Schulzeit ohne Stress

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Der Universitätsprofessor kritisiert die totale Überbetonung von Benotungen – die sich sogar in den Universitäten zunehmend fortsetzt. »Früher waren es nur wenige Noten, die im Diplom stehen, heute steht da jede Note von jeder Vorlesung im Bachelorzeugnis! Das sorgt dafür, dass bei den Studenten im ersten Semester schon eine Welt zusammenbricht, wenn sie eine Drei bekommen, weil sie denken, sie erreichen ihren Schnitt nicht mehr. Auf der einen Seite haben wir immer weniger Studenten, die in der Lage sind, die Härten eines Studiums auszuhalten. Auf der anderen Seite treiben wir sie natürlich auch in so eine Anpassungsphase, indem wir alles benoten. Wir hatten früher mal eine Kultur des Vertrauens. Heute haben wir ein reines Misstrauensmanagement. Besser wäre doch, wir würden es so machen, dass wir am Ende des vierten Semesters sagen, dass es eine mündliche Prüfung gibt und wir die Studierenden über den Gesamtzusammenhang abfragen. Dann setze ich natürlich das Vertrauen in den Studenten, dass er die Veranstaltung besucht und sich den Stoff selbstständig erarbeitet. Es gibt keine Prüfungen mehr im Zusammenhang, weshalb viel, viel mehr Fachidioten produziert werden. Das war früher auch nicht so. Da konnten Studenten schlendern – heute müssen sie marschieren. […] Um ein Gehirn wirklich gut entwickeln zu lassen, braucht es Freiräume. Das sieht man ja an Eliteunis. […] Wenn wir das (die Freiräume) wegnehmen, dann zerstören wir das und machen daraus eine Maschinerie, eine Art Pipeline. Vorn kommen die Jugendlichen rein, und hinten kommen irgendwelche Studenten raus, bei denen dann aber wieder die Industrie sagt: Nein, die wollen wir doch gar nicht. Zumindest nicht so. […] Wir sollten irgendwann anfangen, der Vernunft endlich wieder Raum zu geben, zurückzukommen zu Verhältnissen, in der Dinge großzügiger waren. Und dabei möchte ich nicht sagen, dass früher alles besser war – aber es war langsamer. Auch wieder den Lehrern mehr Spielraum zu geben und sie nicht mit brutalen Lehrplänen damit zu knebeln, am Ende des Schuljahres irgendwo sein zu müssen. Warum geben die Ministerien den Lehrern so wenig Gestaltungsfreiheit? Nehmen wir doch mal mein Fach Physik: Es ist erschütternd, dass heute nicht mehr die elementarsten Dinge gelehrt werden. Durch das Versagen der Schule und der Universitäten verschwindet die Lust am Nachdenken und Hinterfragen, weil man sich nicht mehr traut. Und gar nicht mehr weiß, zu welchen gedanklichen Leistungen man in der Lage ist. Das, was eine demokratische Gesellschaft braucht, sind ja kritische Menschen, die einen Zusammenhang hinterfragen können. Zunächst auf Grundlage ihrer Vorurteile, dann ihrer Meinung und zuletzt auch wegen der Faktenlage. Was wir im Moment erleben ist das Ende der Fakten. Das hat auch damit zu tun, dass auch immer weniger Leute darauf vertrauen, was sie denken. Und dazu muss man nicht studieren, sondern braucht einfach nur genügend positive Rückmeldungen, dass man sich selbst traut. Das Schlimmste, was passiert, ist, dass man sich nicht traut. Wenn man sich nicht traut, kriegt man Angst. Angst erzeugt aber Hass. Sie können das für alle gesellschaftliche Bereiche nehmen: Wenn sie souveräne Menschen haben, die wissen, wer sie sind und was sie können, ist die Gefahr von Konflikten bei dem Gegenübertreten von etwas Neuem – das können neue Menschen oder aber auch neue Entwicklungen sein – natürlich viel geringer, als wenn sie es mit Leuten zu tun haben, die zutiefst verunsichert sind.

Unsicherheit führt im Allgemeinen dazu, dass unser Gehirn etwas tut, was es eigentlich nicht tun will, nämlich Angst produzieren – und das ist der schlechteste Ratgeber in allen Lebenslagen. Ich glaube, dass diese Vernichtung von Optionen für unsere jungen Leute langfristig dazu führen wird, dass wir eine sehr angstbesetzte Gesellschaft bekommen werden, die mit den Herausforderungen, die auf uns zukommen, immer schlechter zurande kommt. Weil die Leute nicht souverän sind und nicht vertrauensvoll in ihre eigenen Handlungen gehen können. Wir hatten das schon einmal in Deutschland.«9

Mich stimmen die Aussagen von Harald Lesch deswegen sehr nachdenklich, weil er – wie schon gesagt – nicht unbedingt für verschwörungstheoretisches Gedankengut bekannt ist. Und wenn im Mainstream schon die Verbindung zwischen politischem Willen und industriellen Erwartungen gezogen wird, dann sollten wir das durchaus sachlich und wachsam diskutieren.

