Die Hoffnungsvollen

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5

Gelangweilt sah Alex aus dem Fenster ihres Wohnheimzimmers in den hellen Sommertag. Ihre erste Ethnologieprüfung zwang sie zwischen ihre Aufzeichnungen. Beate, ihre Mitbewohnerin, war nach Hause gefahren. Doch selbst das war kein Trost. Sie wünschte sich zurück in das leichte Leben der Grabung. Der immer gleiche Anblick des wilden Gestrüpps auf der endlosen flachen Fläche hinter ihrem Haus verstärkte ihre trübe Stimmung. Der Silbersee lag grau dazwischen. Lustlos blätterte sie in den Aufzeichnungen und versuchte sich die Grundzüge der Wirtschaftsethnologie anzueignen. Das Wohnheim bot ihr kein fröhliches Lebensgefühl. Es war ein pragmatischer Ort, gedacht zum Schlafen zwischen den Vorlesungen, kein Ort, an dem man leben konnte. Sie musste sich verändern. Dann beschloss sie, kurz rauszugehen.

Auf dem Rückweg vom Silbersee, fand sie einen Brief von Sven im Briefkasten. Er fragte, ob er sie besuchen dürfe. Jubelnd antwortete sie ihm. Sie konnte sich nichts vorstellen, was sie sich in diesem Moment mehr gewünscht hätte, und am nächsten Wochenende stand er vor ihrer Tür.

Ein fieberhaftes Gefühl hatte ihn seit seiner letzten Begegnung mit ihr hierher getrieben. Es war ihm erst nach ihrer Abreise bewusst geworden, dass er Alex gern näherkommen wollte, viel näher. Hatte er es nicht deutlich in ihren Augen gesehen, als sie seine Blicke suchte und seine Nähe, um ihm immer wieder Fragen zu stellen? Er wagte es nicht, daran zu glauben, und doch ahnte er, dass Alex Interesse an ihm hatte, mehr zumindest als für die Archäologie, nach der sie ihn ständig ausfragte.

„Komm rein“, sagte Alex und er fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. „Ich muss eigentlich lernen. Entschuldige bitte das Papierchaos.“

Getroffen prallte er zurück, war er zum falschen Zeitpunkt gekommen? Aber jetzt war er einmal da, über 40 Kilometer mit dem Zug angereist. Er konnte doch jetzt nicht einfach wieder gehen?

„Macht nichts“, sagte er deshalb und versuchte seinen Schrecken nicht zu zeigen. Auch Alex schien verlegen zu sein und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, als wäre sie wie er das erste Mal hier.

„Willst du einen Tee?“

„Gern!“

Alex ging zum Tisch und räumte ihre Hefter zur Seite. Dann holte sie noch ein Teeglas und prüfte die volle Kanne. Sie schien mit der Temperatur des Tees zufrieden zu sein, denn sie schenkte ihm ein.

„Ich habe eigentlich gar keine Zeit, das Lernen ödet mich an und gleichzeitig platze ich vor Lebensdurst“, erklärte sie dabei, und Sven wunderte sich über das Durcheinander in ihren Worten und Gedanken. Er musste lächeln. Diese zerstreute Art hatte ihm sofort an ihr gefallen, und ihre stets ein wenig verträumten Augen, die in eine andere Welt zu blicken schienen, eine Welt, die er nicht sehen konnte. Für einen Moment versank er in diesen Augen. Sie waren blaugrau und leuchteten aus ihrem schmalen Gesicht. Nur die flache und etwas zu breit geratene Nase irritierte in ihren Zügen.

„Was rede ich da!“, sagte sie und hob entschuldigend ihre Schultern. Kurz senkte er den Blick. Dann ging er zum Fenster.

„Ganz schön trist hier“, bemerkte er, als er sich wieder zu ihr umwandte.

„Kaum auszuhalten, besonders, wenn man von einer Grabung kommt“, sie streifte ihr Haar zurück und lächelte ihn an. „Wie gern würde ich jetzt was mit dir unternehmen. – Jedenfalls freue ich mich, dass du hier bist.“

Er war erleichtert. Ihre Freude schien ehrlich zu sein, obwohl er die Anspannung wegen ihrer Prüfungen förmlich in der Luft spürte. Wenn er jetzt hierbleiben wollte, dann musste er ihr helfen.

