Glasglockenleben

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Zu meiner zusätzlichen Entschuldigung kann ich anführen, dass ich in den ganzen letzten Jahren noch viel weiter weg gewohnt habe als Arthur und Susanne. Arthur hat jedenfalls mehrfach betont, dass sie sich lange überlegt haben, bei uns anzurufen, es aber letztlich Susanne gewesen sei, die nun darauf bestanden hatte. »Wir wollen uns nicht einmischen, aber …« Das Anliegen war ganz simpel, und Arthurs Worte bestätigten mein seit einigen Wochen aufkeimendes ungutes Gefühl. »Deine Eltern lassen sich von niemandem in die Karten schauen«, hat Arthur erklärt, »sie behaupten stets, es sei alles in Ordnung und sie kämen klar.«

Exakt diese Antworten erhielt auch ich immer wieder bei meinen sonntäglichen Anrufen bei Rosi und Friedrich. »Es geht langsamer, aber wir kommen klar. Alles geht so seinen Gang.«

Ich war mir immer unsicherer geworden, ob ich das glauben sollte. Da ich mich aber permanent mehrere hundert Kilometer von den beiden entfernt aufhielt, fehlten mir die Alternativen und der Handlungsspielraum. Ich musste die Beteuerungen glauben und fing dennoch an, mich zu fragen, wie lange es wohl mit Rosi und Friedrich gutgehen würde.

Arthur und Susanne hatten an jenem Abend per Telefon längst ihre Haltung dazu eingenommen. »Gar nicht. Es geht so nicht weiter. Du musst versuchen, da mal hinter die Kulissen und nach dem Rechten zu schauen.«

Das war’s damals. Ich weiß es noch sehr gut. Mir ist der Appetit endgültig vergangen, leckeres Steak hin oder her. Die erahnten leichten Quellwolken am Horizont haben sich nun endgültig in aufziehende Gewitterwolken verwandelt.

Der Anruf war das letzte Tröpfchen in dem fast überlaufenden Wasserfass. Es war nun keine Wunschveranstaltung mehr, ob ich mich wieder intensiver mit Friedrich und Rosi auseinandersetzen wollte oder nicht. Ich hatte gehofft, dass ich meine Pflicht und Schuldigkeit mit meinen Telefonanrufen jeden Sonntag getan habe. Ich habe gehofft, dass es wenigstens noch eine Weile so weitergehen könne.

In welcher Verantwortung war ich nun im Generationenwechsel erzogen worden? War ich nun die, die sich irgendwann mit der Umkehrung der Verantwortung beschäftigen musste? Erst sind die Eltern verantwortlich für die Kinder, und wenn die Eltern alt geworden sind, dreht sich das um? Das ist urgeschichtlich der Zweck, aber warum ich, die nicht so ganz die Verantwortung der Eltern mir gegenüber hatte genießen können?

Wahnsinn, Jens hat bei Rosi und Friedrich gewohnt, bis er 30 Jahre alt war, Dagmar genießt bis heute finanzielle Unterstützung von meinen Eltern. Und ich soll mich jetzt kümmern? Irgendwie nicht gerade plausibel für mich. Trotzdem brach damals mein Glasglockenleben zusammen.

Plausibel oder nicht, ich habe Anstand in mir. Ich kann es ab jetzt – vor allem nach Friedrichs OP – nicht mehr einfach so laufen lassen und bin mir durchaus bewusst, dass meine Geschwister Dagmar und Jens von so einer Erkenntnis weit entfernt sind. Sie leben noch in Wolkenkuckucksheim, wo es immer so weitergehen wird. Eltern zuständig für Kinder, nicht Kinder zuständig für Eltern. Sie hatten die Umkehrung noch nicht begriffen.

Wie spannend ist für mich eigentlich der Zufall, dass ich ausgerechnet zu dieser Zeit mein Nomadenleben im Ausland für die Beratungsgesellschaft aufgeben werde und wieder eine feste örtlich gebundene Anstellung in Deutschland annehme? Denn das ist wirklich Zufall und keinesfalls in den elterlichen Ereignissen begründet. Wäre ich weiterhin in Zürich, Lyon oder sonst irgendwo unterwegs, bräuchte ich nicht eine einzige Sekunde darüber nachzudenken, bei Rosi und Friedrich persönlich nach dem Rechten sehen zu können. Die Strecken wären viel zu weit, und auch ein Wochenende hat nur eine begrenzte Stundenzahl.