Dr. Michael Winterhoff

Ein Mann, der beruflich mit den Auswirkungen dieser Erwartungsdruck-Politik in den Familien zu tun hat und ebenso davor warnt, Kinder unreflektiert zu Stellvertretern des Systems zu machen, ist der Kinderpsychiater und Autor Dr. Michael Winterhoff. Er blickt auf über 30 Jahre Berufserfahrung zurück und skizziert die dramatischen Veränderungen in der Gesellschaft, die sich auf Kinder und Jugendliche auswirken. In seinen Vorträgen spricht er davon, dass Schulabgänger nicht mehr »ausbildungsfähig« sind. Den jungen Menschen fehle jegliche Kompetenz, sich auf berufliche Anforderungen einzulassen. Er bringt ein Beispiel von einem intelligenten, gebildeten und augenscheinlich gut erzogenen 16-Jährigen, dem es völlig an Empathie, sozialer Kompetenz und sittlicher Reife fehlt und der moralisch auf dem Stand eines Kleinkindes ist. Der Grund dafür seien Eltern, die dem Kind niemals Grenzen gesetzt und ihm damit vermittelt haben, es gäbe auch keine. Winterhoff macht nicht das Schulsystem unmittelbar für den Missstand verantwortlich, sondern zeigt diese Entwicklung für alle Wohlstandsländer auf. Die Eltern projizieren sich auf ihre Kinder, wollen für diese nur das Beste und verlieren damit die Distanz zu ihnen. Diese äußerst ungünstige Bindung der Eltern zu den Kindern gehört seiner Beobachtung nach schon zur Normalität. Dr. Winterhoff spricht von bereits rund 70 Prozent emotional gestörten Kindern in Deutschland.10 Perfekt sein wollen, funktionieren müssen, Autoritätskonflikte meiden, das scheinen die Zutaten zu sein, mit denen die Kinder zu Empathie gestörten Egomanen mutieren und keinen Sinn für soziale Rollen entwickeln können. Solche Menschen haben auf dem Arbeitsmarkt aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt keine Chance auf qualifizierte Tätigkeiten. Es scheint, als würden sie regelrecht für den Billiglohnsektor produziert und Eltern werden hierfür auch unterbewusst instrumentalisiert. Diese Ansicht ist übrigens auch im benachbarten Ausland zu vernehmen.

Prof. Franz Hörmann

Als ich bei meinen Recherchen zu diesem Buch auf den österreichischen Wirtschaftswissenschaftler Professor Dr. Franz Hörmann stieß, war ich fast erschrocken, wie sehr seine Aussagen meine These stützen.

Er schreibt: »Durch Sprachspiele wie Wortverdrehungen und vorgetäuschte Sachzwänge wird die Bevölkerung für dumm verkauft und mit absurden Scheinargumenten für die große Geld-Umverteilung von den Menschen zu den Bankern gefügig gemacht. Dem Banken-Monopol-Geld wurden Funktionen angedichtet, die dieses schon aus rein logischen Gründen überhaupt nicht erfüllen kann. Dieser Unsinn wird dann auch noch in Schulen unterrichtet und abgeprüft, und Jugendliche werden durch das Notensystem darauf trainiert, unfaire und autoritäre Bewertungen mittels Zahlen widerstandslos über sich ergehen zu lassen; so werden sie auf ihre Zukunft als unterbezahlte Arbeitssklaven für die ›Erben- und Eigentümergesellschaft‹ vorbereitet. Der viel beschworene ›Ernst des Lebens‹ besteht dann einfach darin, das stets zu niedrige Gehalt (›Standortwettbewerb‹, ›Arbeitsplatzgefährdung‹ und sonstige Erpressungsargumente der Wirtschaft) mit derselben stoischen Ruhe zu ertragen wie ein ungerechtes ›Nicht Genügend‹ zu Schulzeiten. Auf Leistung achtet dabei keiner. Die meisten Mitglieder unserer selbst ernannten Eliten wissen überhaupt nicht, was Leistung eigentlich ist. Sie verwechseln das mit den Zinsen und Dividenden, die regelmäßig ohne ihr Zutun ihre Konten füllen. Deshalb leben wir ja auch offiziell in einer ›Leistungsgesellschaft‹. […] Seit Jahrzehnten werden mit den sogenannten Rechts- und Wirtschaftswissenschaften altrömische und mittelalterliche Denkweisen dazu missbraucht, die Bevölkerung zu täuschen und zu unterdrücken. […] Denkweisen des Altertums […] werden in autoritären Bildungsinstitutionen unter Notendruck jungen Menschen als Weltbild aufgezwungen; so wirken Schulen und Hochschulen als Gehirnwäsche-Institutionen.«11

