Glasglockenleben

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Als ich auflege, sehe ich neue E-Mail-Nachrichten auf meinem Display. Auf die paar Minuten kommt es jetzt auch nicht mehr an. Ich tippe mit meinem Finger auf das Postfach und sehe einfach nur, dass sich das Elend mit meinem Versuch, die 10.000 Euro Reisekosten zurückerstattet zu bekommen, weiter hinzieht. Ich könnte kotzen! So rächt es sich, dass ich in meinem Zweitdomizil keinen Internetanschluss habe. Diesen nun zum Teil 40-seitigen E-Mail-Verkehr kann ich unmöglich mit dem Handy bewältigen.

Bin ich am Wochenende nicht bei Rosi, versuche ich in Kaiserslautern weiterhin kämpferisch, an meine Kohle zu kommen. Inzwischen gibt es einige parallele E-Mail-Ketten, die sich allesamt im Kreis drehen. Mein Ex-Chef unterstützt mich wenigstens weiterhin, aber irgendwie ist es zum wahnsinnig werden. »The given personal code is not available.«

Ja. Gelöscht. Schon wieder dieser Dumm-Text. Ich versende unermüdlich meine Reisekostenforderungen an verschiedene Adressen.

»Wie konnte das passieren?«, fragt mich mein Ex-Chef.

Ich weiß es. Der egozentrische Projektleiter Bernhard hat die Genehmigungen der Abrechnungen ausgesessen. Vielleicht wollte er mir damit eins auswischen. Falls ja, so ist es ihm gelungen.

Ich schleppe dann doch irgendwann meine Einkäufe in die Mansarde und ecke erneut an der hölzernen Steige zur Küche an.

Am liebsten hätte ich die Einkaufstüten einfach fallen lassen und zugesehen, wie die Eier am Boden unter mir zerschellten und die Paprika sich selbst in kleine Stücke zerteilte. Gemischt mit dem Toastbrot.

»Wovon ernährst du dich eigentlich gerade?« Da ist Engelchen auch einmal wieder.

»Jeden Abend von zwei gekochten Eiern. Das weißt du doch.« Danke, Teufelchen.

»Ist das nicht ungesund?«, erwidert Engelchen.

Ist es auch ungesund, ein Sudoku zu lösen und das Hirn abzuschalten? Irgendetwas stimmt gerade mit meinem Leben nicht. Ich wäre ein Kandidat, der sich vermutlich gerade über die Work-Life-Balance echauffieren sollte. Das, was in meinem Leben gerade nicht stimmt, das ist die Fremdbestimmung. Es ist meine persönliche Übermüdung, in der aber jeder immer noch glaubt, Ressourcen von mir beanspruchen zu müssen. Rosi. Mein Job. Michael. Ich selbst bin weg vom Fenster. Das Einzige, was mir gehört, ist der zu kurz kommende Schlaf. Vielleicht noch meine Sudoku-Rätsel mit dem morgendlichen Kaffee.

Die Besuche bei Rosi werden offensichtlich ein fester Bestandteil meines Lebens und auch ein fester Bestandteil von Rosis Anspruchshaltung dazu. Menschen gewöhnen sich sehr schnell an etwas und denken dann, dass sie das auch weiterhin so erwarten können.

Bereits bei meinem letzten Besuch bei Rosi hat sie mir eingehend alle Diplomatenköfferchen gezeigt. Ich habe es schon gesehen, unter den Lamellen vor dem Regal hinter der Dachgeschosstreppe hat sich nicht nur das rote Köfferchen befunden – das mit dem roten Ordner für die Bankdaten. Irgendwie schien es ihr wichtig zu sein, dass ich Bescheid wusste. »Die Zahlenschlosskombinationen sind bei allen Köfferchen gleich. Die Geburtstagsdaten deines Vaters.«

Teufelchen hat gefragt: »Warum nicht die von Rosi?«

Der rote Koffer scheint der Wichtigste zu sein. Neben dem roten Ordner enthält er das Familienstammbuch und jeweils die notariell verfassten Patientenverfügungen von Friedrich und Rosi mit gegenseitiger Bevollmächtigung zu entscheiden, wann Maschinen zur künstlichen Lebensverlängerung abgeschaltet werden sollen. Michael und ich sind aus diesem Grund auch vor Jahren zu einem Notar marschiert.

»Da ist auch der Erbschein drin«, hat Rosi dann noch gesagt.

