heimatlos

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Von Heimweh, auch das zeigt Jaspers auf, werden nicht nur junge Menschen, sondern vor allem die Angehörigen unterer sozialer Schichten befallenen – solche, für die es in der angestammten Heimat keinen Platz mehr gibt, weil diese sie nicht mehr nähren kann – junge Dienstmädchen vom Land, Soldaten, die in der Heimat kein Auskommen mehr finden, Taglöhner, Entwurzelte … Heimweh – das war das Symptom einer Zeit, in der vormoderne Gesellschaften an die Grenzen ihrer Aufgabe gelangt waren, ihren Angehörigen Zugehörigkeit zu ermöglichen. Die alte, nicht bessere, aber eben die vertrautere Welt brach aus den Fugen. Eine seit dem Dreißigjährigen Krieg unaufhaltsam wachsende Bevölkerung konnte nicht mehr ernährt werden. Rund ein Drittel der Einwohner in vielen Landstrichen Deutschlands wählte notgedrungen die Auswanderung, um wenn nicht Glück, so doch Brot und Auskommen in Amerika, Russland oder Südosteuropa zu finden. Das angestammte „Heimatrecht“ als Versorgungssystem verlor seinen sozialen Sinn, weil die Industriegesellschaft nicht mehr auf Sesshaftigkeit, sondern auf Mobilität drang. Sozialhistorisch gemünzt erscheint die Heimweh-Krankheit also als Symptom umfassender Enttraditionalisierung im Übergang von Agrar- zu modernen Industriegesellschaften.

Heimweh und Verbrechen – diese Zusammenhänge müssen natürlich aus ihrer Zeit herausgelesen und verstanden werden. Aber: Sie verweisen auf die allgemeinere Frage, wie Imaginationen des Heimatlichen nicht immer auch als Nachtseite, als Kehrseite, das Verbrechen, die Bereitschaft zu rücksichtlosem Exzess in sich tragen – das Unheimliche als verdrängter Anteil des Heimisch-Vertrauten. Die Ambivalenzen waren beständig präsent: Ungestilltes Heimweh – entfesselte Brutalität; zarte Geschöpfe – barbarische Gewalt; Gemütlichkeit und Brutalität – mit diesem vordergründig Nicht-Zusammengehörenden hat der Berliner Religionswissenschaftler Klaus Heinrich die wechselseitig verflochtenen Beziehungen als „Charakteristikum einer spezifisch nationalen Mentalität“ der Deutschen zusammengefasst (Heinrich 1984, S. 47). Gemütlichkeit und Brutalität – zwei Seiten einer deutschen Heimat-Medaille. Die Geschichte des Heimwehs, so ließ denn auch Elisabeth Bronfen 1996 ihr Vorwort zur Neuausgabe von Karl Jaspers „Heimweh und Verbrechen“ enden, diene „einer doppelten Mahnung: Sie lassen uns nicht nur erfahren, wie der Verlust von Heimat ganz plötzlich und unerwartet Gewalt und Verbrechen hervorrufen kann. Sie drängen uns auch die Erkenntnis auf, dass einer zur Plombe erstarrten Vorstellung von Heimat der Ausbruch von Gewalt immer eingeschrieben ist.“ (Bronfen 1996, S. 25)

Zweierlei soll diese kleine Skizze zur historischen Verlaufsform der Heimweh-Krankheit vergegenwärtigen. Zum einen will sie daran erinnern, was Heimatlosigkeit bedeuten kann (nicht muss!), was der Verlust von Heimat und dann vor allem die Erfahrung einer abweisenden Fremde denn auch an Gewalt und Verbrechen hervorzubringen vermag.

Und da wäre zum anderen der Hinweise, welche Sprengsätze gedeihen, wenn die Vorstellungen der eigenen Heimat nur fixe Ideen sind: unbeweglich, weltabgewandt, immun gegen Wandel und nur das Eigene im Mittelpunkt. Das sind dann Imaginationen von Heimat, die nur Humus für die monokulturelle Züchtung des Eigenen liefern, das Eigene als Bollwerk, und die als Nachtseite, Verbrechen und Gewalt, die Bereitschaft zu rücksichtlosem Exzess in sich tragen – das Unheimliche als verdrängter Anteil des Heimisch-Vertrauten.