Trotzdem wird es für mich auch in Zukunft Fakt bleiben, dass ich ein Pendlerleben habe und sehr wohl überlegen muss, was ich in Zukunft an welchem Ort bewerkstelligen kann. Könnte. Aber von Deutschland aus habe ich kürzere Strecken und kann damit erträglicher zu manchen Ausflügen nach Norddeutschland starten, um bei Rosi und Friedrich mal hinter die Kulissen zu schauen. Theoretisch. Wenn ich will, und wenn sie mich lassen.

Ich schlage kurz verärgert mit der rechten Hand auf das Lenkrad meines Autos, das am wenigsten für meine Verärgerung kann. Ich habe wirklich keinen Bock, mich in meine Kindheit zurückkatapultieren zu lassen, und habe trotzdem die Verpflichtung, mich nun um meine Eltern zu kümmern. Wenn sie wollen. Hoffentlich sperren sie sich … Und da sind sie wieder: Engelchen und Teufelchen, meine Kindheitskumpel. Statt meinen Kummer in ein Tagebuch zu schreiben, erfand ich damals das Engelchen und das Teufelchen. Die beiden saßen immer auf meiner Schulter. Wenn Rosi mit mir schimpfte, war es meistens Teufelchen, der meine Rebellion gegen Rosi unterstützte und Engelchen immer erst sehr viel später zu Wort kommen ließ. Mal sehen, wie sie sich in meinem Erwachsenenleben, viele Jahrzehnte später, verhalten werden.

Eine Spinne seilt sich von meinem Autohimmel ab. Ich finde Spinnen eklig, aber sie lassen mich nicht in Panik ausbrechen. Ich fahre das Seitenfenster nach unten und werfe die Spinne einfach raus. Mir bläst sofort wieder die Februarkälte ins Gesicht. Es ist neun Uhr, als ich in Zürich einrolle und mal wieder feststelle, dass Zürichs Straßen gar nicht so voll sind wie zum Beispiel die Straßen von Basel. Basel ist irgendwie immer verstopft. In Zürich ist es herrlich leer auf den Straßen. Genaugenommen ist das so, weil du zwar fahren kannst, aber parken unbezahlbar teuer ist. Deshalb nehmen alle die Öffis. Öffentliche Verkehrsmittel. Die Parkmöglichkeiten bestehen fast ausschließlich aus Parkhäusern, und die sind sauteuer. Wenn ich für 25 Franken pro Tag mein Auto abstelle, sind das 125 Franken pro Woche. Rund 500 Franken pro Monat. Ich war froh, als ich entdeckt habe, dass das Hotel meiner Wahl Einstellplätze in der Tiefgarage vermietete. 130 Franken pro Monat, 4-wöchige Kündigungsfrist. Ich habe keinen festen Platz bekommen, sondern muss mir einen freien Platz suchen, in der Hoffnung, dass die Garage noch nicht voll ist.

Heute ist sie voll. Die Schweiz ist ein kleines Land, und Platz ist Mangelware.

Die Parkhäuser sind also sehr eng, doch nach einigem Suchen sehe ich dann doch noch eine Lücke. Ich schlängele mich mühsam an den Pfeilern vorbei auf den freien Platz. Erleichtert atme ich auf. Die Spiegel sind noch dran, kein Kratzer. Aber leider habe ich mich zu früh gefreut; der Pfeiler ist direkt neben meiner Fahrertür und viel zu dicht, um dort aussteigen zu können. Jetzt weiß ich, warum diese Parklücke als letzte noch frei war.

Über die Heckklappe kann ich nicht krabbeln, da in meinem Kofferraum nicht nur der Koffer für die Woche ist, sondern auch ein halber Lebensmittelladen und ein halber Hausstand. Bei meinem heutigen Glück würde ich mir während des Krabbelns die Hose zerreißen oder mir die Hacken brechen. Es macht sich sicherlich nicht gut, den Krankenwagen rufen zu müssen, weil ich beim Klettern über Bierdosen, Chipstüten, Jacken, Schuhe und einem Wasserkocher steckengeblieben bin.

Ich bin jedes Mal von Neuem froh, beim Grenzübergang nicht angehalten zu werden und in Erklärungsnot zu geraten, warum ich jetzt unbedingt Chipstüten mitnehmen muss. Die Lebensmittel in der Schweiz sind erheblich teurer, und da ich doch eh mit dem Auto fahre, kann ich die deutschen Lebensmittel einfach mitnehmen.

In grenznahen Städten wie Basel bricht jeden Samstag der wahre Shopping-Tourismus aus, wo alle Schweizer die Grenze Richtung Deutschland passieren, um ihre Autos randvoll mit deutschen Lebensmitteln zu stopfen. Ziel: die Discounter-Ketten.

