise und nach wenigen Metern hatten sie das weiträumige Areal der Pfarrkirchner Rennbahn erreicht. In der Tat war es nur ein Katzensprung vom Präsidium zum Ort des Geschehens.

Thomas kannte die örtlichen Gegebenheiten und musste nicht lange überlegen, welcher Weg ihn zum sogenannten Traberstüberl brachte. Nach der Einfahrt auf das Gelände kamen sie an flachen Stallungen vorbei, deren Holzkonstruktion mit schwarzer Beize wetterfest gemacht worden war. Der Zahn der Zeit hatte an den Wänden, Türen und Luken heftig genagt, aber die meisten dieser Kompartimente waren noch in Gebrauch. Nach einigen Metern bog Thomas rechts ab in eine innenhofartige Anlage mit mehreren abgetrennten Koppeln und einem Trainingskarussell für die sportlichen Vierbeiner. Gegen Norden hin reihten sich offene Pferdeboxen an einem Kiesweg entlang. Sie dienten während der Renntage zu Pfingsten den auswärtigen Trabern als Unterstand.

Als Thomas und Mandy am Ende dieser Ställe ein weiteres kleines Gebäude erreichten, stand dort zur Überraschung beider bereits ein Polizeiauto mit Pfarrkirchner Kennzeichen. Das Gebäude aus Holz beherbergte ebenfalls Pferdeboxen, welche durch einen Zugang auf der Hofseite betreten werden konnten. Polizeihauptmeister Karl Auer war gerade dabei, das weitere Umfeld des Traberstüberls an der südwestlichen Ecke der Stallungen mit einem rot-weißen Signalband abzusichern. Neben dem Streifenwagen hatten sich mehrere Personen versammelt.

Auf dem Rücksitz des Polizeiautos saß eine junge Frau um die 30 Jahre, die sichtlich vom Geschehen gezeichnet war. Sie hatte die Ellbogen auf den Knien abgestützt und den Kopf in die gespreizten Hände versenkt. Falls ihre langen hellblonden Haare am frühen Morgen noch in eine modische Form gebracht worden waren, so fielen sie nun wirr vor das Gesicht. Ein Kollege Karl Auers, der junge Polizeiobermeister Stefan Wegerer, versuchte psychologischen Beistand zu leisten, das war deutlich zu erkennen.

Ein kleines Grüppchen von drei weiblichen Personen jüngeren Alters hatte sich in gebührendem Abstand zum Polizeiauto positioniert. Die hohen schwarzen Reitstiefel wiesen darauf hin, dass sie keine zufälligen Beobachter der Ereignisse waren.

Thomas stellte das Martinshorn ab und parkte hinter dem Streifenwagen. Er und Mandy stiegen aus und eilten zu Auer.

»Morgen, Karl«, grüßte Thomas den Streifenpolizisten. »Wer ist der Tote?«

»Der Staudinger Sepp«, entgegnete der Polizeihauptmeister.

»Was? Der Staudinger Sepp? Der ist gestern noch im Zuchtrennen g’fahren!«

»Und disqualifiziert worden«, ergänzte Auer.

»Warst du gestern auch auf der Rennbahn?«, fragte Huber nach, der seinen Kollegen dort nicht gesehen hatte.

»Logisch, und vorgestern auch.«

Jetzt mischte sich Mandy Hanke in die Diskussion ein, die wie ein Schatten hinter ihrem Kollegen stand und den Kopf schüttelte. »Scheinbar sind an Pfingsten in Pfarrkirchen tatsächlich alle auf der Rennbahn.«

»Sag ich doch.«

»Die Leiche liegt im Traberstüberl, oder?«, fragte Thomas Huber seinen Kollegen.

»Ja, ich zeig es euch. Gehts mit!«

»Ich hoff, ihr habt nichts verändert.«

»Wir haben nichts verändert. Aber was der Notarzt g’macht hat, weiß ich ned.«

»Was hat der Notarzt g’sagt?«

»Dass er tot ist, hat er g’sagt. Und dann ist er gleich weiterg’fahren, weil er wieder angefunkt worden ist.«

Die drei Polizisten gingen den Stall entlang, an dessen Rückseite sich der Eingang zum Traberstüberl befand. Thomas war mit etwas weichen Knien unterwegs, denn der Anblick einer Leiche schlug ihm immer auf den Magen, noch dazu, wenn er den Toten, in diesem Fall allerdings nicht persönlich, gekannt hatte. Zu seinen Münchner Zeiten war er öfters auf Leichen gestoßen, aber in Pfarrkirchen kam das, Gott sei Dank, nicht allzu häufig vor.