Eckpunkte eines psychoanalytischen Verständnisses, in dem das Phänomen heimatlos „aufgefunden“ werden kann (J. Keim)

In diesem Teil soll zunächst unmittelbar an die vorangegangen Ausführungen zur Geschichte des Heimwehs angeknüpft werden. Diese erinnern streckenweise nicht nur an eine Einführung in die Historie eines Gefühls, sondern lesen sich wie die Geschichte einer allgemeinen Psychosomatik. Es geht dabei auch um eine Bewegung von äußeren, konkreten Faktoren hin zu inneren Seelen- bzw. Gefühlszuständen; sie verweist auch darauf, dass schon im 18. Jahrhundert damals die verstärkte Heimweh-Symptomatik auch als Antwort auf erzwungene Mobilität und Migration verstanden werden kann. Weiter angeschlossen werden soll auch an den Hinweis auf Nicolini 1936, dass Heimweh „‘nur ein Ausdrucksmittel einer inzestuös fixierten Libido‘ sei“ – ein Heimweh im Sinne einer Sehnsucht nach einer bekannten Umgebung aber nicht existiere. Verbunden mit Freud’s Formulierung aus „Das Unheimliche“, wonach „Liebe ist Heimweh“ und sich das „Unheimliche (…) der Wiederkehr des verdrängten Heimwehs zum Leib der Mutter, der ursprünglichen Heimat“ verdanke (Freud 1919, S. 259), spannt sich hier eine erste Polarität auf. [1] Wenn man die vorgängigen Ausführungen zu Karl Jaspers „Heimweh und Verbrechen“ mit aufnimmt, wären noch die Formulierungen aus Freuds „Triebe und Triebschicksale 1915“ zu ergänzen: „Der Hass ist als Relation zum Objekt älter als die Liebe (…)“ (GW 10, S.231). Diese Relation zum Objekt ist Hintergrundfolie für das Folgende.

Hier sollen weitere mögliche Eckpunkte eines Raumes, in dem das Phänomen „heimatlos“, psychoanalytisch verortet bzw. mit Winnicott ausgedrückt „aufgefunden“ werden kann, kurz ausgeführt werden. Hilfreich für das Verständnis von „heimatlos“ war dabei insbesondere Winnicotts posthum veröffentlichtes Buch 1.) „Home is where we start“ (1986), die Arbeit zur 2.) Heimat als inneres Objekt (Leszczynska-Koenen 2009) und der Bedeutung der Mutter-Sprache sowie 3.) die Bedeutung von intermediären Übergangs- bzw. von Zwischen-Räumen (Winnicott 1989) und von Verbindungsobjekten (Volkan 2002) sowie der (fehlenden) Trauer-Verlust-Arbeit bzw. die (Un)Möglichkeit zu trauern (Wellendorf, F., Wesle, Th. (Hrsg.) 2009).

1. „Der Anfang ist unsere Heimat“ – eine erste Annäherung an Heimat

Den Anfang der jüngsten psychoanalytischen Auseinandersetzungen im deutschsprachigen Raum macht unseres Wissens nach – wie oben schon angedeutet – die Debatte von Parin (1994) und Schmidbauer (1996) zu der Améryschen Frage: „Wie viel Heimat braucht der Mensch?“ Dabei betonte Schmidbauer die „Normalität“ des Heimatgefühls und übte – womöglich Parins Ausführungen verkürzend [2] – Kritik an dessen These zur möglichen „Plombenfunktion“ – der Heimat für ein beschädigtes Selbst. Schmidbauer bestimmt dabei – ohne Freud und u.a. dessen Arbeit von 1919 zu erwähnen – als erste Annäherung den Körper der Mutter als erste Heimat des Kindes. Die zweite Heimat sind erste besondere, einzigartige Dinge, z.B. das Bett, das Haus, der Garten oder das Auto. Die dritte Heimat ist dann Schule, Lernen, Studium, also die geistige Heimat, die unendlich viele Heimaten erschließt.

Die Heimat ist zudem die Basis von Vertrautem, auf der man Fremdes verarbeiten kann – und sie ist auch mit einer (notwendigen) Illusion verbunden: „Wir brauchen den Glauben, geborgen zu sein, geliebt zu sein und nicht zweite Wahl zu sein, auch wenn er illusionär ist.“ Sowie: „Zur Heimat gehört die Illusion des Einzigartigen, nicht Austauschbaren, Unersetzlichen. (…) Solche Phantasien sind Abkömmlinge der ursprünglichen Größenidee, in der ein Kind noch glaubt, dass die Mutter-Welt alleine für seine Bedürfnisbefriedigung geschaffen ist.“ (Schmidbauer 1996, S. 318). Mit Winnicott wäre hinzuzufügen – eine Zeit, in der sich der Säugling die Brust noch selbst erschafft.