Frustriert werfe ich einen Blick Richtung Heck meines Kombis und ziehe die Schuhe aus. Sie fliegen vorab in den Kofferraum. Das Gleiche geschieht mit der Winterjacke. Es ist fast leicht, bis zur Rücksitzbank zu kommen – im Vergleich zu dem Rest. Man reiße kurz die Kopfstützen der Sitzbank aus der Verankerung und sei froh, ein dünner Mensch zu sein. Nach dem Knistern zu beurteilen habe ich wohl die Chipstüte getroffen, deren Inhalt sich in Krümel aufgelöst hat, aber wenigstens nicht geplatzt ist.

Endlich stehe ich trotz widriger Umstände unversehrt auf dem Betonboden der Tiefgarage und klopfe missmutig meinen Hosenanzug ab. Nun wieder die dicke Wellensteyn-Jacke über alles zu pellen verbessert meine Laune keineswegs. Ich bin absolut kein Wintermensch und – von der Kälte mal ganz abgesehen – hasse ich nichts mehr als dieses ewige Ein- und Auspellen der dicken Klamotten.

Seufzend wuchte ich den Samsonite-Rollkoffer mit meinem Laptop aus dem Auto. Los geht’s! Mit einem tiefen Luftholen verwandele ich mich von einem fluchenden Bierkutscher in eine von vielen auffällig unauffälligen Business-Tanten, die mit hochhackigen Schuhen zur Arbeit hetzen.

Dr. Despot ist der Größte

Der Fußmarsch vom Hotel zum Projektgebäude beträgt ungefähr drei Kilometer, die a) in hochhackigen Schuhen nerven und b) bei Regen zur Tortur werden.

Heute regnet es nicht. Das Projektgebäude der Schweizer Bank taucht vor mir auf, und ich frage mich unweigerlich, wie oft ich hier noch in diesem unmöglichen engen Drehkreuz im Zugang zum Projektgebäude hängen bleiben werde. Trotz meiner Rückenschmerzen muss ich den Rollkoffer wieder irgendwie hier durchwuchten. Wenn ich draußen stehe, um während einer Pause eine zu rauchen, kann ich ab und zu beobachten, wie Menschen sogar Kabinenkoffer hier durchschieben wollen und elendiglich im Drehkreuz scheitern.

Als ich mich durch das Drehkreuz gekämpft habe, sehe ich die meisten Projektmitglieder schon im Projektraum sitzen. Viele haben eine kurze Anreise vom Bodensee, aus Basel oder Lörrach. Zürich. Andere wiederum haben eine noch weitere Anreise als ich. Die kommen am Montag später – so wie ich.

 

Es überrascht mich nicht sehr, die Stimmung ist mal wieder zum Schneiden dick. Im Zimmer sitzen nur meine Kolleginnen und Kollegen, kein Mitarbeiter unseres Kunden. Also gibt es keinen Grund, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und dem Kunden gegenüber eine zuversichtliche gute Laune vorzuspielen. Noch dazu ist es Montag, und vor uns allen liegt eine lange Arbeitswoche.

Der despotische Projektleiter Bernhard ist glücklicherweise nicht im Raum, aber wahrscheinlich hat er den Kollegen schon wieder mit dem allmorgendlichen Team-Meeting um acht Uhr den Tag versaut. Bernhard ist es egal, ob jemand lange Anreisezeiten hat. Er wohnt direkt in Zürich, und so besteht er darauf, jeden Morgen um acht Uhr ein internes Team-Meeting abzuhalten – so auch montags. Er macht jeden Montag ein Riesentheater, wenn wir weiter entfernt Wohnenden erst gegen zehn Uhr oder manche sogar noch später eintrudeln. »Dann reist du eben am Sonntagabend schon an!«, hat Bernhard mich mal angebrüllt.

»Nein, Bernhard. Erstens ist das Wochenende meine Freizeit, und zweitens würde eine zusätzliche Hotelübernachtung pro Woche das Projekt verteuern.«

Das mit dem Budget ist sein wunder Punkt. Bernhard hockt auf seinem Budget, als ob es seine persönliche Geldtasche wäre. Wir wissen alle, warum er das tut. Das erfolgreiche Umsetzen dieses strategisch wichtigen Projektes wird ihm den Weg ebnen, endlich den nächsten Karriereschritt zu tun und Partner zu werden. Das ist eine wichtige Position in all den Beratungsfirmen. Dafür muss dieses Projekt aber »finished in time, of best quality, and in line with the budget« sein.