Karl Auer sperrte die Tür auf. Sepp Staudinger lag blutüberströmt auf dem Rücken am Boden. Seine Augen standen offen und starrten an die Decke. Der hölzerne Tisch und drei der vier Stühle waren umgekippt. Zwei Brote mit Marmelade lagen am Boden sowie ein zerbrochener Teller und eine Thermoskanne, aus der Kaffee ausgelaufen war. Eine Tatwaffe war weit und breit nicht zu sehen.

»Das schaut nach Messerstichen aus, und vorher hat wohl ein Kampf stattgefunden«, vermutete Thomas Huber.

»Das sehe ich genauso«, stimmte ihm seine Kollegin bei. Mandy Hanke beugte sich über die Leiche und betrachtete den leblosen Körper, als sie hinter sich eine fremde Stimme hörte.

»Das ist meine Aufgabe. Gestatten, Doktor Tremmel, Rechtsmedizin Passau.«

»Kommissar Huber, das ist meine Kollegin Hanke und der Kollege Auer«, stellte Thomas Huber sich und die Seinen vor.

»Sind Sie von Passau hergeflogen?«, fragte Karl Auer nach, der sich wunderte, dass der Rechtsmediziner aus der Drei-Flüsse-Stadt schon da war.

»Nein, ich bin aus Bad Griesbach, meinem Wohnort, hergefahren. Ich hätte heut meinen freien Tag. Aber Sie wissen ja …«, antwortete der Arzt im weißen Overall.

»Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt«, ergänzte Huber.

»Wo ist die Spurensicherung?« Der Mediziner wunderte sich, dass die SpuSi ihre Arbeit noch nicht aufgenommen hatte.

»Die rufen wir gleich an«, gab Thomas zurück.

»Was, jetzt erst?«, empörte sich der Arzt.

»Wir wussten vor wenigen Minuten noch nicht, ob es sich um ein Gewaltverbrechen handelt«, rechtfertigte sich Huber.

»Ihr seid ja lustig. Mir scheint, ihr habt in Pfarrkirchen schon länger nichts mehr zu tun gehabt.«

Huber stand da wie ein begossener Pudel. Erschwerend kam hinzu, dass seine Kollegin diese Demütigung live mitbekam. Er hatte die Situation falsch eingeschätzt. Die Spurensicherung hätte er vorsorglich sofort anfordern müssen. Ein solcher Fehler sollte ihm so schnell nicht mehr passieren.

»Jetzt würde ich gerne meine Arbeit machen. Vielleicht kann ich Ihnen nachher schon ein paar Fakten nennen«, sagte Doktor Tremmel, der mit diesen Worten die drei Polizisten nach draußen komplimentierte.

Beim Rausgehen rief Huber die Kollegen der Spurensicherung an und forderte das volle Programm.

»Wer hat den Toten gefunden?«, fragte Mandy Hanke ihren Kollegen Auer, während Thomas Huber mit der Spurensicherung telefonierte.

»Seine Mitarbeiterin Kerstin Schmid. Der Stefan kümmert sich um sie. Die ist ziemlich fertig«, antwortete Karl Auer.

Die letzten Worte hatte Thomas mitbekommen, nachdem er das Telefonat beendet hatte. »Die Mandy und ich gehen zu ihr und befragen sie. Du bleibst da und kümmerst dich um die SpuSi-Kollegen. Die müssten gleich kommen«, ordnete er an.

Kerstin Schmid saß immer noch kreidebleich im Polizeiauto. Polizeiobermeister Stefan Wegerer stieg aus dem Streifenwagen aus, als er seine beiden Kollegen kommen sah.

»Können wir mit ihr sprechen, Stefan?«, fragte Huber.

»Ja, ich denk schon«, mutmaßte Wegerer.

Die Pferdepflegerin Kerstin Schmid hatte das kurze Gespräch mitbekommen und stieg nun ebenfalls aus dem Auto.

Huber und Hanke zückten ihren Polizeiausweis und stellten sich vor. »Sind Sie in der Lage, uns einige Fragen zu beantworten?«, wollte Huber wissen.

»Wie kann so was passieren? Wer macht so was?«, stieß Kerstin hervor, und dabei begann ihr Körper zu zittern. »Das gibt doch koan Sinn!«

Mandy ging einen Schritt auf die verstörte Frau zu und legte ihr den Arm um die Schulter. Kerstin nahm diese Geste des Mitfühlens dankend an.

 

»Können wir irgendwo hingehen, wo wir uns ungestört unterhalten können?«, fragte der Kriminalkommissar.

»Außer im Traberstüberl gibt’s bei uns keine Sitzgelegenheiten«, antwortete Kerstin Schmid.

»Dann unterhalten wir uns im Auto«, schlug Mandy vor.