(Sehnsüchtige) Heimatsuche hat auch bei Schmidbauer mit der Industrialisierung der Gesellschaft und der damit verbundenen Individualisierung des Menschen und dem Verlust von stabilen und überschaubaren Verhältnissen, Gemeinschaft (Schmidbauer 1996, S. 310) zu tun. Dabei wird die Vergangenheit oft idealisiert, was zu einer Spaltung in das traditionell gute Alte und das schlechte Neue führt.

Die Frage, ob der Körper der Mutter als erste Heimat angesehen werden kann, ist aber strittig. Für Christoph Türcke ist schon der Neugeborene heimatlos. Die erste Heimat Mutterleib sei „gänzlich ein Unding, ein Nicht-Ort, griechisch: utopos.“ Der Körper der Mutter kann – bewusstseinspsychologisch – nie erkannt werden und ist und bleibt deshalb eben utopos? Damit betont Türcke wie andere – auch in Bezug auf Heimat – die Bedeutung des Verlustes, „denn sie entsteht posthum: wenn sie verloren und der Rückweg in sie versperrt ist“. In diesem Sinne wäre – auch nach Türcke – Ernst Bloch zu verstehen, wenn er davon sprach: „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“ (Bloch 1973, S. 1628). Mit Bion wäre u.E. auch zu denken, dass die erste Heimat eigentlich schon in der gemeinsamen Phantasie des Elternpaares liegt, in einer Reverie des (im doppelten Wortsinn) ‚zeugenden Elternpaares‘ lässt sich noch hinzufügen. Unseres Erachtens könnte damit eine erste Heimat psychisch schon vor dem Mutterleib angesiedelt werden.

Weniger strittig ist dann die Bedeutung des ersten Ortswechsels in der Vertreibung aus dem mütterlichen Körper, auch mythologisch aus dem Paradies, aus dem Ort protomentaler Basiserfahrungen.

Die leibliche Ver-Ortung – ein Begriff des Philosophen Bernd Waldenfels (2007) – dagegen erscheint unstrittig wie schon zuvor das von Freud 1923 beschriebene, aus den Leibinseln (vgl. Merleau-Ponty) aufgebaute, in der Spiegelphase virtuell (Lacan) zusammengesetzte, dann vollständigen Körper-Ich (Freud 1923b, GW XIII, 253). Den Körper gibt es lebenslang, ihn kann man lieben, aus ihm emigrieren oder ihn auch gänzlich verwerfen. Dabei scheint es eine Polarität zu geben: Es gibt immer eine Ver-Ortung im eigenen Körper, aber es gibt möglicherweise keinen psychischen Ort (no-where), an dem man sich verorten kann! Umgekehrt gibt es auch die Ver-Ortung der inneren Konflikte im Äußeren, den Sehnsuchts- und Un-Orten der Kindheit und Jugendzeit. Heimat prädestiniert geradezu Projektion, der „externalisierenden“ äußeren Verortung von inneren Konflikten.

 

2. Heimat als inneres Objekt:

Es ist dies eine sehr gelungene Begrifflichkeit von Anna Leszczynska-Koenen (2009), die auch unserer genuin psychoanalytischen Arbeit Rechnung trägt. Dabei geht es, wie schon genannt, um die Untersuchung von Bedeutungen, die einer Sache, einem Ort, einem Objekt gegeben wird, das dann auch zu einem inneren Objekt werden kann, und damit einher geht es auch um einen Internalisierungsprozess. Die Beschäftigung mit der Kontroverse, ob dem äußeren Objekt schon ein inneres, eine Prä-Konzept vorausgeht, sprengt den Rahmen unserer Einführung. Es berührt aber das immer wieder vorgetragene Verhältnis von innerer und äußerer Realität bzw. Raum und die Dialektik von „Selbst ohne Ort“ und „Ort ohne Selbst (Sloterdijk, 1999, S. 26).