Vor sehr vielen Jahren hat Rosi erzählt, dass Friedrich und sie zu einem befreundeten Notar gegangen sind. Dr. Bernikow. Sie haben ein notariell beglaubigtes Testament aufgesetzt, und danach ist Dr. Bernikow in hohem Alter verstorben. Lange bevor sie die Patientenverfügung veranlasst haben.

Ich kann mich wohl endgültig von meinem Glasglockenleben verabschieden. Rosi sagt und zeigt mir das alles, weil sie weiß, dass das Leben endlich ist. Michael und ich haben seit einigen Jahren auf unserer Aufgabenliste, ebenfalls ein notariell beglaubigtes Testament aufzusetzen. Mit dem Begriff Erbschein verwirrt Rosi mich aber. Ich weiß nicht, was das ist. In meiner Vorstellung liegt das Testament selbst im roten Köfferchen. Dem ist aber nicht so. Ich schiebe das Thema beiseite, im festen Glauben, dass ich dieses Wissen noch lange nicht brauchen werde.

In einem der schwarzen Diplomatenköfferchen verwahrt Rosi ihre Erinnerungen an ihre Wurzeln. Rosi und Friedrich stammen noch aus der Generation, die als kleine Kinder den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben. Rosis Mutter Erna musste damals ihre fünf Kinder schnappen, als der Russe immer näherkam. Sie sind auf einem Lkw geflüchtet, der noch mit Holz befeuert werden musste. Sie haben in Ostpreußen mit wenig Gepäck Hof und Gut verlassen, dafür aber mit allem Schmuck, den sie auf die Finger ziehen konnten. Wie sie den Schmuck in Zeiten der Plündereien durchgebracht haben, hat Rosi auch nie erzählt. Den wenigen Erzählungen nach war Rosis Klunker auf ihrem Ringfinger so wertvoll, dass sie sich davon ein Auto kaufen konnten. Es war ein weißer Ford Taunus.

»Keinen Volkswagen oder so etwas wie Kraft durch Freude?« Teufelchen ätzt wie immer.

Damals gab es noch nicht so viele Autos, das war Ende der 60er Jahre. Und unter den Fahrern gab es nur wenige Frauen, die hinter dem Steuer saßen.

Ich erinnere mich an die breite Doppelgarage unten an der Mietwohnung, bevor wir in das eigene Haus gezogen sind. Friedrich ist jahrelang mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren, und Rosi hat das Automobil bewegt. Sie hat uns Kinder in den Kindergarten gefahren, zu unserem Musikunterricht, und sie hat mehrfach beim Einparken in die breite Garage den Außenspiegel abgefahren. Das muss man erst einmal schaffen; die Garage war breit wie ein Scheunentor.

Später, als wir in unserem Haus wohnten, hat Friedrich die Fahrerei übernommen, und Rosis Routine im Autofahren wurde immer schlechter. Da war ich aber schon neun Jahre alt und fuhr lieber mit dem Schulbus als mit Rosi.

In dem Köfferchen ist auch eine günstig eingebundene Blattsammlung in der Größe DIN A5, die die gedruckten Erinnerungen an Ostpreußen von Rosis Mutter Erna beinhaltet. Immerhin drei Zentimeter dick und doppelseitig bedruckt. Ich habe Rosi nicht gesagt, dass der Inhalt des Koffers leicht modrig riecht und das Papier vermutlich nach und nach zersetzt werden wird. An die Inhalte der anderen schwarzen Köfferchen konnte ich mich in dem Moment, als der Deckel wieder zugeklappt ist, nicht mehr erinnern. Viel eher geht mir immer wieder das in die Höhe gebaute und nicht altersgerechte Haus meiner Kindheit durch den Kopf. Ich sprach das Thema doch noch einmal an: »Rosi, was denkst du? Wäre es nicht besser, das Haus hier zu verkaufen und euch mit dem Erlös in eine altersgerechtere Umgebung einzukaufen?«

»Friedrich und ich möchten unseren Kindern etwas hinterlassen. Aber vielleicht hast du recht. Wenn Friedrich mal nicht mehr da ist, wird es vielleicht so sein. Ich verkaufe das Haus und kaufe mir etwas in deiner Nähe.«

Teufelchen: »Ist das jetzt ein Scherz? Rosi will in deine Nähe ziehen, Anja? So war das doch nicht gemeint!«

Engelchen: »Sag nichts. Lass Rosi die Hoffnung! Sie muss sich allein auf den Weg der Erkenntnis begeben.«

Das muss sie gegebenenfalls. Ein Umzug in meine Nähe würde nämlich keinen Sinn machen, da ich nur selten da bin, wo Michaels und mein Haus steht. Ob ich Rosis Umzug in meine Nähe wollen würde, brauche ich deshalb gar nicht erst zu überlegen. Das ist absurd, und ich schiebe den Gedanken weit weg von mir. So wird Rosi bestimmt nie glücklich werden. Glücklich im Sinne von entspannt und in ihr selbst ruhend. Rosi dauerhaft in meiner Nähe ist für mich leider unvorstellbar.