„Mach dir nichts draus“, sagte er deshalb und versuchte ein aufmunterndes Lächeln in seine Züge zu legen, das Ruhe und Sicherheit versprechen sollte. Dann machte er ihr ein Angebot: „Wenn du lernen musst, dann frage ich dich eben ab.“

Entschlossen setzte er sich auf den zweiten Stuhl am Tisch und zeigte auf ihre Aufzeichnungen.

„Wovon willst du mir denn heute erzählen?“

Unwillkürlich musste sie lachen. „Heute behandeln wir die frühen Wirtschaftsformen, vom Paläolithikum über das Mesolithikum bis in das Neolithikum hinein.“

„Na, dafür bin ich doch Fachmann, Paläolithikum und Mesolithikum sind meine Spezialstrecke!“, rief er überrascht. „Einen besseren Prüfer kannst du dir nicht vorstellen.“

„Ob du das wirklich bist?“, konterte sie. „Es geht um Altamerika.“

Na gut, Amerika war nicht gerade sein Spezialgebiet. Doch davon wollte er sich nicht abhalten lassen, Zweifel ließ er nicht zu. Stattdessen sagte er: „Dort wird es wohl nicht viel anders gewesen sein, als in der Alten Welt. Dann leg mal los.“

Alexandra schien eine disziplinierte Studentin zu sein. Sie betete ihr Wissen zu den Sammlern und Wildbeutern Amerikas aus dem Effeff herunter, kannte die wichtigsten steinzeitlichen Fundstätten in dieser Region und diskutierte ihre Mitschriften zum Übergang von der Okkupationswirtschaft zur produzierenden Wirtschaft. Er konnte im Hefter fast mitlesen. Doch das reichte ihm nicht. Alex musste lernen, selbst zu denken und Mitschriften zu ergänzen. Er wusste, mit einer DDR-Schulbildung, die sie beide hatten, war das schwierig. Aber die neue Zeit verlangte von ihnen, dass sie frei reden lernten und ihre eigene Meinung debattierten. Daran war er ihr, am Ende seines Studiums, weit voraus und vielleicht konnte er ihr ein Stück weiterhelfen. Er schlug einige Seiten im Hefter zurück. Dort hatte er die Höhle von Guitarrero in den Anden entdeckt, die er selbst aus seinem Studium kannte und nun stellte er ihr unverhofft die Frage nach den Funden.

„In der Höhle fand man Spuren menschlicher Besiedlung. Sie wurden auf ein Alter von bis zu 12 600 Jahren geschätzt“, antwortete Alex prompt und ergänzte: „Darunter Textilien, Körbe, Holz- und Lederwerkzeuge, aber auch Anbaupflanzen, wie Bohnen und Mais.“

„Und Werkzeuge?“, fragte er weiter.

Alexandra sah in verlegen an. „Von Werkzeugen stand nichts in meinen Aufzeichnungen. Darüber musst schon du mich aufklären.“

„Na, versuch es mal. Was gehört in eine paläolithische Siedlung?“

Sie überlegte, dann leuchteten ihre Augen kurz auf und sie antwortete: „Klingen, Kratzer, Schaber und Pfeilspitzen?“

„Fast richtig“, nickte er. „Pfeilspitzen gab es aber erst im Spätpaläolithikum und im Mesolithikum. Denk weiter nach!“

„Vielleicht Faustkeile? – Und dort, wo sie hergestellt wurden, Abschläge und einen Kernstein!“

„Richtig! Faustkeile gab es im Alt- und im Mittelpaläolithikum. Und den Kernstein kann man auch Nukleus nennen. Damit kannst du vor den Prüfern richtig prahlen.“

„Gut, ein Kernstein, auch Nukleus genannt“, scherzte nun Alex und lachte wieder.

Der Hefter, den er zusammengerollt in seiner Hand schwenkte, tat Sven gut. Er gab der Situation Neutralität, Natürlichkeit und Ausgelassenheit. Sie waren doch nur zwei Studenten, die zusammen lernten. Der Stoff lieferte die Gesprächsthemen, jeder nächste Satz konnte einen Scherz verstecken, und er kannte sein Talent, Humor so in Worte zu verpacken, dass er sein Gegenüber unerwartet traf. Alex schien gern zu lachen und das inspirierte ihn zu immer neuen Wortkapriolen.