Hinshelwood bestimmt das innere Objekt zunächst einmal als „ein emotionales Objekt“ (ebd., S. 100), das in den verschiedenen Positionen unterschiedlich ausgestaltet wird. Von Bedeutung hier ist besonders die der paranoid-schizoiden Position – als entweder idealisiert-geliebtes (absolut gutes) oder verfolgendes (böses) Objekt und die dabei stattfindenden Spaltungen, auf die sowohl Schmidbauer als auch Leszczynska-Koenen hinweisen. Eine wichtige, geradezu klassische Spaltung – die Ausführungen beider dazu zusammenfassend – ist die in:

– die traditionell gute alte Heimat – als regressive Phantasie eines Paradieses des Einsseins, in der alle Unterschiede (…) in der Phantasie der heimatlichen Zugehörigkeit aufgehoben scheinen,

– und dem schlechten Neuen, auf das sich der Hass richten kann, vergleichbar Adoptivkindern gegenüber den sie rettenden Adoptiveltern als das einzig verfügbare Objekt (vgl. Grinberg, L. und Grinberg, R., 1989).

Hieran schließt sich: „Jede Migration über die Grenzen der ursprünglichen Kultur kann zu einer Verschärfung der mit dem normalen unausweichlichen inneren Prozess der (Lebens-) Migration verbundenen mehr oder weniger integrierten Spaltung „in die Welt ‚davor‘, als wir uns noch im ungestörten Besitz der frühen Objekte wähnten und die Welt ‚danach‘, die von ödipaler Exklusion, von Trennungs- und Verlusterfahrungen geprägt ist, führen“ (Leszczynska-Koenen, 2013, S. 26).

Heimat hat man, kann man verlieren. Heimatlos ist man, das ist ein Seinszustand. Gerhard Salzmann lässt mit Bernhard Schlink anklingen, dass Heimat (auch) ein Ort allererster sinnlicher Erfahrungen ist. Damit psychoanalytisch verbunden sind Überlegungen zu prä-objektalen Beziehungsformen, autistisch-berührenden Objekten (Meltzer, Ogden), dem sensuellen Empfindungsobjekt (Tustins) und tiefen Existenz-Ängsten, schließlich Winnicotts „unthinkable anxieties“ (1974/1991).

Verschiedene Autoren erinnern uns an die heimatlichen Riech-Geschmacks-Objekte wie beispielsweise das ganz speziell duftend-schmeckende Kindheits-Sauerteig-Brot. Aber auch das olfaktorische Gemisch aus Braunkohle-Emission und Zweitakter-Benzingeruch ist DDR-Heimat oder die familienspezifischen Putzmittel können ein Stück Identität verbürgen. Bezogen auf unser Thema „heimatlos“ heißt das, dass diese frühen Objekte in den Identitäts-Kern eingehen, ebenso wie die Klang-Objekte (Suzanne Maiello, Sebastian Leikert) die sich in Heimat-Klängen und -Gesängen manifestieren. Denn: Aus dem Klang und der Melodie der Sprache der Mutter, die wir schon intrauterin hören und später wie und mit der »Muttermilch« auf­nehmen, wird allmählich die „Muttersprache“. Milch riecht und schmeckt dann nicht nur, sondern bekommt einen Klang und wird zum Wort. So kann in Sprache eine Heimat entstehen, wie bei Friedrich Hölderlin, der Rast- und Heimatlose, dessen Heimaten Rüdiger Görner (2007, S.72f) so trefflich als im ‚Wort wohnend‘ beschrieb.

In der Mutter-Sprache besteht eine Verschränkung von sprachlichen und nichtsprachlichen Symbolsystemen. Sie unterscheidet sich im inneren Erleben grundlegend von anderen (Fremd-) Sprachen, die wir später lernen. Man kann nicht nur aus Loyalitätskonflikten – wie es u.a. M. Leuzinger-Bohleber 2015 beschreibt – eine andere lexikalische (Fremd-/Vater-) Sprache nicht lernen, sondern auch seiner Muttersprache (adhäsiv) verhaftet bleiben und damit keine neue klangliche Heimat mehr bewohnen. [3] Welcher fast tödlicher sirenenhafter Sog von den heimatlichen Sprachmelodien ausgeht, zeigt Jean Amérys Begegnung mit dem SS-Mann, auf die Gerhard Salzmann hinwies.

Oft wird von einem Heimat-Gefühl wie von einem Basis-Affekt gesprochen. In Ergänzung zu Hinshelwoods ‚innerem emotionalem Objekt‘ sind die Arbeiten von C. Bollas (1987) zum ‚Zustands-Veränderungs-Objekt‘ und von C. Rohde-Dachser (2010) „Schwermut als Objekt“ zu nennen. Beide betonen, dass zum einen ein Gefühlszustand ein inneres Objekt sein kann; der (depressive) Affekt besetzt die Stelle des verlorenen Objekts und kann zu einem ständigen inneren Begleiter werden. Sabine Bode (2004) beschreibt für die Flüchtlingsfamilien der Nachkriegszeit nach 1945 einen depressiven Affekt, der sich wie Mehltau über alles legt, vergleichbar André Greens „weißer Depression“?