Der Treppenlift ist im Weg
Überraschungsbesuch

Da ist sie wieder, Rosis vortreffliche Zielsicherheit, mich exakt zum Zeitpunkt des Lebensmitteleinkaufs anzurufen. Diesmal stehe ich schon mitten im Laden und habe kaum eine Hand frei, um zum Telefon greifen zu können. Ich stelle meine Tragetasche genervt an das nächstbeste Regal. »Hallo, Rosi.«

»Ich habe jetzt extra bis zum Abend gewartet, damit ich dich nicht störe.«

Stirnrunzelnd blicke ich auf meine Einkaufstasche. »Was gibt es denn?«

Rosi ist außer sich vor Zorn und lässt ihrem Unmut freien Lauf: »Du glaubst ja nicht, was heute hier los war!«

Da fällt es mir wieder ein: Heute sollte der Treppenlift montiert werden. Daran habe ich den ganzen Tag nicht gedacht. Ich war damit beschäftigt gewesen, einen Produktivtest durchzuführen und einen Systemfehler zu reproduzieren. Die Reproduktion des Fehlers haben wir nicht hinbekommen. Es ist natürlich wie immer später als geplant geworden, aber die Systeme scheinen jetzt wieder fehlerfrei zu laufen. Warum auch immer. Aber wenn Rosi so wütend ist, dann muss wohl etwas schiefgelaufen sein.

»Ich habe heute den Monteur für den Treppenlift rausgeworfen.«

Engelchen: »Was hat sie?«

Den Monteur hinausgeworfen.

»Der Monteur hat die Schienen und den Liftsessel reingeschleppt und alles so auf die Treppe gelegt, wie es vom Platz her sein würde, wenn der Lift montiert wird. Dann hat er mich gefragt, ob er das wirklich so montieren soll. Ich habe das gar nicht erst kapiert, aber der war hartnäckig und hat mich an die Treppe geholt. Ob er das wirklich so montieren soll. Und da habe ich das Desaster begriffen! Die Schienen ragen so weit raus, dass ich da nicht mehr sicher zu Fuß rauf- und runterlaufen kann! Und genau das hat mir der blöde Vermessungsingenieur doch zugesichert – der Treppenhandlauf müsse nicht ab, der Lift werde davor gebaut und ich hätte noch genug Platz zum Laufen!«

 

Engelchen: »Seit wann flucht Rosi eigentlich? ›Blöder Ingenieur?‹«

Rosi holt einmal Luft, und dann geht es weiter: »Also habe ich den Monteur rausgeworfen, und jetzt liegt hier alles auf der Treppe herum. Ich kann jetzt also zusehen, wie ich da rauf- und runterkomme, ohne mir das Genick zu brechen. Ich könnte echt ausflippen! Danach habe ich Daniel Bremer – du weißt schon, den Nachbarn aus der Nr. 21 – geholt. Daniel hat dann Fotos gemacht. Die schickt er dir nachher noch, hat er gesagt. Was soll ich denn jetzt machen?«

Mir weicht etwas die Farbe aus dem Gesicht. Mit so einem Störfaktor hatten weder Rosi noch ich gerechnet. Für mich war das Thema Treppenlift rechtzeitig vor Friedrichs Rückkehr bereits abgehakt. Nächste Woche kommt er von seiner Reha nach Hause und soll dann mit einer Treppe klarkommen, die mit dem Gerümpel darauf sogar Rosi Schwierigkeiten bereitet?