»Stefan, du kannst die Kollegen von der SpuSi unterstützen«, ordnete Thomas an. Die Experten in ihren weißen Overalls waren soeben eingetroffen.

»Alles klar, Thomas, mach ich«, sagte der Polizeiobermeister und ging in Richtung Stall.

»Wann haben Sie den Toten g’funden?«, fragte Thomas, der sich neben die Zeugin auf den Rücksitz des BMW Touring gesetzt hatte. Mandy saß auf dem Beifahrersitz und drehte sich zu den beiden um.

»Genau um 8 Uhr. Meine erste Schicht beginnt immer um die Zeit.«

»Was heißt ›erste Schicht‹?«, hakte Mandy nach.

»Ich arbeite von 8 bis 12 Uhr und von 17 bis 19 Uhr. Da bringe ich die Pferde in den Stall und füttere sie.«

»Dann müssen Sie ja zweimal täglich zur Arbeit fahren«, wunderte sich Mandy.

»Das macht mir nichts. Ich wohne nicht weit weg von hier in Mooshof, genauer gesagt, in der Konrad-Wirnhier-Straße. Ich fahr immer mit dem Fahrrad zum Stall.«

»Ich hab den Eindruck, dass Sie der Tod Staudingers ziemlich mitnimmt«, mutmaßte Thomas.

»Wie würden Sie reagieren, wenn Sie Ihren Chef gerade tot aufg’funden hätten? Ich war seine einzige Mitarbeiterin«, schluchzte die Pferdepflegerin.

»Wie lange arbeiten Sie schon bei Sepp Staudinger?« Mandy Hankes Tonfall wurde weicher. Sie spürte, dass die Zeugin kurz vor dem nächsten Weinkrampf stand.

»Seit drei Jahren bin ich jetzt bei ihm. Vorher hab ich als Tierarzthelferin in Schönau g’arbeitet.«

»Was war er für ein Chef?«, wollte Thomas wissen.

»Der Sepp war ein sehr guter Chef, ein echter Pferdefachmann, von dem ich viel g’lernt hab. Man könnt auch sagen, der Sepp war ein Rossnarrischer«, antwortete Kerstin, die sich wieder etwas gefangen hatte.

»Um wie viel Uhr hat der Staudinger seine Arbeit im Stall begonnen?« Mandy musste sich kurz nach vorne drehen, sie bekam mittlerweile ein steifes Genick.

»Der Sepp war ein Frühaufsteher. Der ist jeden Tag, Sommer wie Winter, um halb sechs in den Stall ’kommen, um die Pferde zu füttern«, erklärte die junge Frau.

Bevor Thomas seine nächste Frage stellen konnte, kam ihm seine Kollegin zuvor. »Wann hat er denn dann gefrühstückt?«

Thomas schaute Mandy irritiert an, da sich ihm der Sinn dieser Frage nicht sogleich erschloss.

»Während die Pferde g’fressen haben, so zwischen 6 und 6.30 Uhr im Traberstüberl.«

»Dann können wir auch den Tatzeitpunkt auf diese Zeitspanne eingrenzen«, schlussfolgerte die Polizeikommissarin.

»Wie kommst du darauf?«, fragte Thomas verwundert nach.

»Hast du die Marmeladenbrote am Boden nicht gesehen?«

»Ja, ja, das wird bestimmt im Bericht der Spurensicherung stehen«, mutmaßte Thomas, der die Brote am Boden tatsächlich übersehen hatte.

»Gut, dass die Spurensicherung schon da ist.« Diese Bemerkung konnte sich die hübsche Kommissarin ihrem Kollegen gegenüber, der sich gerne als Chef fühlte, nicht verkneifen.

Das war heute nicht sein Tag. Thomas fiel keine passende Antwort ein. Daher wechselte er das Thema. »Hat Sepp Staudinger Familie?«

»Der Sepp ist verheiratet. Seine Frau, die Monika, hat eine Boutique in der Bahnhofstraße. Kinder haben s’ keine«, gab Kerstin an.

»Das Geschäft kenne sogar ich«, freute sich Mandy, die sich im Gegensatz zu ihrem Kollegen in Pfarrkirchen und Umgebung so gut wie nicht auskannte.

Thomas öffnete das Autofenster, als er sah, dass Karl Auer auf sie zukam.

»Du, Thomas, der Doktor Tremmel will mit euch sprechen.«

»Ja, wir kommen gleich«, gab Thomas ihm zu verstehen und wandte sich wieder der Zeugin zu. »Ich denke, fürs Erste war’s das, Frau Schmid. Bitte halten Sie sich weiter zu unserer Verfügung und geben Sie Herrn Wegerer Ihre genaue Adresse und Telefonnummer an.«

Im Traberstüberl packte Doktor Tremmel gerade seine Sachen in den Koffer, als Thomas und Mandy eintraten. »Und, Herr Doktor, können Sie uns schon was sagen?« Jetzt sah auch Thomas die Marmeladenbrote und die Thermoskanne, die am Boden lagen. Die Kollegen der Spurensicherung in ihren weißen Overalls waren fleißig dabei, zu fotografieren und zu pinseln, um eventuelle Fingerabdrücke sichtbar zu machen.