Doch manchmal ertappte er sich, wie seine Augen immer wieder ihr Gesicht nach einem verräterischen Zeichen absuchten. Er wartete auf ein Signal in ihren Zügen, das ihm sagen könnte, ihr gehe es genau wie ihm. Die Fröhlichkeit, die ihre innere Anspannung erträglicher machte, entlud sich in ständigen Lachsalven. Doch so sehr er auch lachte, gestikulierte, erzählte, er spürte, wie er ihre Nähe suchte.

Dann stand Alex auf und schenkte Sven ein Glas Tee nach. Ihr rechtes Bein streifte wie zufällig sein linkes Knie. Er griff nach dem Glas, das sie ihm reichte, und berührte dabei leicht ihre Finger. Kurz spürte er einen Hitzschlag durch seinen Körper strudeln, der ihm unwillkürlich den Atem nahm. Und auch Alex’ Knie schienen plötzlich zu zittern. Wie von selbst senkte sie sich auf seine blauen Jeans und in einer unvermeidlichen Geste fiel ihr Gesicht auf seinen Mund. Ihr linker Arm berührte leicht seine Schulter und er konnte nicht anders, als ihren Kuss zu erwidern. Einige Sekunden verharrten sie in dieser unbequemen Haltung. Dann trennten sich ihre Münder wieder, und er sah, wie ihre rechte Hand versuchte, das Teeglas so zu halten, dass sie von der bräunlichen Flüssigkeit nichts über beider Kleidung goss.

Mit roten Wangen sprang Alex von seinem Schoß auf und reichte Sven erneut sein Teeglas, als sei sie von ihm in dieser Handlung unterbrochen worden. Sven spürte einen kalten Luftzug an seinem Bauch, dort, wo Alex sich eben noch an ihn geschmiegt hatte. Dann überkam ihm Panik. Scheu wich er ihrem Blick aus. Worüber sollte er jetzt reden?

Doch Alex redete schon, viel zu schnell und viel zu unzusammenhängend sprudelten die Worte aus ihr heraus: „Wenn ich über Sammler und Wildbeuter lernen muss, denke ich immer an unsere Wälder in Adelsberg.“

‚Wälder?‘, dachte er und blickte erschrocken in ihr glühendes Gesicht.

„Ich bin zwar in einem Neubaugebiet groß geworden. Aber das liegt am Stadtrand und direkt neben uns wehrt sich bis heute das kleine Dorf Adelsberg standhaft gegen die Eingemeindung. Du glaubst nicht, wie krass der Gegensatz zwischen unseren Wohnblocks und dieser Erzgebirgskulturlandschaft ist, und ich brauchte immer nur zehn Minuten mit dem Fahrrad, um aufs Land und in die Berge zu kommen. Wenn ich dagegen hier aus dem Fenster sehe.“

Sie zeigte auf das Gestrüpp vor dem Fenster, und Svens Blick folgte ihrer Geste. Dankbar griff er ihre Sätze auf: „Ich bin in Brandenburg groß geworden. Dort hieß es, man sehe die Gäste schon zwei Tage vor ihrer Ankunft, so flach war es. Berge kenne ich erst, seitdem wir in meiner Jugend nach Thüringen gezogen sind.“

 

„Ohne Berge kann ich mir meine Kindheit nicht vorstellen. Wir sind mit den Rädern durch die Wälder gefahren, haben Hütten gebaut, uns versteckt, alte Bunker entdeckt und Wasserräder gebastelt. Im Winter sind wir mit den Schlitten den Katzenbuckel runtergerast und im Frühjahr habe ich Brunnenkresse in den Bächen gefunden.“

Und plötzlich reichte ihm Alex die rechte Hand: „Hast du Lust, mal mit mir hinzufahren? Wollen wir zusammen nach Adelsberg?“

Er spürte ein tiefes warmes Strahlen in seinem Inneren, als er antwortete: „Warum nicht?“ Und in diesem Augenblick war er sich endlich sicher, sie würden eine Chance haben.