Das innere Objekt kann dann in der Welt der Objekt-/Subjekt-Repräsentanzen im engeren Sinn verstanden werden als Niederschlag totaler, partieller oder aufgegebener Identifikationen – dem Schatten des Objekts – im Selbstverständnis. Dies äußert sich unter Umständen in einer anderen Ausgestaltung des Ichs, etwa in der Akzentuierung der Abwehrmechanismen – eine anal-zwanghafte Pünktlichkeit oder ein anderer Umgang mit Zeit (Kairos oder Chronos) in anderen Ländern. Oder dies äußert sich in den jeweiligen Geschlechtsrepräsentanzen bzw. dem Geschlechterverhältnis, einem nicht nur im Moment besonderen Konfliktpunkt.

In einer anderen Begrifflichkeit geht es dabei um Identität, um das Zueinander von individueller und sozio-kultureller Gruppen-Identität, wie es Vamik Volkan (2003, S.45f) im gelungenen Bild des aus Stoffbahnen aufgebauten Jurte-Nomaden-Zeltes beschreibt: die Gruppen-Identität überwölbt schützend die individuelle Kern-Identität. Dabei wird diese zur gemeinsamen Haut. Auch der sogenannte IS-Staat bietet vor allem jungen Menschen eine solche Zelt-Heimat an.

Im Ich-Ideal-Objekt als Teil des Über-Ichs schlägt sich dies als Konflikt zwischen unterschiedlichen moralisch-religiösen Wertesystemen nieder. In der Begrifflichkeit von Lévi-Strauss und Mario Erdheim geht es dabei um „heiße“ und „kalte“ Kulturen, auf die sich auch Leila Beka-Focke in ihrer Darstellung einer „Analyse zwischen den Kulturen“ (2012) bezieht. Für sie stellt sich ebenfalls die Frage, inwieweit im „Rekurs auf die Kultur (…) – jenseits der gewählten Perspektive auf den Loyalitätskonflikt zwischen den Kulturen – dieser unbewusst auch zur Abwehr und Bewältigung von viel universelleren Konflikten“ (ödipale Schuld und Kastrationsängsten oder Rivalitätskonflikten und Geschlechtsidentitätsproblem, ebd. S.147) benützt werden kann. Es geht also auch – wieder mit umgekehrter Blickrichtung – um die Frage, ob nicht jede Kultur mit den gleichen Konflikten zu tun hat, aber nur unterschiedlich damit umgeht und um die Frage einer nicht nur kultursensiblen, sondern sogar kulturspezifischen Behandlung. Freud selbst sagt, er „habe Leuten helfen können, mit denen mich keinerlei Gemeinsamkeit der Rasse, Erziehung, sozialer Stellung und Weltanschauung verband, ohne sie in ihrer Eigenart zu stören“ (Freud 1919a, S. 190).

Dieses Spannungsfeld gesellschaftlicher Identitäten und ubiquitären individuellen Konflikten macht ein Arbeiten mit dem (Nicht-)Ich, am Fremden und im Da-Zwischen nötig.

3. Die Bedeutung des potentiellen, intermediären (Zwischen-)Raums

Es wird vielfältig beschrieben, dass es beim Übergang von einer Heimat zu einer anderen zu Störungen von Übergangs-Phänomenen bzw. dem Zusammenbruch von Übergangs-Objekten oder des Übergangs-Raumes kommen kann. Möglicherweise kann dies für Außenstehende etwas kryptisch klingen. Leider können an dieser Stelle hierzu nur Stichworte angeführt werden. Ein Übergangsobjekt, so Winnicott (1989) ist:

 explizit kein inneres Objekt,

 anzusiedeln an der Schwelle eines Übergangs zwischen dem Erleben, mit der Mutter verschmolzen zu sein und dem Gewahrwerden der Mutter als getrenntem Objekt. Es kommt dabei zur „Abtrennung des Ichs vom Nicht-Ich“ und dieses stellt den ersten (Nicht-Ich) Besitz dar (Winnicott 1989, S. 10ff/14). [4]

Übergangsphänomene, die sich aus den Übergangsobjekten ergeben können, „gehören in den Bereich der Illusion, die den Anfang jeder Erfahrung bildet.“ (Winnicott 1989, S. 24). Sie sind wesentliche Voraussetzung für sinnhafte »Lebendigkeit« und »Kreativität« im Selbst.