In einem Interview rezitierte der Universitätsprofessor den amerikanischen Autor und mehrfach honorierten Lehrer John Taylor Gatto (1935–2018) mit den Worten: »Er weist in seinen Büchern nach, dass im neunzehnten Jahrhundert seit der Einführung der Schulpflicht das Ziel war, die Menschen mit Verdummung unten zu halten. Also lenkbar und steuerbar zu machen. Und da die Eltern das damals noch wussten, haben sie die Schulpflicht verweigert. Die wollten ihre Kinder nicht zur Verdummung in die Schule schicken. Daraufhin mussten etliche Kinder mit Militäreskorten zur Verdummung in die Schule gebracht werden. Maria Theresia wollte in Wirklichkeit auch nicht unbedingt eine gebildete Bevölkerung, sondern sie wollte Soldaten, die Lesen und Schreiben können und sich mit Begeisterung für den Landesvater oder die Landesmutter erschießen lassen.«12 Schüler sollten als ungebildetes und gehorsames Kanonenfutter dem Militär dienen. Mit der Industrialisierung wurden dann akustische Signale in der Schule eingesetzt, weil an den Fließbändern nach einem akustischen Signal der Arbeitsgang gewechselt wurde. Franz Hörmann sagt wörtlich: »Die Schule hatte nie den Auftrag zu bilden!«13

Diese wirklich sehr düstere Aussage ist sicherlich in der heutigen Zeit so nicht mehr haltbar. Andererseits hörten wir zuvor genug Fachleute, die darauf hinwiesen, dass sich einige Prinzipien in den Schulen seit dem 19. Jahrhundert nicht geändert hätten.

 

Dr. Andreas Salcher

Der österreichische Unternehmensberater und ehemaliges Mitglied des Landtags schreibt in seinem Bestseller: »Der talentierte Schüler und seine Feinde«, alles in der Schule müsse anders werden, so gut wie nichts stimme an unseren Bildungseinrichtungen.

Auch Salcher vertritt die Meinung, dass die gute Schule nur eine Frage des politischen Willens sei. Seiner Ansicht nach hat jedes Kind das Recht auf maximale Förderung seines Bildungspotenzials. Stattdessen sei die Schule in ihrem jetzigen Zustand ein Relikt teils der Industriegesellschaft, teils der Militärerziehung, in der die Schüler nicht individuell unterrichtet würden, sondern standardisiert. Salcher fordert eine Schule, die sich an der Lebenswelt orientiert; draußen im Leben gebe es keine Fächer, dort sei alles interdisziplinär. Er tritt daher entschieden gegen Unterricht mit Thementrennung ein. Wenn ein Schüler all seine Fähigkeiten entwickeln soll, sei Tanzen genauso wichtig wie Mathematik.

Andreas Salcher findet es falsch, wenn man »Schülern, die in Deutsch gut, aber in Physik schlecht sind, im schwachen Fach zu verbessern sucht, anstatt sich auf ihre Begabungen zu konzentrieren. […] Die Fähigkeit zu träumen gehört auf den Lehrplan. Die Schule darf ein Kind niemals brechen und dergleichen mehr«14.

Es würde mich nicht wundern, wenn einige Leser erschreckt zusammenzucken, wenn sie lesen, dass »Träumen« und »Tanzen« in den Lehrplan aufgenommen werden sollten. Doch lernen, verstehen und letztlich nützliche Fähigkeiten zu entwickeln, geschieht idealerweise mit interdisziplinärem, von Interesse und Begeisterung geprägtem Erfahren von Erfolgserlebnissen. Und nur um zu zeigen, dass die kritischen Stimmen zum Schulsystem nicht vereinzelt sind, sondern einen ganzen Chor aus Experten bilden, dessen Stimme man sich eigentlich nicht mehr entziehen kann, fahren wir fort mit einem weiteren Spezialisten auf dem Gebiet.