6

An dem Tag, an dem Alexandra ihre Prüfung bestanden hatte, stand ihr Entschluss fest. Sie wollte nicht im Wohnheim bleiben, sondern ihr eigenes Zimmer, und sie wollte wenig dafür zahlen. Sie hatte von besetzten Häusern gehört. In einem solchen Haus zu leben, würde ihr mehreres bringen, nicht nur preiswertes Wohnen, sondern auch ein unsagbares Lebensgefühl, ein Abenteuer mitten im Alltag. Und genau das suchte sie. Noch vor der Wende hatten sie in den Westnachrichten die Berichte zu den Hausbesetzungen in der Hamburger Hafenstraße fasziniert. Während ihre Eltern den Kopf schüttelten über das, was da im Westen möglich war, hatte Alex sich gewünscht, ein Teil dieser Szene zu sein und am freien und provokanten Leben der Hausbesetzer teilzuhaben. Aber damals saß sie auf einem Sofa in der DDR und war minderjährig. Jetzt endlich sah sie ihre Chance gekommen. Alex hörte sich um und bekam eine Adresse in der Sternwartenstraße, ganz in der Nähe der Innenstadt. An einem Wochenende fuhr sie hin.

Das Erste, was sie sah, war ein zur Hälfte abgerissenes Haus, vor dem, auf einem schlammigen Parkplatz, eine große üppig-grüne Kastanie emporragte. Der Abriss schien mitten in der Arbeit unterbrochen worden zu sein. Die ausgesplitterten Enden der Trägerbalken ragten ihr entgegen und das aufgerissene Gemäuer zeigte seine ziegelroten Sägezähne. Die Zimmerwände mit ihren alten Tapeten lagen frei. An einer Wand sah sie einen Schrank stehen, dessen linke Tür leicht geöffnet war. Schweres Gerät, das an dieser Ruine arbeiten könnte, erblickte sie nirgends.

Neben dem aufgeschlitzten Haus stand eine weitere Ruine, die ihren Putz vollständig verloren hatte. Schwarze Höhlen starrten sie anstatt von Fenstern an. Alex ging zwischen beiden Ruinen hindurch und erblickte zwei weitere Häuser mit abgeblättertem Putz und Graffiti. Sie hatten ihre Fenster noch. Das mussten sie sein.

Vor den Häusern lag sorgsam geordneter Sperrmüll, als warte er darauf, dass die Bewohner ihn wiederverwenden würden. Alex ging weiter und sah eine Sitzgruppe aus verrottenden Polstermöbeln um einen Tisch, auf dem eine leere Bierflasche stand. Daneben sah sie drei klapprige Fahrräder und Ersatzteile. Der Hof war aufgeräumt und gekehrt. Irgendeine sorgsame Hand kümmerte sich um ihn.

Die bunt bemalte Haustür hing dagegen schief in ihren Angeln und war zerbrochen. Die Kellertür stand weit offen. Es roch nach Moder. Schemenhaft verrieten die dunkel gewordenen, grünlich braunen Treppenhauswände die Konturen einer einst sehr schönen Bemalung. Flecken fehlenden Putzes musterten nun die Wände und offenbarten die roten Ziegel der Mauern. Alexandra stieg eine laut knarrende Holztreppe hinauf. Das Geländer wackelte, da einige gedrechselte Geländerstäbe fehlten. Das Hausfenster, an dem sie vorbeikam, war zersplittert. Im düsteren und muffigen Treppenflur stiegen in Alex Bedenken auf. Dann dachte sie an ihr Leben und daran, dass sie sich anderes nicht leisten könne. Mit Widerwillen sah sie das Wohnheim mit seiner fettigen Küche vor ihrem inneren Auge und das Doppelstockbett, das sie mit einer Fremden teilte. Dann atmete sie tief durch und klingelte in der ersten Etage. Niemand öffnete. Sie stieg eine Etage höher und sah eine überdimensionale, mit Stahl gepanzerte Tür, die mit einer durchsichtigen dunkelvioletten Platte, wie sie zur Verschalung auf Baustellen verwendet wurde, verkleidet war und der man ansah, dass sie der Stolz eines heimwerkelnden Bewohners war. Hier hatte sie Erfolg. Ein blonder, groß gewachsener lässiger Typ öffnete die Tür.