»Friedrich freut sich auf zu Hause und sagt, er habe Treppensteigen trainiert. Das würde ihm nichts ausmachen.«

Klar freut Friedrich sich. Ich wage gar nicht daran zu denken, wie Friedrich mit wackeligen Knien zwischen den herumliegenden Schienen hindurch die Treppe hinaufbalanciert, was sogar Rosi für sich als gefährlich empfand. Auch wenn Rosi mir das Fluchen immer verboten hat, kann ich jetzt nicht anders. »So eine Scheiße, Rosi!«

Engelchen: »Und jetzt?«

Ich muss nachdenken. »Rosi, ich melde mich morgen noch mal dazu. Ich muss jetzt echt nachdenken.« Natürlich vergesse ich nach dem Telefonat die Hälfte dessen, was ich eigentlich einkaufen wollte. Ich haste halb fertig zur Kasse, bezahle und lege mir schon auf dem Nachhauseweg zur Werkswohnung zurecht, wie ich mit dem Hersteller des Treppenlifts, ELEKTRO-HILFE-AG, in Kontakt treten werde, und setze gedanklich mein Schreiben an die Firma auf. Der Plan muss heißen: Der Treppenhandlauf an der Innenseite muss doch ab und die Schienen zehn Zentimeter weiter an die Wand. Ich habe keine Zeit, mich über den Ingenieur zu ärgern. Zehn Zentimeter. Auch nur ein einziger Zentimeter bedeutet, dass die Schienen neu produziert werden müssen. Sie sind nämlich in der Statik momentan genau dafür ausgelegt, so montiert zu werden, wie es die Treppe blockiert. Es ist nicht wie bei einem Regal, das man einfach näher an eine Wand schieben kann. Nach Rosis Information haben sie Ende April die Schienen für das Haus produziert. Jetzt ist es Ende Mai, und erst nach Wochen haben sie versucht, die Schienen zu montieren. Sie werden neu berechnen müssen, neu produzieren, neu einbauen … Mir wird schwindelig bei der Vorstellung, wie lange Friedrich dann zu Fuß die Treppe hoch- und herunterlaufen muss.

Es ist erst Ende Mai, was die Jahreszeiten angeht. Wir hatten schon öfter überraschende Wettersituationen in den vergangenen Jahren, aber dieser Mai macht einem Sommer bereits alle Konkurrenz. Jetzt wohne ich erst ein paar Wochen in der Werkswohnung und habe die Chance, die Isolierung vor allem im Dachgeschoss zu beurteilen. Das wird mir bei der Entscheidung helfen, ob mir eine anderweitige Zweitwohnung mit Investition in Möbel zu teuer oder zu anstrengend ist.

Ich schleppe meine Einkäufe wieder in die Küche des Dachgeschosses – nicht ohne mir erneut Knie und Ellbogen an der schmalen Treppe nach oben anzustoßen. Natürlich ist es schon wieder abends, aber die Sonne hat mit 30 Grad Celsius als Tagestemperatur auf den offensichtlich schlecht gedämmten Dachstuhl gehämmert. Mit jedem Schritt nach oben läuft mir mehr Schweiß den Rücken herunter. Ich glaube fast zu ersticken und reiße erst einmal die Dachfenster auf. Von draußen strömt wohltuende frische Luft herein, denn die Abendtemperaturen sind wenigstens noch nicht sommerlich.

Auch solche Erfahrungen helfen, Entscheidungen zu treffen. Diese Bude werde ich wohl besser nicht für teuer Geld (mehr, weil möbliert) weitermieten, wenn die sechs Monate abgelaufen sind. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie heiß es hier oben erst im Sommer sein muss – und im Umkehrschluss auch, wie kalt im Winter. Also muss ich anfangen, mir eine Zweitwohnung zu suchen.

Rückwärts gerechnet: Ich habe die Werkswohnung bis Ende September. Dann muss ich wegen der Kündigungsfristen spätestens im Juli mit der Wohnungssuche anfangen. Es ist Ende Mai, und ich werde im Juni anfangen, an meinen Wochenenden in Kaiserslautern im Internet nach Wohnungen zu suchen.

Das sind aber Entscheidungen, die weiter hinten auf der Kalenderschiene liegen. Jetzt brauche ich erst einmal eine Entscheidung über das weitere Vorgehen bei Friedrich und Rosi. Ich habe offline auf meinem privaten Laptop das Schreiben an ELEKTRO-HILFE-AG wegen des Treppenlifts vorbereitet. Logistisch ziemlich blöd ist für mich, dass ich deswegen am Freitag nach der Arbeit wieder zu Rosi fahren muss. Ich kontrolliere in der Etage tiefer in den Schlafzimmerschränken den Bestand meiner Wäsche. Sie wird noch reichen, auch wenn ich am nächsten Wochenende nicht nach Hause zu Michael und der Waschmaschine fahre. Die Schmutzwäscheberge werden größer.

Ich packe eine Sporttasche und mache mich am Freitag wie (un-)geplant auf den Weg. Wie immer zunächst ins Hotel meines Vertrauens.