Professor Konrad Paul Liessmann

Der österreichische Philosoph, Autor und Bildungsexperte betrachtet die Bildungspolitiker in Deutschland und Österreich daher ebenfalls sehr kritisch. »Die effizienz- und kompetenzorientierte Schule hindert junge Menschen, die nötige Fantasie und Kreativität zu entwickeln. […] Die Bildung des Menschen beinhaltet Formung, Entfaltung, Orientierung, Selbstgestaltung und das Gewinnen einer auch ästhetischen Urteilskraft. Bildung lässt sich nicht reduzieren auf den Erwerb von Wissen, aber auch nicht auf den Erwerb von Kompetenzen. Bildung meint immer, wie kann ein Mensch seine Haltung, seinen Charakter, seine Fähigkeiten zu einer Mündigkeit entwickeln.«15

Bildung kennt also letztlich keine definierbaren Ziele, sondern ist ein offener Prozess. Die Bildungspolitik in Österreich und Deutschland hat seiner Ansicht nach »gar nichts« mit der Bildung des Menschen zu tun, sondern es ginge nur um das Schulen und Testen von einzelnen Fähigkeiten. »Es geht ihr nicht mehr, und da wage ich eine Trendwende zu prognostizieren, um die Inhalte der Bildung. In den Lehrplänen geht es um den Erwerb der Lesekompetenz, aber dabei wird völlig ausgeklammert, was gelesen wird. Dabei sind Inhalte entscheidend. Denn nur diese berühren Menschen. Kompetenzen lassen kalt. […] Lehrer sollen Lehrer sein. Pädagogen müssen das Gefühl haben, dass sie etwas Wichtiges weitergeben wollen, gern mit persönlicher Färbung und persönlichem Stil. Der gute Deutschlehrer begnügt sich nicht damit, Leseprozesse zu coachen, sondern ist von der Notwendigkeit überzeugt, Kafka, Thomas Mann oder Peter Handke zu lesen16 Er bescheinigt den Lehrern eine Art selbst auferlegter »Zerknirschungsstrategie« durch »ständige Selbstreflexion und Selbstrechenschaft, ständige Selbstüberprüfung von eigenen Defiziten und dem Nicht-Erreichen von Zielen«.17

Paul Liessmann warnt deutlich vor übertriebener, fast gottesfürchtiger Selbstbeobachtung: »Natürlich braucht man kritische Distanz zu sich und seiner Tätigkeit. Aber wir müssen weg von diesem Phantasma permanenter Kontrollierbarkeit und der permanenten Vergleichtests. Das schafft nur unglückliche Lehrer und damit unglückliche Schüler. […] In der Antike wusste man, dass Bildungsprozesse keine Arbeitsprozesse sind. Muße bedeutet, dass ich mich mit Dingen um ihrer selbst willen befassen kann und nicht ständig darauf schielen muss: Erreiche ich damit ein Ziel, löse ich damit ein Problem? Nur Freiräume befördern die Bildung. Effizienz allein bedeutet keinen Fortschritt. Gerade heute wäre nichts so sehr nötig wie Fantasie. Die effizienz- und kompetenzorientierte Schule hindert junge Menschen, die nötige Fantasie und Kreativität zu entwickeln.«18

Liessmann prangert, wie viele andere Bildungsforscher, den enormen, aber unnötigen Zeitdruck in den Schulen an. Er sagt: »Man kann natürlich Zeitordnungen und Lehrpläne an Schulen und Universitäten anders gestalten. Man kann aus den Bildungssystemen den dramatischen Druck nehmen. Wir sind die reichste Gesellschaft aller Zeiten mit der höchsten Lebenserwartung aller Zeiten – wir können problemlos 40 bis 45 Jahre arbeiten und hätten noch viel Zeit für Bildungsprozesse mit Muße. Ich sehe keinen Grund für den Zeitdruck im Bildungssystem. Viele wissen nicht, wie man argumentiert, wie man unterscheidet zwischen Argumenten einer Sache gegenüber und unzulässigen Argumenten einer Person gegenüber. Dabei wäre eine profunde Diskussion mit auch scharfer Kritik hilfreich. Ich sehe eine Paradoxie. Wir machen Bildungseinrichtungen zu schmerzfreien Räumen, wo nichts mehr gedacht werden darf, was jemand als anstößig empfinden könnte. Dieser Hyper-Empfindlichkeit steht gleichzeitig eine Vulgarisierung der Öffentlichkeit gegenüber. Beides ist das Gegenteil von Bildung. Intellektuelle tendieren dazu, das Volk zu bevormunden. Diese Gefahr muss man sehen. Die einfachste Art, sich mit den Positionen des anderen nicht auseinanderzusetzen, ist, ihn zu pathologisieren wie bei der Flüchtlingsfrage. Da wurden Skeptiker zu Kranken erklärt: Islamophobie. Wenn Erwachsene Angst haben, Anstoß zu erregen, führt das zu einer Verkümmerung des Sprech- und Denkvermögens. Es muss aber auch klar sein: Niemand ist verpflichtet, sich mit anderen unter seinem Niveau auseinanderzusetzen. Ich muss mich wirklich nicht mit den primitivsten Vorurteilen und Hassorgien befassen.«19

Professor Liessmann fordert von Bildungskonferenzen, dass es nicht immer nur um Standardisierung gehe und darum, wie man Kompetenzen noch präziser evaluieren, noch effizienter die Arbeitsmärkte bedienen und »den Internet-Konzernen im Bildungsbereich noch mehr Spielwiesen verschaffen«20 kann.