Im Leben nicht. Verarschen können wir uns alle alleine.

Bernhard würde dafür sicher über Leichen gehen. Und er glaubt vermutlich allen Ernstes, er würde das Team zu Höchstleistungen bringen, wenn er uns jeden Morgen um acht Uhr anschnauzt, wie schlecht wir doch arbeiten würden, und dass wir in den nächsten drei Wochen noch 1.600 technische und funktionale Spezifikationen zu schreiben haben.

Der Kollege rechts neben mir hat dazu letzte Woche mit mir getuschelt. »Rechne mal«, raunte er mir zu, »wir sind zwanzig Leute. 1.600 Spezifikationen geteilt durch zwanzig Personen geteilt durch fünfzehn Arbeitstage sind über fünf Spezifikationen pro Person pro Tag. Der Typ ist ja der Knaller. Für eine einzige belastbare Spezifikation brauche ich je nach Komplexität schon drei bis fünf Tage.«

Wahrscheinlich glaubt Bernhard als Einziger an seine Worte. Der Rest des Teams empfindet ihn einfach nur als lächerlich. Aber er schwingt so fleißig weiter seine verbale Peitsche, dass ich ihn irgendwann Dr. Despot getauft habe.

Dr. Despot bemerkte natürlich unser Getuschel und hat seine geballte rechte Faust vor sich auf den Tisch gehauen. »Ihr werdet das Ziel erreichen, und mir ist es scheißegal, ob ihr dafür jeden Tag zwölf Stunden arbeiten müsst!«

Armer, armer Bernhard. Das ist illegal, und das Sklaventum wurde vor vielen Jahren bereits abgeschafft.

Nachdem ich wie üblich das Montagsmeeting verpasst habe, geht am Dienstag sehr, sehr zuverlässig die gleiche Litanei los. Dr. Despot wiederholt wutschnaubend, dass es ihm egal ist, wenn wir zwölf Stunden arbeiten müssen.

Ich gähne leise. Wenn das mit den zwölf Stunden die Erwartungshaltung ist, gehe ich doch erst einmal eine rauchen.

Der Kollege neben mir raucht zwar nicht, aber er folgt mir durch das Drehkreuz nach draußen. Er ist verärgert und möchte sich Luft machen: »Die Projekte laufen immer beschissener.« Der Kollege ist im Gegensatz zu mir schon über zehn Jahre im Projektgeschäft und weiß, wovon er redet.

Früher habe ich als Kunde auf der anderen Seite gesessen und mir die Berater – zu denen ich zumindest im Moment auch gehöre – ins Haus geholt. Als Kunde habe ich natürlich auch immer versucht, den Projektpreis zu drücken. Nicht selten kam dann auf PowerPoint ein Angebot zustande, was hinsichtlich der Kosten, der Zeit und der Qualität utopisch war. Ausbaden mussten das dann immer die, die tatsächlich in die konkrete Umsetzung gingen. So wie ich jetzt hier auch. Mit einem despotischen, karrieregeilen Projektleiter.

Die großen Beratungshäuser graben sich gegenseitig das Wasser ab und versuchen, Marktanteile zu halten, indem sie sich immer weiter gegenseitig unterbieten. Dann kommt das Krisenmanagement, weil das Projekt eigentlich schon auf Rot steht, bevor es überhaupt begonnen hat. Der Druck wird immer härter und bringt den Kollegen dazu, von den guten alten Zeiten zu träumen. »Ich erwäge, interner Berater zu werden. Es macht hier keinen Spaß mehr mit so durchgeknallten Projektleitern wie Bernhard.«

Wir starren beide nebeneinanderstehend auf das Gebäude der gegenüberliegenden Straßenseite, welches, seit wir hier sind, minutiös in seine Bestandteile zerlegt wird. So ist das in der Schweiz. Während wir Deutschen schnell mit der Abrissbirne alles klein schlagen, sortiert der Schweizer vorher feinsäuberlich alle wiederverwendbaren Materialien aus.

»Guck doch mal diesen Vollidioten an!«

Damit ist wohl Dr. Despot gemeint. Ich muss lachen.