Um mich auf langen Fahrstrecken abzulenken, fange ich immer an, irgendetwas zu zählen. Ich finde es lustig, wenn mein Gehirn irgendetwas rechnen muss, zum Beispiel die Durchschnittsgeschwindigkeit in km/h mit Hochrechnung auf die Ankunftszeit.

Nur alle 50 Kilometer darf ich eine rauchen, um nicht zur Kettenraucherin zu werden. Maximal. Besser ist es, nur alle 100 Kilometer eine Raucherpause zu machen.

Wie viele Minuten prognostiziere ich, um auf den Parkplatz des Hotels zu rollen?

Es ist dunkel, wenn ich beim Hotel ankomme, aber die Wolkenfront da vor mir macht es schneller dunkler und nicht gerade erfreulicher. Ich fahre offensichtlich mitten in eine Gewitter- und Regenfront. Ich bin kein Wetterexperte, aber ich denke, die anhaltende Warmfront donnert nun auf die anrückende Kaltfront und löst physikalisch entsprechende Reaktionen in den Hemisphären aus. Die Frage bleibt für mich nur, warum ich mich jetzt mittendrin befinde und nicht zu Hause bin.

Auf der anderen Seite geht ein Glasglockenleben sicher nicht ohne Scheppern zu Bruch – wieso also nicht mit einer Fahrt durch dieses Gewitter, das heftige Regenfälle mit sich bringt?

Meine Fahrt verlangsamt sich auf 50 km/h. Das könnte ich jetzt echt »shice« finden, aber ich denke an meinen Sieg wegen der Erstattung der 10.000 Euro Reisekosten. Ich motiviere mich damit.

So viele Monate später habe ich gewonnen und die Reisekostenerstattung auf meinem Konto vorgefunden. Mit meiner Hartnäckigkeit und der Unterstützung meines Ex-Chefs haben sie irgendwann auch ohne Personalnummer den Nachberechnungsprozess angestoßen. Ich habe meine Abrechnungen erneut an eine Adresse – diesmal in Deutschland – schicken dürfen, und dann ging es. Endlich verschwinden diese elend langen Mail-Ketten, die meinen Account seit Monaten zumüllen.

Wie befürchtet ist das Gewitter nun direkt über mir. Es schüttet dermaßen von oben, dass der Scheibenwischer gar nicht mehr nachkommt und die Fahrgeschwindigkeit von allein auf 30 km/h heruntergeht. Ruckzuck steht das Wasser auf der Fahrbahn und kann nicht mehr ausreichend abfließen. Bloß nicht auch noch im Hochwasser liegen bleiben!

Es ist offensichtlich ein schnell weiterziehendes Gewitter, denn so schnell, wie es gekommen ist, ist es auch schon Richtung Osten weitermarschiert. Damit hat sich aber meine Hoffnung in Luft aufgelöst, so gegen 21 Uhr im Hotel anzukommen. Das Gewitter hat mir eine Verzögerung von 30 Minuten eingebracht. Rosi und Friedrich wissen aber, dass ich heute ohnehin nicht mehr anrufen werde. Inzwischen hat Rosi knirschend eingesehen, dass ich sie wegen so etwas nicht noch einmal wecken muss. Morgen früh fahre ich zu den beiden hinüber, und dann sieht sie ja, dass ich gut angekommen bin.

Auch heute Abend habe ich Glück und finde noch einen freien Parkplatz beim Hotel. Beim Check-in nehme ich einen WLAN-Code mit, um das Internet hier kostenfrei nutzen zu können. Ich habe meinen alten Windows-7-Laptop mitgenommen. Auf der Festplatte habe ich bereits den Entwurf des Schreibens an die ELEKTROHILFE-AG gespeichert. Und wenn ich das Gerät schon mitschleppe, kann ich hier ja auch ein bisschen im Internet surfen. Morgen werde ich versuchen, den Laptop in Rosis und Friedrichs Netzwerk anzumelden. Damit ich wenigstens zwischendurch die eine oder andere meiner privaten E-Mails lesen und schon einmal auf dem Immobilienportal nach meiner potenziellen Zweitwohnung Ausschau halten kann. Ich sacke meinen WLAN-Code ein, und die Dame an der Anmeldung sieht mich prüfend an. »Sie sehen müde aus«, sagt sie plötzlich. »Wir haben zwar kein Restaurant, aber wenn Sie keine Lust haben, bei dem Regen rauszugehen, kann ich einen Snack besorgen.«

Ich schüttele kurz den Kopf. »Das ist nett. Aber nein, vielen Dank.«

Zehn Minuten später stehe ich wie schon so oft in bequemer Jeans wieder vor der Tür, um zum Chinesen zu laufen. Tradition ist Tradition!