Dipl. soz.-päd. Darius Sobhan-Sarbandi

Bei Weitem nicht so prominent wie die oben zitierten Experten, aber dafür überaus praxiserfahren ist der Dortmunder Sozialpädagoge Darius Sobhan-Sarbandi. Er ist Mitglied in meinem Coaching-Team und unterstützt Menschen täglich beim Auflösen von Blockaden, bei der Stärkung von Kompetenzen und dem Umsetzen von Zielvisionen. Im Jahr 2005 entwickelte der Geisteswissenschaftler mit mir zusammen unsere spezielle Methode des Schülercoachings, auf die ich später im Buch noch zu sprechen kommen werde. Mit dieser konnten Kinder und Jugendliche durch ein anderes Verständnis von Schule ihre Schulnoten in wenigen Wochen verbessern. Aus der Erfahrung mit Hunderten von Kindern kann er bestätigen, dass Schulprobleme immer eine biografische und kulturhistorische Komponente haben, die oft mit tradiertem Erwartungsdruck zu tun hat. In einem Vortrag vor über hundertsechzig Schülern, Eltern und Lehrern stellte mein Kollege dem Publikum folgende Frage: »Welche Schulnote würden Sie dem jetzigen Schulsystem geben?«, und fuhr fort: »Eine wichtige Frage, wie ich finde, da die Schule zwar ihre Schülerinnen und Schüler dementsprechend benotet, aber sich selber einer Benotung entzieht. Nicht das System wäre ja etwa mangelhaft, sondern die Schülerinnen und Schüler. Sie seien es, die zu faul, zu dumm, zu respektlos, zu aufmüpfig, zu unreif wären. Aber sind das nicht alles Adjektive, die leider besser zum Schulsystem passen, als zu seinen ›Insassen‹? Schule ist – noch – kein Ort, an dem Menschen gefördert werden, ihre Talente und ihr Potenzial zu entwickeln, sondern eine Anpassungsfabrik, in der Originale zu Kopien gestanzt werden, Talent unter den Teppich gekehrt wird und die natürliche Freude am Lernen mit jedem Schultag mehr und mehr verloren geht.«21 Sobhan-Sarbandi versucht in seinen Coachings nicht nur, Eltern begreiflich zu machen, dass sie mit dem Schulstress ihren eigenen Nachwuchs bedrohen, sondern sogar ein gewisses Mitgefühl für die Lehrer zu vermitteln, denn diese befänden sich in einer ausweglosen Pattsituation zwischen dem wachsenden Widerstand von Schülern und den Anforderungen zur Umsetzung des Lehrplans. Auch hierzu später mehr.

Die politische Bereitschaft zur Veränderung der schulischen Situation scheint auszubleiben. Von der »Bildungsrepublik Deutschland«, wie Kanzlerin Merkel sie nannte, sind wir weit entfernt, denn völlig ohne Not gibt es rund 50 000 Schulabbrecher jährlich in Deutschland. Im Jahr 2014 ging fast jeder zehnte Jugendliche ohne Abschluss von der Schule. Das Bildungsmagazin News4Teachers spricht von »programmierten Arbeitslosen«22. Peter Neher, Präsident des Deutschen Caritasverbandes, fordert diesbezüglich mehr politischen Willen von Bund, Ländern und Gemeinden zur besonderen Förderung von Risikoschülern. »Schulversagen« sei nicht nur das Problem eines Einzelnen, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Es sei die Politik gefragt, den (oft hilflosen) Eltern und (oft überforderten) Lehrern zur Seite zu stehen. Der volkswirtschaftliche Schaden, den der Steuerzahler angesichts dieser Flut intelligenter Menschen, die durch das Schulsystemraster fallen, zu tragen hat, ist immens: Bildungsökonom Prof. Ludger Wößmann vom ifo – Leipniz-Institut für Wirtschaftsforschung – nennt die Zahl: »Die Folgekosten unzureichender Bildung durch entgangenes Wirtschaftswachstum summieren sich innerhalb der kommenden achtzig Jahre – der Lebensspanne heute geborener Kinder – auf rund 2,8 Billionen (2800 Milliarden) Euro.«23

Ich finde diese Menge an Expertenmeinungen ausreichend überzeugend! Offenbar sind sich die Fachleute darin einig, dass dieses bestehende Schulsystem den Schülern allzu oft eher schadet und dem Arbeitsmarkt bestenfalls würdelose Handlanger liefert, die jeder Chance beraubt wurden, sich auf dem freien Markt mit individuellen Kernkompetenzen selbstständig zu machen. Wem jetzt hier noch nicht genug vor Augen geführt wurde, dass Schulen nicht dazu da sind, Ihre Kinder zu fördern und zu bilden, sondern im Gegenteil, einen niveaulosen Einheitsbrei aus den Potenzialen der Kinder anzurühren, werfe bitte einfach einen Blick in den Schulalltag.