Alexandra sah in sein ebenmäßig glattes und helles Gesicht: „Hallo. Ich bin Alex.“

Sie reichte ihm die Hand, die er erst ergriff, nachdem er sie eine Weile gemustert hatte. Das Händereichen ist wohl nicht der richtige Gruß, durchfuhr es sie, und sie nahm sich sofort vor, etwas cooler zu sein.

„Ich bin auf der Suche nach einem Zimmer“, erklärte sie viel zu hastig. „Ich habe gehört, hier im Haus ist eines frei.“

„Komm rein“, antwortete der Blonde und trat zur Seite.

Alex betrat die Wohnung. Verwundert sah sie, dass der riesige Flur hell und eigenwillig renoviert war. Die beigen Wände waren mit farbigen Ornamenten bemalt, die Alex irgendwie gefielen. Sie folgte dem Blonden in die Küche, einem hellen quadratischen Raum mit großem Fenster und einem runden, weiß gestrichenen Tisch im Zentrum. Um den Tisch standen vier altertümliche, bequeme Holzstühle mit verschlissenen Ledersitzflächen und Armlehnen. Auch die Küche schien frisch gemalert zu sein. An der Wand neben der Tür standen zwei abgebeizte Küchenschränke mit geschliffenen Glastüren. Daneben sah Alex eine selbst gebaute Spüle, eine Arbeitsfläche und einen Herd, die mit schmutzigem Geschirr überladen waren. Doch der Tisch war sauber. In der Mitte stand ein gut gefüllter Aschenbecher.

Der Blonde fragte, ob sie Kaffee haben wolle. Sie bejahte. Er füllte Wasser in den Kocher, holte zwei Tassen aus dem Schrank und füllte Kaffeepulver hinein. Alex zog ihre Jacke aus, hängte sie über eine Stuhllehne und setzte sich hin. Dann kramte der Blonde in seiner Hosentasche und holte eine Schachtel blaue Gauloises hervor. Er klopfte die Schachtel gegen seine linke Hand, bis sich eine Zigarette zeigte. Die nahm er und zündete sie an. Und während Alex ihn beobachtete, spürte sie, wie sie nach Worten suchte. Aber der Blonde kam ihr zuvor.

„Ich bin übrigens Manne.“

„Schön, dich kennenzulernen“, stotterte sie. „Ich suche nach einem Zimmer und habe kein Geld, viel zu bezahlen.“ Manne sah sie misstrauisch an, und Alex wusste, wenn sie jetzt nicht losplapperte, müsste sie unversehens in ihr verhasstes Wohnheim zurückkehren. Deshalb richtete sie sich auf und atmete tief durch, um gleich darauf zu erklären: „Ihr habt ja schön renoviert. Wenn man das Haus von außen sieht, dann glaubt man gar nicht, wie schön es hier drinnen ist.“

„Geht so“, sagte Manne und betrachtete sie weiter.

„Ist das Haus besetzt?“, fragte sie dann, um irgendetwas zu sagen.

„Wir haben einen Nutzungsvertrag mit den Eigentümern und zahlen eine kleine Gebühr.“

„Das heißt keine Miete und keinen Mietvertrag?“

„Stört dich das?“

„Nö, es interessiert mich nur, ob ihr legal seid.“

„Und wenn nicht?“

„Mir würde es nichts ausmachen, hier zu wohnen.“

Er lachte kurz auf und brummte: „Das glaub ich.“

„Habt ihr die Stahltür draußen selbst zusammengebaut?“

„Wer sonst.“

Alex sah ihn neugierig an.

„Wir bekommen manchmal Besuch von Rechten. Da ist es besser, eine sichere Tür zu haben.“

Sie nickte bedeutungsvoll und Manne musste grinsen.