Teufelchen: »Eine ziemlich dämliche Tradition, findest du nicht? Du hättest das Angebot der Rezeptionistin wohl besser angenommen!«

Inzwischen ist der Regen wieder stärker geworden, und ich habe weder Schirm noch Regenjacke in meinem Gepäck. Wenn ich mich an den Schaufensterfronten entlangdrücke, die teilweise überdacht sind, kann ich es vielleicht halbwegs trocken schaffen. Warten, dass der Schauer vorbeigeht, kann ich nicht mehr um die Uhrzeit. Denn dann bin ich vielleicht trocken vor der Tür des Restaurants, aber die ist schon geschlossen und die Küche kalt. Schade, ich kann das Restaurant zwar sehen, aber mich nicht dort hinüberbeamen. Wann wird endlich das Beamen erfunden?

Es ist Freitagabend, und im Gegensatz zu sonst am Beginn eines Wochenendes quirlt hier nichts mehr; die wenigen Personen dort draußen hasten wie ich unter den Balustraden entlang und haben nur das Ziel im Sinn, die nächste regengeschützte Hausecke zu finden. Bei so einem Wetter hüpfen die Menschen wie Pingpong-Bälle von einem Regenschutz zum anderen. Also so wie ich.

Cool ist aber am Ende, dass ich mit meinem Balustraden-Gehüpfe tatsächlich fast trocken ankomme, das Restaurant recht leer ist und die, die trotz des Wetters hereinkommen, viel nasser sind als ich.

Der Kellner lacht, als er mich sieht, und ruft mir nur kurz zu: »Wie immer?«

Ich strecke den Daumen nach oben, und vor mir stehen kurz darauf ein kaltes Weizenbier und die knusprige Ente mit Glasnudeln. Auf einmal muss ich auch lachen. Was beschwere ich mich eigentlich über Rosis permanente Gulaschsuppe, wenn ich beim Chinesen auch stets das Gleiche esse?

Nach der Restnacht im Tiefschlaf und dem üblichen Hotelfrühstück am nächsten Morgen trete ich mit meinem verbeulten Rücken die Fahrt zu Friedrich und Rosi an. Hotelmatratzen und -lattenroste sind halt kein Luxus. Die Rückenschmerzen versuche ich, heroisch zu ignorieren.

Nach meiner zweiten Tasse Kaffee ruft Rosi natürlich bereits ungeduldig an. Ich kann’s verstehen, denn sie weiß ja noch nicht, dass ich gut angekommen bin. Aber ehrlich: Es ist schade, dass sie das SMS-Schreiben nicht kann und nicht können will. Es müsste ja nicht einmal WhatsApp sein. Vermutlich hat Rosi auch schon wieder vergessen, dass ich noch ein paar Erledigungen machen soll, bevor ich zu ihnen komme. Ich soll auf jeden Fall DIN-A5-Ordner für Friedrich mitbringen und muss also erst einmal zu einem Laden für Bürobedarf fahren. Rosi hat Friedrich dazu verdonnert, mit dem Aufräumen und Sortieren anzufangen. Die kleinen Ordner will Friedrich deshalb für die vielen verschiedenen Bedienungsanleitungen haben, die im Erdgeschoss herumfliegen.

Mit den gewünschten Ordnern bewaffnet tauche ich dann auf und klingele, wie es sich für einen Gast gehört. »Hallo, Rosi!« Ich gehe mit den Ordnern schnurstracks an ihr vorbei zu Friedrich ins Wohnzimmer. So vermeide ich Begrüßungsorgien, und Rosi sagt ausnahmsweise einmal nichts. »Hallo, Friedrich! Schön, dass du wieder zu Hause bist«, grüße ich meinen Vater.

Er thront in seinem Lieblingssessel und grinst. Zumindest ist es ein Grinsen, wie es die Parkinson-Mimik zulässt. Um sich herum hat er bereits die vielen kleinen Heftchen der Bedienungsanleitungen ausgebreitet. Diese kleinen Heftchen für Wecker, Ladegeräte, Kleinteile, die jeder eigentlich gleich ins Altpapier wirft. Ich jedenfalls. Diese Bedienungsanleitungen, in denen nur steht, dass man Elektrogeräte trocken lagern soll, wo sie einzuschalten sind und andere unwichtige Informationen.