»Weißt du, Anja, eigentlich ist es ganz simpel. Wenn mein Boss mir morgens um acht Uhr ›Hey, ich habe hier eine Aufgabe für dich, die du bis heute Abend um achtzehn Uhr schaffen musst‹ sagt, dann schaue ich mir die Aufgabe an und überlege, ob ich sie schaffen kann. Ich stelle fest, dass ich sie mit Anstrengung bis zwanzig Uhr schaffen kann. Also bleibe ich bis zwanzig Uhr und habe die Aufgabe geschafft. Aber wenn mir mein Chef morgens um acht Uhr sagt, ich habe Zeit, um bis am Abend um zwanzig Uhr ein Haus zu bauen, und es ist gerade mal der Grundstein gelegt, nun, dann brauche ich mir die Zielerreichung gar nicht erst einzuplanen und gehe schon um siebzehn Uhr nach Hause.«

Im Gegensatz zu meinem Kollegen werde ich den Spinner Bernhard in wenigen Wochen los sein und ihn hoffentlich nie wieder zu Gesicht bekommen. Ich mustere meinen Kollegen kurz und entscheide, dass ich ihm vertrauen kann.

»Bernhard weiß es noch nicht, aber ich werde das Projekt wieder verlassen.«

Der Kollege sieht mich überrascht an, denn ich tue, was er gerade geträumt hat. »Ja. Ich kehre nach Deutschland zurück und verlasse sogar diese Firma.«

Nun lacht er. »Das ist ja ein Ding! Das geschieht Bernhard ganz recht.«

Dr. Despot alias Bernhard hat sich damals echt Mühe gegeben, mich für dieses Projekt zu gewinnen. Als ich dann das erste Mal in der Schweiz auftauchte, habe ich seinen enttäuschten Blick gesehen. Vermutlich war ich ihm zu alt und zu groß.

Als Luana aus Litauen zu uns ins Projekt gestoßen ist, haben sogar die männlichen Kollegen abfällige Bemerkungen darüber gemacht, wie Bernhard gesabbert hat. Luana ist Mitte dreißig.

Ich bin nicht erst seit gestern auf der Welt und habe schon die Erfahrung machen können, wie manche kleinen Männer wie Bernhard auf größere Frauen reagieren. Der kleine Bernhard wurde umso grantiger, je höher meine Absätze waren, und je mehr ich ihn damit überragte. Das Ergebnis war jedenfalls, dass mir niemand wirklich beim Onboarding in der Schweiz geholfen hat. Die Anforderung des polizeilichen Führungszeugnisses für die Schweizer Bank war mir bekannt, sonst hätte ich dort gar nicht erst in deren Räumen auftauchen dürfen. Aber bei dem Drama mit der Einholung der Aufenthaltserlaubnis in der Schweiz haben sie mich hängen lassen – obwohl sie das schon so oft bei Kollegen unterstützt haben. Ich musste mich selbst zurechtfinden. Auch das wiegt schwer auf der Negativseite von Bernhards Sympathie-Konto.

Mein Kollege und ich gehen wieder zurück ins Projektgebäude und laufen ausgerechnet Dr. Despot über den Weg. Der Kollege wirft mir einen verschwörerischen Blick zu und hat es plötzlich sehr eilig, in einen der Besprechungsräume zu kommen. Komisch – alle haben es immer ziemlich eilig, wenn sie Despötchen sehen.

Ich beschleunige keineswegs meinen Schritt und werde damit vorhersehbar zu Bernhards Opfer. »Ich muss mit dir reden!«, fordert er und nickt mit dem Kopf in Richtung des großen Besprechungsraums, den er sehr oft okkupiert.

Das Nicken bedeutet in jeder Landessprache, dass ich ihm wohl folgen soll. Prima, dass ich heute Morgen auch wieder hohe Schuhe gewählt habe, und prima, dass ich auch mit ihm reden muss.

Bernhard marschiert wie ein aufgeblasener Gockel voran. Ich tue ihm den Gefallen und folge ihm. Eine passende Gelegenheit mit spannendem Ausgang. Er setzt sich bequem auf einen der Stühle um den Tisch herum und deutet großzügig auf einen der weiteren Stühle.

Ich suche meinen Platz auf einem anderen Stuhl als den, auf den er gezeigt hat. Bernhard scheint das zu registrieren. Seine Halsschlagader fängt jedenfalls an, mal wieder zu zucken. Bernhard ist jemand, der zumindest versucht, Menschen zu manipulieren. Ich muss innerlich schmunzeln.

Bernhard mustert mich und sucht dann den direkten Augenkontakt. Seine rechte Hand bewegt mechanisch klopfend den Kugelschreiber auf dem Tisch. Auf und ab – klack, klack. »Ich würde dir gerne ein Feedback geben. Vielleicht kannst du ja für die Zukunft daraus lernen.«

Und da sind sie wieder, die Kindheitskumpel … »Hau ihm eine rein!«, rät mir Teufelchen.