Beispielsweise habe ich neulich von einer Lehrerin gehört, dass in eine gewöhnliche deutsche Grundschulklasse Migrantenkinder gesetzt werden, die kein Wort Deutsch sprechen, wohl in der Absicht, dass diese dadurch automatisch die deutsche Sprache erlernen. Nun ist es aber so, dass kein Lehrer diese ausländischen Kinder stundenlang wie Taubstumme herumsitzen und sich ihrem Schicksal überlassen will. Zum Glück bringen Lehrer so etwas nicht fertig, sondern versuchen mit besonderer Geduld und Zuwendung, die sprachlichen Defizite auszugleichen, damit das Migrantenkind eine Chance hat mitzukommen. Der Rest der Klasse wird dann allerdings durch die zusätzliche Beschäftigung mit der Sprache anstelle mit den eigentlichen Lerninhalten sowie dem Absenken des Sprachniveaus im Lerntempo enorm gebremst. Das Ergebnis: Die Eltern der Deutschen sind empört, die Lehrer überfordert, und die Ausländer fühlen sich wie unliebsame Fremdlinge. Es soll mir kein Kultusminister und keine Lehrplankonferenz erzählen, dass dies nicht abzusehen war. Genau das gleiche Dilemma gibt es bei der Inklusion, wo seit einiger Zeit Kinder mit Behinderung mit Nichtbehinderten in Klassen gemischt werden. Mit etwas Glück fühlen sich die Gehandicapten nicht als »Bremser«, »Außenseiter« und »Behinderte«. Mit Glück fühlen sich die anderen nicht gestört, benachteiligt und zur besonderen Rücksichtnahme gezwungen. Aber wollen wir das Wohl unserer Kinder vom Faktor »Glück« abhängig machen? Das wäre so, als würde ein Monsanto-Vorstandsvorsitzender einen Regentanz machen, damit das Saatgut, das der Konzern verkauft, auch wirklich auf dem Acker des Landwirtes aufgeht.

Übrigens, nur um darüber gesprochen zu haben: Laut § 20 Artikel 1, Absatz 2 der Allgemeinen Dienstordnung für Lehrer und Lehrerinnen, Schulleiter und Schulleiterinnen an öffentlichen Schulen in NRW (ADO) hat ein Schuldirektor die Verantwortung für die Bildungsarbeit an seiner Schule.

 

»Dem Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule entsprechend soll der Schulleiter oder die Schulleiterin dafür Sorge tragen, dass neue Erkenntnisse und Ergebnisse der Fach- und Erziehungswissenschaften in die schulische Arbeit eingebracht werden.«24 Da die ADO Bestandteil des Schulverwaltungsgesetzes ist, macht sich ein Schulleiter genau genommen strafbar, wenn er die Erkenntnisse der oben genannten Forscher und Wissenschaftler nicht im Schulalltag umsetzt. Aber bevor Sie jetzt mit dem Gesetzbuch in der Hand auf den Direx losgehen – Absatz 1 des gleichen Paragrafen zwingt ihn dazu, darauf hinzuwirken, »dass der Unterricht den Richtlinien und Lehrplänen entspricht«. Also vergessen wir die Revolte gleich wieder. Solange sich die Richtlinien und Lehrpläne nicht ändern, ändert sich im Unterricht gar nichts.

Meiner Ansicht nach ist Schule damit eine gesellschaftlich institutionalisierte Demütigungsanstalt, geschaffen, um Kindern den Willen zu brechen und ihre Kreativität und Intelligenz abzutöten. Da das politisch und wirtschaftlich gewollt zu sein scheint, wird das Schulsystem wohl noch eine Weile so fortbestehen. Wenn wir also nicht die Schule verändern können, bleibt folglich nur eines.

Beschützen Sie Ihr Kind vor der Schule!