 

»Friedrich, bist du dir sicher, dass die zu den Anleitungen gehörenden Geräte überhaupt noch hier auffindbar sind?«

Friedrich zuckt freimütig mit den Schultern und macht mit dem rechten Arm eine angedeutet ausschweifende Geste. »Die Geräte sind hier sicher irgendwo. Was ist, wenn ich mal zu einem Gerät Fragen habe, und die Bedienungsanleitung ist nicht mehr da?« Er greift zum bereitstehenden Locher und fängt an, die Anleitungen zu lochen und in den ersten kleinen Ordner zu heften.

Dann liegen sie wenigstens nicht mehr in den Schubladen herum.

Ich zucke die Schultern und nicke. Erst jetzt wird mir bewusst, wie mies ich eben Rosi behandelt habe. Ich habe sie fast ignoriert, weil Friedrich nun aus dem Krankenhaus zurück ist.

Teufelchen: »Vielleicht kommt das daher, dass du Friedrich helfen willst und das alles hier für ihn tust. Nicht für Rosi.«

Prompt wende ich mich mit schlechtem Gewissen Rosi zu, und gemeinsam gehen wir in die Küche. Sie schüttet mir einen Kaffee in einen Becher. Sie kocht sich früh morgens Kaffee und lässt den Rest dann in der Thermoskanne stehen. Er ist lauwarm und abgestanden – nichts, was ich trinken kann. Sie meint es gut. Ich werde ihn nachher heimlich in das Waschbecken des Badezimmers schütten.

Mit dem Becher gehe ich nach oben in das Balkonzimmer und schalte den Laptop meiner Eltern an. Inzwischen darf ich mich ja frei im Haus bewegen. Meinen mitgebrachten Windows-7-Laptop fahre ich ebenfalls hoch.

Vom Schreibtisch, dessen Auflagefläche Rosi und ich mit der alten Holzplatte vergrößert haben, geht mein Blick direkt durch das Balkonfenster hinunter in den Garten. Der Regenguss von gestern ist schon wieder vergessen, die Sonne scheint auf den Rasen und die Bäume draußen. Während die Laptops hochfahren, trommele ich gedankenverloren mit einem herumliegenden Bleistift auf die Schreibtischplatte. Sicher kein Wetter, um sich schon in die Sonne legen zu können, aber trotzdem sehne ich mich auf einmal nach der Terrasse in Kaiserslautern. Ein Buch lesen, chillen, irgendwie entspannen.

Die Firewall meines Laptops blockiert und weigert sich trotz Eingabe von Friedrichs und Rosis Netzwerkschlüssel, den Internetzugang freizugeben.

Seufzend greife ich zu Plan B, speichere den Entwurf des Schreibens an ELEKTRO-HILFE-AG im PDF-Format auf einem USB-Stick und fahre meinen Laptop wieder herunter. Dann halt nicht, ich habe keine Zeit, mich jetzt damit auseinanderzusetzen.

Der Stick landet in Rosis Laptop und so auch das Schreiben auf der Festplatte. Entweder setze ich den Plan des Wohnungssuchens im Hotel fort, oder ich verschiebe das. Für dieses Wochenende.

Ich schiebe meinen Laptop frustriert wieder in meine Tasche. Meine Finger fliegen also nur noch über die Tastatur meiner Eltern und ich finalisiere das schon vorbereitete höfliche Schreiben an ELEKTRO-HILFE-AG mit der Bitte um schnellstmögliche Anpassung. Der von meinen Eltern ausgewählte Treppenlift F2 kostet rund 12.000 Euro, und wenn man wie wir vorher brav die Pflegestufe eins bewilligt bekommen hat, bekommt man 2.000 Euro der Kosten von der Krankenkasse erstattet. Erstattung hin oder her, es sind mit Stand heute 12.000 Euro in den Sand gesetzt. Im Grunde hat Rosi das Angebot der ELEKTRO-HILFE-AG unterschrieben, die haben produziert und geliefert. Dann hat Rosi quasi die Annahme verweigert. Das wird ein harter Brocken, da kann ich schon einmal meine imaginären Messer wetzen.

Dass Rosi beschissen beraten worden ist, kann ich nicht ernsthaft nachweisen. Ich brauche eine Idee. Ich muss den Verbraucherschutz involvieren und schon einmal die Rechtsschutzversicherung von Rosi und Friedrich aktivieren. Und Tante Google um Rat fragen.