Bernhard Despot war schon immer leicht zu durchschauen. Er versucht, Qualifikationen von Personen niederzumachen, wenn die Personen nicht nach seiner Pfeife tanzen. Blöd ist in meinem Fall für ihn, dass ich Fans auf Seiten des Kunden habe, und Bernhard mich nicht so einfach loswerden kann, wie er will. Die Nummer läuft hier nicht nach seinem Kommando. »Deine geschriebenen Spezifikationen müssen allesamt überarbeitet werden«, höre ich Bernhard gerade, »sie sind allesamt falsch.«

Alle meine Dokumente sind durch die Qualitätsprüfung gegangen und signiert worden. Niemand außer Bernhard sagt dazu falsch. Was für ein Tag! Ich lehne mich zurück und unterbreche Bernhard: »Bernhard, wenn du fertig bist, würde ich auch gerne etwas sagen.«

Bernhard wirft die ausgedruckten Spezifikationen vor mich auf den Tisch.

Ich lächele. »Du wolltest mir ein Feedback geben, damit ich dazulernen kann. Das würde ich gerne hören.«

Bernhard schweigt verdutzt.

Ich räuspere mich. »Ach, Bernhard, was ich dir noch sagen möchte: Ich verlasse Ende März dieses Projekt und habe die zweite Märzhälfte Urlaub. Ich bin also nicht mehr so lange hier.« Damit ist der Spieß umgedreht, und eigentlich müsste Bernhard sich ja freuen, dass er mich endlich loswird. Da dann jedoch meine Arbeitskraft fehlen wird, kann er es nicht. Ich verkneife mir ein Grinsen und verlasse den Raum.

Dazu kommt, dass ich ab jetzt darauf achten werde, nicht mehr allzu spät Feierabend zu machen. Nachdenklich schaue ich kurz aus dem Fenster und habe das Gespräch mit Dr. Despot schon so gut wie vergessen.

Gestern hat Rosi den ganzen Nachmittag und Abend nicht auf meinem Smartphone durchgeklingelt, und ich habe es als gutes Zeichen gewertet. Wenn etwas bei Friedrichs Operation schiefgegangen wäre, hätte sie garantiert angerufen.

Ich seufze leise. Heute Abend werde ich bei Rosi durchklingeln, sobald ich im Hotel bin. Ein perfekter Grund, um mich tatsächlich bereits um 18.30 Uhr mit dem Rollkoffer durch das unsägliche Drehkreuz zu quälen und den Weg zum Hotel anzutreten.

Auch heute biege ich ein paar Meter weiter wie so oft zuerst in den kleinen Laden an der Ecke ab. Mein Chipstüten-Nahrungsmitteltransport aus Deutschland in allen Ehren, aber irgendetwas Frisches benötige ich dann schon noch. Heute entscheide ich mich für einen körnigen Frischkäse und ein paar kernlose Weintrauben. Im Gegensatz zum allerersten Einkauf nehme ich diesmal das »Sacle« gerne an. Ich hatte damals verwirrt »Hä? Nein!« von mir gegeben, und die Schweizer haben mir lachend und geduldig erklärt, dass eine Tüte hier Sacle heißt. So, wie eine Brücke hier Viadukt heißt und Fahrrad Velo.

Ungefähr auf halber Strecke zwischen Projektgebäude und Hotel rolle ich an einem großen Stadion vorbei. Zumindest abends auf dem Rückweg meistens ein Lichtblick, da ich dann denke: Endlich! Bald ist es geschafft, und ich mache es mir im Hotel gemütlich! Sofern man es da gemütlich nennen kann.

Besonders im Sommer wird dieser Lichtblick etwas getrübt. Ein Stadion wäre kein Stadion, wenn dort nicht ab und zu Veranstaltungen stattfinden würden. Dann stehen die Menschenmassen bis weit auf die Straße auf den Bürgersteigen herum, in Gruppen, in Schlangen, mit Bierdosen, ohne Bierdosen. Das Fußgänger- und Verkehrschaos ist jedes Mal perfekt.