Zur Einstimmung auf dieses Kapitel möchte ich den Brief eines Schulleiters an die Eltern seiner Schüler voranstellen. Dieser Brief kursiert seit einigen Jahren im Internet. Und selbst wenn dieser Brief noch nicht einmal authentisch sein sollte, er bringt etwas sehr Wichtiges auf den Punkt. Lesen Sie selbst:

»Liebe Eltern,

die Prüfungen Ihrer Kinder stehen bevor. Ich weiß, dass Sie alle hoffen, dass Ihr Kind gut abschneiden wird. Aber bitte denken Sie daran, dass unter den Schülern bei der Prüfung ein Künstler sein wird, der Mathe nicht verstehen muss. Unter ihnen ist auch ein Unternehmer, dem die Geschichte der englischen Literatur egal ist. Unter ihnen ist ein Musiker, dessen Chemie-Note nicht wichtig ist. Wenn Ihr Kind gute Noten bekommt, dann ist das super. Und wenn das nicht der Fall ist, dann rauben Sie ihm bitte nicht sein Selbstbewusstsein und seine Würde. Sagen Sie Ihrem Kind, dass es okay ist. Es ist nur eine Prüfung. Ihr Kind ist für viel größere Dinge bestimmt. Sagen Sie Ihrem Kind, dass Sie es lieben und es nicht verurteilen werden, egal welche Noten es bekommt. Sie werden sehen, wie Ihr Kind die Welt erobern wird. Eine Prüfung oder eine schlechte Note wird es nicht seines Talents berauben. Und bitte glauben Sie nicht, dass Ärzte und Ingenieure die einzigen glücklichen Menschen auf der Welt sind.

Ihr Schulleiter«25

Wie ich sagte: auf den Punkt, oder? Einige Eltern glauben zwar, dass Disziplin und Ehrgeiz erforderlich wären, damit aus den Kindern etwas werden könne. Andere merken jedoch an, dass es das Schulsystem selbst sei, dass diesen Notenstress verursache. Ich für meinen Teil empfehle dringend: Nehmen Sie den Druck raus, und machen Sie sich nicht zum Hilfssheriff des Schulsystems. Die Schule ist nicht die wichtigste Zeit im Leben eines Menschen und ohnehin nicht die längste. Und vergessen Sie Nachhilfe – die ist hier nicht die Lösung. Mit einem Umsatzvolumen von rund einer Milliarde Euro pro Jahr in Deutschland (2019) stützen Eltern damit doch auch noch das Symptom des kranken Schulsystems. Zu Hause auf Privatrechnung ausbügeln, was in der Schule mit Steuergeldern verbockt wurde, hilft keinem. Nachhilfe zeigt dem Kind – und seinen Mitschülern – nur, dass es offenbar ein schulischer Problemfall ist. Das ist nicht besonders gut fürs Selbstwertgefühl.

Schule muss auch nicht »Spaß machen«, denn zum Spaß haben geht man nicht in die Schule. Schule muss einfach wieder erträglich für alle Beteiligten werden, denn das ist sie nicht, wenn man Lehrer, Eltern, Schüler oder Schulleiter fragt.

Irgendwann ist die Schule ohnehin vorbei, und niemand interessiert sich danach ernsthaft für die Noten aus dieser Zeit. Noten sind selbstverständlich nicht völlig egal, aber man sollte es auch nicht damit übertreiben. Das zum Beispiel ist bei der Jobsuche ein wichtiges Detail. Ein kluger Personalleiter, der diese Bezeichnung auch verdient, weiß, dass eine schlechte Schulnote lediglich etwas darüber aussagt, ob sich der Lehrer vom Schüler verstanden fühlte oder nicht. Und wenn ein Schüler permanent und ausschließlich »Einser« auf dem Zeugnis hat, so ist das meiner Ansicht sehr verdächtig, zeigt dies doch, dass das Kind entweder völlig unterfordert ist oder sein nicht schulisches Leben offenbar aufgegeben hat, also sich rein nur noch in der sozialen Rolle als Schüler bzw. als Sohn/Tochter und nicht als mündiger, eigenständiger Mensch definiert. Ein solcher Mensch ist in der akuten Gefahr, sich von Bewertungen anderer abhängig zu machen.

Natürlich wollen Sie das Beste für Ihr Kind. Doch wenn Sie nun denken, dass ein Schüler mit einem Einser-Zeugnis die größten Chancen hat, in seiner künftigen beruflichen Anstellung glücklich zu werden, weil er sich ja jede gewünschte Stelle aussuchen kann, so irren Sie. Es gibt weder eine bewiesene Korrelation zwischen Arbeitszufriedenheit und dem Gehalt noch eine absolute Beziehung zwischen dem Gehalt und den Schulnoten. Mehr noch: Sie können davon ausgehen, dass ein »Summa-cum-laude-Student« aller Wahrscheinlichkeit nach durch die Abhängigkeit von Anerkennung eher ein gefundenes Fressen für Erfolgsausbeuter wird, die ihn eines Tages an den Rand eines Burn-outs bringen. Bleiben Sie also bitte auf dem Teppich und verhindern Sie schulisches Extremverhalten. »Zu gut« ist genauso gefährlich wie »zu schlecht«! Wer permanente Höchstleistungen verspricht, der wird darauf festgenagelt, sie auch gefälligst permanent zu bringen. Ein belastbares Zeugnis hingegen lässt Raum für gelegentliches Mittelmaß.