Ich kümmere mich auch um viele andere Dinge. Ich schreibe an Friedrichs Krankenversicherung, drucke wieder die Kontoauszüge aus und schaue immer wieder sehnsüchtig in den Sonnenschein draußen. Bei jedem Schreiben laufe ich die Treppen hinunter zu Rosi und Friedrich, um sie die Ausdrucke davon Korrektur lesen zu lassen.

Friedrich legt sein Buch zur Seite, wenn ich komme. Er hat längst mit dem Sortieren aufgehört und braucht eine Pause. Er liest die Schreiben und nickt. »Ja, das ist okay für uns.«

Sobald Rosi mitbekommt, dass ich wieder unten bin, kommt sie aus der Küche und liest die Schreiben dann auch. Die Inhalte, die ich tippe, sind vorher mit beiden abgesprochen, deshalb laufe ich die Treppen ja hinauf und hinunter vom Schreibgerät Laptop zum Erdgeschoss, wo Rosi und Friedrich sind.

Während Friedrich die Schreiben durchwinkt, nörgelt Rosi über Punkt und Komma, und ich korrigiere alles wie gewünscht.

»Die Schreiben sind doch okay«, brummt Friedrich aus seinem Sessel und versucht, mir zuzublinzeln. Das mit dem Blinzeln klappt auch nicht mehr so wie früher. Die Mimik eines Parkinson-Patienten geht im Verlauf der Krankheit immer mehr zurück. So, als ob kleine Bleigewichte an den Nerven hängen würden.

Ich sitze abermals oben im Balkonzimmer, und da ist sie wieder, Rosis Stimme von unten: »Friedrich, geh schon mal nach oben, dich fertig machen! In ungefähr einer Dreiviertelstunde können wir Mittag essen.«

So ist das also jetzt. Fünfundvierzig Minuten Zeit für die Vorbereitung, um essen zu können.

Friedrich arbeitet sich mit seinem Gehstock Stück für Stück durch den Flur, hängt den Stock unten ans Treppengeländer und hangelt sich Zentimeter für Zentimeter die Treppe empor, die an der Wandseite immer noch von der beiseitegeschobenen falschen Treppenliftschiene blockiert ist. Es ist fast nicht mit anzusehen, aber Friedrich ist guter Dinge und stolz auf sich, dass er im Krankenhaus schon so sehr das Treppensteigen geübt hat. Sein angedeutet spitzbübisches Grinsen im Gesicht, als er merkt, dass ich aus dem Balkonzimmer getreten bin und sein Gekraxel besorgt beobachte, zeigt mir seinen Stolz. Ich hätte nicht gedacht, dass Rosi sich das mitansehen könnte – aber sie kann es. Sie steht unten, und ich sehe die Angst in ihren Augen, dass Friedrich stürzen könnte.

Aber es gibt noch keine Alternative, der Treppenlift ist noch nicht fertig. Friedrich nimmt das locker und beweist uns von Sekunde zu Sekunde, dass er das kann. Die Treppenstufen hoch- und herunterjonglieren.

Ich gehe wieder zurück ins Balkonzimmer an den Laptop und bin auf einmal irgendwie traurig. Draußen scheint die Sonne, aber ich sitze hier fest, und zwischen erstem Stock und Obergeschoss kämpfen Rosi und Friedrich tapfer um das Fortbestehen ihres Lebens in diesem Haus. In dem Haus, in dem Friedrich die zurechtgesägten Holzbretter im Garten mit einem Lötkolben geflammt hat, um sie dann zu diesen Regalen zusammenzubauen, die fast alle Wohnzimmerwände passgerecht zieren. Passgerecht für jede Mauerecke und passgerecht in der Tiefe für die Bücher. Friedrich hätte genauso gut Tischler werden können statt Mathematiker und Physiker.

Seufzend klappe ich den Laptopdeckel nach unten und gehe zu Rosi in die Küche, um noch ein bisschen zu helfen und den Tisch zu decken. Rosi schickt mich wieder einmal nach unten in den Keller, um einen O-Saft aus dem Vorratsraum zu holen. Friedrich hat immer viel Zeit in seinem Hobbykeller verbracht. Auch wenn dieser Keller für Normalsterbliche schon immer zu vollgestopft war, hat Friedrich sich seinen Weg durch die Gerätschaften gebahnt.

Weit nach seinem Rentenbeginn hat er sich einmal fast mit der Kreissäge den Daumen abgesägt. Rosi hat dann gesagt, dass das nicht mehr geht, das da im Hobbykeller. War das die erste Langsamkeit, die Parkinson verursacht? Das und die zunehmende Verlangsamung der Reaktionsfähigkeit im Alter?

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