 

Das Stadion befindet sich auf der gleichen Straßenseite wie mein Hotel. Die Straße ist sehr breit und mit Absperrungen in der Mitte nicht überquerbar, sodass ich den Menschenmassen nicht aus dem Weg gehen kann. Erst viel weiter hinten am Fußgängerkreisel komme ich hinüber, ein ziemlicher Umweg. An solchen Tagen rolle ich mit meinem Rollköfferchen im Zickzack durch diese Massen und sehe bestimmt sehr skurril aus mit meinen Büroklamotten zwischen all den Polizisten und Freizeitlern in groben Stiefeln, Jeans und interessanten Fan-Jacken. Aber in dieser Jahreszeit ist hier sprichwörtlich tote Hose, dafür laufe ich aber oft genug durch kalten Wind oder sogar lästigen Regen. Geschneit hat es zum Glück nach wie vor nicht. Ich könnte anfangen zu zählen, wie oft ich hier noch entlanglaufen muss. Es ist überschaubar. Dafür muss ich aber wieder jede Menge Behördengänge zur Abmeldung aus der Schweiz auf mich nehmen. Die Projektassistentin hat angeboten, mir einiges davon abzunehmen. Das habe ich aber dankend abgelehnt, da es mit der Anmeldung und Erlangung der Arbeitserlaubnis ja schon so schlecht gelaufen ist. Jetzt weiß ich, was zu tun ist, und mache es lieber selbst. Dann weiß ich, dass es erledigt ist, und bin gewappnet, wenn Jahre später jemand auf die Idee kommt, meine Abführung der Schweizer Quellensteuer überprüfen zu wollen.

Endlich im Hotel angekommen, schüttele ich mich kurz und bin froh, dass es warm im Zimmer ist. Schnell packe ich den Frischkäse und die Weintrauben aus. Aus den Tiefen meines Koffers ziehe ich den Reisetauchsieder nebst Tütensuppen. Der Tauchsieder erinnert mich unweigerlich an Friedrich. Er hat vor einigen Jahrzehnten so ein Ding ergattert und vor Kurzem – so viele Jahrzehnte später – bin ich total erstaunt gewesen, als ich in die Internetsuchmaschine Reisetauchsieder eingegeben habe und mir sofort nagelneue Stücke angeboten wurden. So etwas gibt es also noch. Und so habe ich einen gekauft.

Es ist neunzehn Uhr. Jetzt muss ich erst einmal Rosi anrufen. Für Rosis Verhältnisse ist das schon über ihre Schlafengehzeit hinaus. Je älter Rosi und Friedrich werden, desto mehr entsprechen sie dem Klischee der senilen Bettflucht. Sie stehen um fünf Uhr morgens auf und gehen dafür aber schon um neunzehn Uhr ins Bett.

Rosi ist so schnell am Telefon, dass sie wahrscheinlich schon auf mein Klingeln gelauert hat, um endlich ins Bett gehen zu können. »Da bist du ja endlich, Kind!«

Mit fast 50 Jahren bin ich, wie jeder andere Mensch auch, immer noch das Kind meiner Eltern und werde es wohl auch immer bleiben. »Hallo, Rosi! Ja, ich bin eben in meiner Bleibe angekommen.« Eine andere Bezeichnung habe ich für das Hotelzimmer nicht.

Rosi: »Aber es ist doch schon nach neunzehn Uhr!«

Engelchen: »Bleib ruhig. Du kannst ihr noch weitere 100-mal erklären, dass du nicht schon um siebzehn Uhr Feierabend hast; obwohl du ja heute tatsächlich schon um 18:30 Uhr abgehauen bist.«

Die Frage ist wichtig: »Wie geht es Friedrich? Und wie geht es dir?«

»Die Ärzte haben gesagt, Friedrich hat die OP erstaunlich gut überstanden. Aber er wird noch im Krankenhaus bleiben und danach in der Reha wieder gehen lernen müssen.«

Mit fast 85 Jahren. Das nenne ich mal Ziele. Auch Treppenstufen erklimmen? Warum stelle ich mir eigentlich erst jetzt diese Frage? Habe auch ich gedacht, Friedrich bekommt die neue Hüfte, und dann geht alles munter weiter?

Vor meinem geistigen Auge taucht das Haus meiner Kindheit in Braunschweig auf. Wenig Grundfläche, dafür aber in die Höhe gebaut mit steilen, engen Treppen. Vielleicht wird Friedrich es ja bis ins Schlafzimmer im ersten Stock schaffen, aber ins Dachgeschoss zu den ehemaligen Mädchenzimmern von Dagmar und mir sicher nicht. Das wäre noch lebensgefährlicher als bis in den ersten Stock. Am besten wäre es, wenn Rosi und Friedrich in eine ebenerdige Behausung ziehen würden, in einen Bungalow. Natürlich kann ich dieses Thema nochmals auf den Tisch bringen, aber diese Diskussionen hatten wir früher schon, und Friedrich hat ziemlich allergisch darauf reagiert. »Einen alten Baum verpflanzt man nicht!«, hat er gewütet und sich geweigert, weiter darüber zu sprechen.