Die erfolgreichsten und zufriedensten Menschen sind nicht die mit den perfektesten Schulnoten, sondern wohl eher diejenigen, die flexibel, frustrationstolerant und selbstsicher ihre eigenen Visionen im harmonischen Miteinander verwirklichen. Ich kenne sehr viele Eltern, die sich wegen eines einzigen »Befriedigend« auf dem Zeugnis Sorgen um das Kind machen und in Förderaktivismus verfallen. Man sollte sich hier eher Sorgen um das Kind wegen solcher Eltern machen. Der oben schon zitierte Kinderpsychiater Dr. Winterhoff spricht von ganz normalen Eltern, die aus purer Verzweiflung und Überforderung in einem gewissen »Förderwahn« ihre Kinder massiv unter Druck setzen, bis die sogar krank werden. Die eigene Angst vor dem Scheitern wird dabei unbewusst auf das Kind übertragen. Eltern, die selbst Angst vor dem Versagen haben, projizieren sich auf die Kinder und wollen sie mit aller Macht vor den eigenen Befürchtungen schützen. Hierdurch verlieren die Kinder die Notwendigkeit und auch die Fähigkeit, soziale Kompetenzen, Frustrationstoleranz, Empathie oder auch nur Problemlösungsdenken zu entwickeln. Sie sind gewöhnt, dass die Eltern alles regeln, und bleiben von der Reife der Persönlichkeit her in der Kindheit stecken.

Die erste Sechs ist die schlimmste

Als ein Beispiel dafür, wie man Kinder vor der Schule beschützt, erzähle ich in meinen Vorträgen manchmal folgende private Geschichte: Als meine damals elfjährige Ziehtochter eines Tages einmal überaus niedergeschlagen von der Schule (Gymnasium) nach Hause kam und sich eigentlich sofort in ihr Zimmer verkrümeln wollte, begrüßte ich sie betont gut gelaunt und fragte sie scheinbar ganz unbedarft, was denn los sei. Sie entgegnete mit zusammengepressten Zähnen: »Wir haben die Mathearbeit wiederbekommen.« Damit war klar, dass das weder eine Vier (die kannte sie schon aus der Grundschule) noch eine Fünf (auch damit hatte sie kürzlich schon einmal Bekanntschaft gemacht), sondern ein Volltreffer daneben war – eine Sechs. Ich sagte zu ihr: »Hey, komm mal her. Setz dich.« Sie sah mich an wie jemand, der gleich eine zehnjährige Haftstrafe wegen Nasenbohrens bekommt, und war den Tränen nahe. Ich sagte zu ihr: »Schätzchen, das ist deine erste Sechs, nicht deine letzte. Du wirst in deiner Schulzeit noch soo viele Sechsen und Fünfen schreiben. Na und? Das habe ich doch auch getan. Das ist doch nicht schlimm. Hat mich das daran gehindert, mein Abi zu machen und zu studieren? Nein! Also, es interessiert doch niemanden wirklich, welche Schulnoten du mal hattest. Wichtig ist doch nur der Durchschnitt in deinem letzten Zeugnis, denn damit machst du dir die Tür zu weiteren Möglichkeiten auf oder zu. Außerdem zeigt die Sechs doch nicht, ob du intelligent oder dumm bist, die zeigt doch nur, dass deine Mathelehrerin nicht in der Lage war, dir Mathe beizubringen, sonst hättest du doch keine Sechs. Und sie zeigt, dass du nicht bereit warst, es ihr zu ermöglichen, sonst hätten ja alle in der Klasse eine Sechs. Also: ›Sechs für unfähige Lehrerin‹ und ›Sechs für kleine Zicke‹, aber nicht ›Sechs für dummes Mädchen‹!« Sie können sich vorstellen, dass die Kleine mich in dem Moment genauso fassungslos ansah, wie Sie jetzt selbst wahrscheinlich gerade gucken. Ich fuhr fort: »Außerdem willst du doch sowieso Sängerin werden, was willst du denn mit Mathe? Gleiche das doch einfach mit irgendetwas anderem wieder aus.« Was soll ich Ihnen sagen? Die nächste Mathematikarbeit wurde eine Zwei, nicht weil sie dafür paukte und büffelte, sondern weil sie keine Angst mehr vor dem Ergebnis hatte. Das ging so weit, dass sie später sogar Mathematik im Leistungskurs als Abifach wählte. Mittlerweile ist sie erwachsen, studiert an der Uni »Populäre Musik und Medien« und komponiert mit Erfolg ihre eigenen Songs.

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