Bezogen auf das Tagungsthema sollen drei Aspekte nochmals explizit hervorgehoben werden:

 die schon anfänglich genannte Illusion, die mit dem selbständigen Auffinden der neuen Heimat (wie der Umwelt-Mutter) verbunden ist, die gleichzeitig eine Abpufferung gegen eine vorgegebene harte Realität ermöglicht, worauf besonders A. Leszczynska-Koenen (2009) hinweist.

Dabei entsteht in der Entwicklung:

 ein intermediärer Bereich, ein Dazwischen.

Dies ermöglicht es wiederum:

 ein Kontinuitätserleben am Leben zu erhalten, weil eine totale Trennung dadurch vermieden wird, und weil der potentielle Raum mit dem kreativen Spiel, mit Symbol und dem, was allmählich das kulturelle Erleben ausmacht, erfüllt wird. (vgl. Winnicott 1989, S. 127) Dies stellt zudem einen Schutz gegen depressive Ängste dar.

Im ethnopsychoanalytischen Bereich wird dies aufgegriffen in der Begrifflichkeit des Interkulturellen Entwicklungsraumes (H. Utari-Witt 2005) oder des Transkulturellen Übergangsraumes (T. Özbek et al 2006). Beim Übertritt von einer Heimat zur anderen droht der Verlust der Beziehung zum Verwandlungs-Objekt (C. Bollas 1997, S. 36f) und der Übergangsobjekte. Je abrupter dieser Übertritt erfahren wird, umso größer ist die Gefahr eines Kultur-Schocks. [5] Es droht die Fragmentierung des inneren Kontinuitätserlebens, des kohärenten Identitätsgefühls. Dies fällt umso stärker aus, je ohnmächtiger der Migrationsprozess verlief und wie verletzt und gekränkt die Persönlichkeit des betroffenen Migranten ist. Das Thema ist also psychoanalytisch auch anzusiedeln zwischen einem aktual-neurotischen und einem psychogenetisch orientierten Pol.

Der Übergang wird umso schwieriger, wenn keine Trauerarbeit [6] geleistet werden kann, sondern der Verlust ein abruptes Abreißen bedeutet. Häufig wird dies mit Verbindungs­objekten zu überbrücken versucht – ein Begriff von Vamik Volkan (2002, S. 186 ff). Verbindungsobjekte sind und funktionieren aber im Gegensatz zu Übergangsobjekten auf einer symbolischen Ebene. Bedeutsame Gegenstände aus der alten Heimat, wie Geschirr, Schmuck, Bilder u.ä. verweisen ähnlich wie Reliquien ständig in der neuen auf die alte Umgebung. Auch von dieser Unfähigkeit zu trauern wird auf dieser Tagung zu hören sein. Dies schließt zugleich den Kreis zur letzten Tagung der DPG in Stuttgart 2007 mit dem Thema: Über die (Un)Möglichkeit zu trauern.

Elisabeth Bronfen hat 1996 in ihrem Vorwort zur Neuausgabe von Karl Jaspers „Heimweh und Verbrechen“ auf die „doppelte Mahnung“ der Heimweh-Erfahrungen hingewiesen: „Sie lassen uns nicht nur erfahren, wie der Verlust von Heimat ganz plötzlich und unerwartet Gewalt und Verbrechen hervorrufen kann. Sie drängen uns auch die Erkenntnis auf, dass einer zur Plombe erstarrten Vorstellung von Heimat der Ausbruch von Gewalt immer eingeschrieben ist“ (Bronfen 1996, S. 25). Viele Autoren betonen das ebenfalls: Ein Ankommen in einem neuen Land und die Wiederbelebung der abgerissenen Kontinuität bedürfen auch des resonanten Anderen, der Empathie der Anderen in einer Reverie ob dem/den Kommenden. Stellvertretend für andere sei nochmals den Überlegungen von A. Leszczynska-Koenen (2009, S.1146f) gefolgt, die eine Perspektive einfordert, die ein Leben jenseits bruchloser Kontinuitäten zulässt, die nicht eine Anpas­sung an eine als starr wahrgenommene Realität etwa einer ‚Leitkultur‘ erzwingt, sondern einen krea­tiven Akt der Neuerschaffung von Übergangs- und neuen Lebens-Räumen ermöglicht.