Ich kann das verstehen, denn Rosi und Friedrich hängen an dem Haus, und beide würden sich von keinem einzigen Gegenstand dort trennen wollen. Auch wenn das letzte Hemd keine Taschen hat.

Michael und ich würden uns ja auch jetzt schon nur sehr ungern von unserem Haus in Kaiserslautern trennen. Aber dass Friedrich weiterhin zu Fuß die Treppen rauf- und runterkraxelt, ist undenkbar. Könnte da vielleicht zumindest für den ersten Stock ein Treppenlift helfen?

Ich nehme all meinen Mut zusammen, denn ich weiß nicht, wie meine Mutter reagieren wird, und frage: »Rosi? Du weißt doch, ich beginne am ersten April, wieder in Deutschland in der Nähe von Frankfurt zu arbeiten. Ich habe noch Resturlaub im März, und ich könnte Ende März eine Woche zu dir kommen, damit wir gemeinsam überlegen können, was wir für Friedrichs Rückkehr benötigen.«

Zu meiner Überraschung erscheint Rosi erleichtert und stimmt sofort zu. Dann lacht sie sogar (obwohl es ein bitteres Lachen zu sein scheint). »Es ist so paradox«, sagt sie nach ihrem Lachen. »An dem Tag, als Friedrichs Oberschenkelhalsbruch passiert sein muss, waren wir zu einem Sanitätshaus unterwegs, um uns einen Rollstuhl für Friedrich zu besorgen. An der Bordsteinkante ist Friedrich dann gestürzt, und den Rollstuhl haben wir trotzdem nicht bekommen, weil die Versicherung nicht mit diesem Sanitätshaus zusammenarbeitet. Man lernt ja dazu.«

Den Oberschenkelhalsbruch von damals haben die Ärzte erst entdeckt, als Friedrich erneut gestürzt ist. Teufelchen: »Das bedeutet doch aber, dass Friedrich in letzter Zeit mehrfach gestürzt ist. Hast du das gewusst?«

Nein, das habe ich nicht gewusst. Bei Rosi und Friedrich war ja telefonisch aus der Ferne für mich immer »alles in Ordnung«.

Nicht überraschend habe ich nach diesem Telefonat nicht mehr wirklich Lust, mir eine Tütensuppe anzurühren. Die Suppen sind wärmend, haben aber einen fürchterlich chemischen Geschmack.

Alternativ löffele ich genauso lustlos den körnigen Frischkäse mit (mitgebrachtem) Salz und Pfeffer und reiße mir eine (mitgebrachte) Bierdose auf. Das Bier ist natürlich zimmerwarm. Ich seufze. Meine Hotel-Routine ist genauso wie zu Hause: Sobald ich die Tür hinter mir zuziehe, fliegen die unbequemen Schuhe von den Füßen, und die Anzughose wird gegen eine bequeme Hose getauscht. Mangels Alternativen ist die bequeme Hose im Hotel immer schon die Schlafanzughose gewesen. Da ich noch nie ein Fan von Blümchen-Schlafanzügen war, sind diese Hosen einheitlich schwarz, blau oder in anderen unauffälligen Farben gehalten. Und da hat der Winter so seine Vorteile: Man ziehe seine dicke Winterjacke über dieses Schlafanzug-Outfit, und kein Mensch rafft, dass unter der Jacke eine Schlafanzughose hervorlugt.

Entschlossen knalle ich die Bierdose auf den Nachttisch und streife trotzdem eine weite Stoffhose über die Schlafanzughose. Sonst wird es zu kalt. Ich muss dringend unten im Hof eine rauchen und nachdenken.

Vermutlich falle ich unten im Hof stehend unter irgendein Vermummungsverbot, wenn ich mir so die Menschen neben mir betrachte. Ich habe in solchen Raucher-Situationen schon die interessantesten Gespräche erlebt und Geschichten von Menschen gehört. Raucher solidarisieren sich in einer Raucherecke immer sofort. Vermutlich vergleichbar mit Hundebesitzern beim Gassigehen oder mit Eltern kleiner Kinder.

Die Ecke für Raucher befindet sich im Innenhof direkt vor der Hotelbar. Das angenehm warme Licht aus der Hotelbar leuchtet durch die Fenster auf den Innenhof und wird von harmonischen Außenlaternen unterstützt. Das Lachen dringt nicht nur von drinnen nach außen, denn der Innenhof ist trotz Kälte erstaunlich voll. Und draußen sind beileibe nicht nur die, die wegen des Rauchens hier sind.