Dann fragte sie: „Habt ihr vielleicht ein Zimmer für mich frei?“

„Ein Zimmer ist gerade frei geworden. Aber der Ofen funktioniert nicht. Hier wird es eiskalt im Winter. Ich weiß nicht, ob ich dir das empfehlen kann.“

„Das macht nichts“, sagte sie gerade heraus. „Ich würde das Zimmer gern nehmen. Wie viel kostet es?“

„57 Mark pro Monat.“

„Und Strom und Wasser?“

„Ist alles mit drin.“

„Und wann kann ich einziehen?“

Kurz wand sich der Blonde. Alex hielt einige Sekunden den Atem an. Dann sah er nochmals in ihr Gesicht. „Sofort, wenn du willst.“

Sie hatte es geschafft. Ihr Traum von der Hafenstraße würde wahr werden und kostete weniger als das Doppelzimmer im Wohnheim. Nun bekam sie gute Laune und endlich konnte sie auch plappern. Manne goss den Kaffee auf und gab Alex die erste Zigarette ihres Lebens. Er erzählte ihr von der Gegend, und sie erfuhr, dass die vier Häuser, die sie gesehen hatte, die letzten Häuser eines Rotlichtviertels vor dem Krieg waren und Seeburgpiepe hießen. Weil sie 1990 unter Denkmalschutz gestellt worden waren, war ihr Abriss gestoppt worden. Aber die heutigen Besitzer hatten kein Geld für eine Sanierung, weshalb die Gebäude vor sich hin moderten. Manne erklärte stolz, dass die Häuser ohne ihre Bewohner schon längst in sich zusammengefallen wären. Sie waren nicht nur Hausbesetzer, sie sorgten auch für deren Erhalt.

Nach einer Stunde verließ Alex zufrieden die Wohnung, und Manne warnte sie noch, sich nicht am Geländer festzuhalten, das könne abbrechen. Als sie ihn daraufhin fragend ansah, meinte er trotzig: „Die unter uns haben die Geländerstäbe verheizt.“

Dann sprang sie vor Freude die Treppen hinunter. Das war ihre Zukunft, und sie wollte sie unbedingt.

7

Ihren ersten Umzug konnte sie noch mit einem Rucksack bewältigen. Zweimal packte sie ihn und fuhr mit der Bahn vom Wohnheim Ößen ins Stadtzentrum zur Stewa, wie die besetzten Häuser hießen. Ihr Zimmer war 25 Quadratmeter groß. An der Wand neben der Tür stand noch ein alter Kleiderschrank und sie begann sich einzurichten. Die knallroten Wände überstrich sie mit weißer Farbe. Dann besorgte sie sich bei der Messe mit Hilfe von Tilos Trabbi gebrauchten Fußbodenbelag. Von den Bewohnern eine Etage tiefer bekam sie eine Matratze und einen quadratischen dunklen Holztisch, dessen Beine sie mit der Säge kürzte. Auf dem Sperrmüll fand sie zwei blaue Polsterstühle mit schlanken Füßen, wie sie in den Fünfzigerjahren typisch waren. Auch deren Beine kürzte sie und stellte Tisch und Polsterstühle zu einer Sitzgruppe zusammen. Dann strich sie Tür- und Fensterrahmen beige, sodass ein Kontrast zur blauen Sitzgruppe entstand. Später organisierte sie sich noch einen Schreibtisch und fand auf dem Parkplatz vor dem Haus einen verschlissenen Bürostuhl. Im Baumarkt kaufte sie sich die billigsten Kellerregale, dorthin sollte ihre Bibliothek kommen. Und so konnte sie erst einmal leben.

Die ersten Nächte in ihrem neuen Zimmer waren unheimlich. Auf ihrer Matratze liegend, hörte Alex den Wind durch die leeren Fenster des gegenüberliegenden Abbruchhauses pfeifen. Ab und an fielen Steine aus der Mauer und zerplatzten auf dem Boden. Dazwischen rieselte der Putz, dann pfiff wieder der Wind durch die undichten Fenster. Aber sie hatte einmal beschlossen, hier zu wohnen und wollte sich daran gewöhnen. Sie hoffte, sich bald wohler zu fühlen, doch auch das WG-Leben zeigte seine unbequemen Seiten. In der Küche stapelte sich das schmutzige Geschirr. Brauchte Alex einen Teller oder eine Tasse, dann musste sie sich diese über der vollen Spüle erst abwaschen. In den ersten Wochen spülte sie das gesamte Geschirr, dann ließ sie es bleiben.