»Er ist noch nicht lange tot. Vielleicht drei bis vier Stunden«, äußerte sich der Rechtsmediziner.

Mandy unterbrach ihn. »Dann können wir von einem Todeszeitpunkt zwischen 6 und 6.30 Uhr ausgehen?«

»Ja, das könnte in etwa hinkommen«, bestätigte der Arzt.

Mandy lächelte Thomas kurz an, als ob sie sagen wollte: Ich hab’s gewusst.

Thomas ignorierte Mandy und fragte: »Wie ist er umgekommen?«

Doktor Tremmel beugte sich über die Leiche und deutete auf den Einstich in Brusthöhe. »Der Mörder stach mit einem ungefähr zwei Zentimeter breiten scharfen Messer in die Brust. Vermutlich traf er damit das Herz. Der Tod könnte durch eine Herzbeuteltamponade eingetreten sein. Aber das sind nur Vermutungen. Genaueres kann ich Ihnen erst nach der Obduktion sagen, ich ruf Sie morgen an.«

»Wurde die Tatwaffe g’funden?« Thomas wandte sich an einen Kollegen der Spurensicherung.

»Nein, bisher noch nicht«, entgegnete der Beamte.

»Bitte fragts die Pflegerin, ob im Traberstüberl was fehlt«, bat Thomas.

Anschließend verabschiedete sich Doktor Tremmel mit einer weiteren Spitze an die Kripobeamten: »Viel Glück beim Ermitteln, ihr werdet es brauchen.«

Diese Bemerkung überhörte Thomas Huber geflissentlich und ging gar nicht erst darauf ein. »Habt ihr schon was Brauchbares?«, fragte er seinen Kollegen von der SpuSi ungeduldig.

»Bis jetzt nicht, aber wir sind noch lang ned fertig«, entgegnete dieser.

»Dann fahren wir zur Ehefrau in die Boutique«, beschloss Thomas mit einer bestimmenden Geste hin zu seiner Kollegin.

Auf der Fahrt vom Rennbahngelände zur Bahnhofstraße herrschte Eiseskälte zwischen den beiden Kommissaren im Auto. Weder Thomas noch Mandy sagten irgendetwas. Thomas war wegen der Vorführungen durch den Rechtsmediziner und durch seine Kollegin ziemlich bedient. Mandy wusste genau, dass ihr eitler Kollege explodieren würde, wenn sie jetzt den Mund aufmachte, so gut kannte sie ihn schon. Deshalb verzichtete sie darauf.

Thomas stellte den Dienstwagen direkt vor der Boutique in der Bahnhofstraße ab. Er kannte das Geschäft, hatte aber nicht gewusst, dass die Frau des hiesigen Trabertrainers die Inhaberin war. Mandy ging es ähnlich. Ihre Zweizimmerwohnung in der Pflegstraße war nur einen Katzensprung entfernt, aber eingekauft hatte sie dort noch nicht.

Als sie die Eingangstür der Modeboutique öffneten, stieg ihnen der typische Geruch eines Textilgeschäftes in die Nase. In dem sehr übersichtlichen, modern gestalteten Laden waren an den Wänden Regale angebracht, in denen Pullis, Blusen und Hosen auslagen. In der Mitte standen einige runde Ständer mit feschen Jacken für die neue Saison. Kunden waren nicht anwesend.

Es dauerte nicht lange, bis eine top gestylte und elegant mit weißem Blazer und dunkelblauem Rock gekleidete blonde Frau um die 40 die Besucher freundlich empfing. »Grüß Gott. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Mein Name ist Huber und das ist meine Kollegin Hanke, wir sind von der Kripo Pfarrkirchen.« Die beiden Kommissare zückten ihre Dienstausweise.

Die Gesichtszüge der Frau verfinsterten sich. »Ist was passiert?«

»Sind Sie Frau Staudinger?«

»Ja«, sagte die Geschäftsfrau verunsichert.

»Können wir kurz in Ihr Büro gehen?«, schlug Mandy Hanke vor.

Das kleine Büro befand sich im hinteren Teil des Ladens. Als sie an einem Tisch in der Ecke Platz genommen hatten, rückte Thomas mit der traurigen Nachricht heraus. »Frau Staudinger, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann heute früh in seinem Traberstüberl tot, genauer g’sagt, erstochen aufgefunden wurde.«

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