Alex rauchte nun, erst an den Abenden, dann bereits nachmittags und bald schon am Morgen. Bereits als Kind hatte sie eine Schwäche für den Duft von Zigaretten entwickelt. Wenn ihre Eltern bei einer Wanderung mittags nach einer Gaststätte suchten, dann konnte es vorkommen, dass sie eine Kneipe wegen des dichten Rauches wieder verließen und sich weigerten, dort zu essen, was dann im Allgemeinen hieß, dass überhaupt nicht zu Mittag gegessen wurde. Gaststätten waren in der DDR rar gesät gewesen. Betrat jedoch Alex einen verrauchten Kneipenraum, dann atmete sie tief ein. Ihr gefiel der Geruch. Er erinnerte sie an ihren charmanten, kettenrauchenden Großonkel, von dem es hieß, er habe in seiner Jugend Schifferklavier gespielt. In ihrer Fantasie sah sie ihn oft als jungen Mann in einer rauchvernebelten Kneipe, wie er mit einer Zigarette im rechten Mundwinkel und einer in die Stirn fallenden schwarzen Locke, seine Finger über die Tasten eines Akkordeons fliegen ließ. Sie sah, wie er das Instrument mit ausholender Bewegung aufzog, um es dann – sich schwungvoll nach vorne beugend – wieder zusammenzudrücken. In ihrer Vorstellung spielte er Hans Albers „Die große Freiheit Nr. 7“ und zwinkerte dabei den weiblichen Schönheiten im Raum zu. Wenn sie wie jemand in ihrer Familie sein wollte, dann wie er oder wie sie ihn sich in seiner Jugend vorstellte.

Dann waren da noch ihre Mitbewohner. Manne war Steinmetz und hatte mit seinen 23 Jahren bereits eine Staublunge. „Ich lebe sowieso nicht lange“, sagte er, rauchte, kiffte und hustete sich die Lunge aus, ganz nach dem Motto ‚Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen‘. Härtere Drogen als Bier und Hasch sah Alex dagegen nicht und war froh darüber.

 

Ihr zweiter Mitbewohner war ein Künstler, den alle Zappe nannten. Er hatte wie Manne zwei Zimmer, in einem schlief er, in dem anderen, einem leeren weißen Saal, schuf er riesige Gebilde aus Draht, Holz, Stoff und Pergamentpapier. Wenn Zappe da war, arbeitete er meist in seinen Räumen und beteiligte sich nur selten an den abendlichen Runden. Er war wortkarg. Falls sie doch einmal an seiner Tür klopfte und ihm eine Frage stellte, schob er sie nach zwei Minuten schon wieder aus seinem Atelier. Er hätte zu tun, sagte er dann.

An den Abenden trafen sich die Leute, um zu klönen. Meist saßen sie bei Manne, denn der war der Einzige der einen Fernseher hatte. Sie saßen auf dem altertümlichen grünen Sofa und den dazugehörigen Sesseln mit Löwentatzen als Füße, die Manne – wie er gern erzählte – von einem Adelssprössling geschenkt bekommen hatte, oder einfach auf dem Boden und lehnten sich an die Wand. In den Händen hielten sie Bierflaschen. Volle Aschenbecher standen überall herum und man rauchte um die Wette. Alex saß meist abseits und lauschte den Gesprächen. Witze flogen hin und her. Sie wusste dazu nichts zu sagen. Die Welt, aus der sie kamen, war nicht ihre. Und sie machte sich darüber Gedanken, wie weit sie sich auf die Hausbewohner einlassen sollte. Ihr Studium gehörte zur angepassten Außenwelt, nicht in den Kreis des gelebten, alltäglichen Exzesses. Nach durchzechten Nächten verpasste sie am Morgen die Vorlesungen. Und sie hatte nicht das Gefühl zu gewinnen. Einigen der Hausbewohner sah sie an, dass sie über den sich täglich wiederholenden, nächtlichen Rausch alt geworden waren. Ob sie ein Ziel hatten, um das sie kämpften, wie sie ihr Geld verdienten und ob sich jemals etwas in ihrem Leben erfüllen würde, das blieb fraglich. Auch schien ihr die Gesellschaft kompromisslos. Die Ausgeschlossenen schlossen die Außenwelt aus. Sie verhielten sich wie ein elitärer Zirkel mit einer extravaganten Lebensführung, deren Zutritt streng limitiert war. Alexandra zögerte ihren Entschluss hinaus, obwohl sie wusste, was sie von diesen Leuten unterschied. Sie lebte nicht nur, vor ihr stand ein klares Bild ihrer eigenen Zukunft.