Mischpoche

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

So war das also mit den Kapuszczaks, Narutinskys, Woprschaleks und Szentszerenyis. Sie hatten, historisch gesehen, auf das falsche Pferd gesetzt und eine Rechnung bezahlen müssen, für die jemand anderer verantwortlich zeichnete. Und jetzt gerierten sich diese Männer als Deutschnationale, in der Hoffnung, diesmal auf das richtige Pferd zu setzen. In Wirklichkeit, so wusste Bron­stein, hatten diese Menschen ihre Heimat schon verloren, als sie sich bereit erklärt hatten, einem Herrn zu dienen, der von den Landsleuten als Fremdkörper empfunden worden war. Und so waren sie selbst zu Fremdkörpern geworden – dort wie hier. Bronstein bemühte sich um ein mitfühlendes Lächeln und klopfte Kapuszczak auf die Schulter. »Das haben S’ eben sehr gut g’macht. Gratulation, Herr Kollege.«

Es ging hart auf 6 Uhr abends, als Bronstein den Verhörraum betrat. Matauschek saß da wie das sprichwörtliche Häuflein Elend und versuchte verzweifelt, ein Zittern seiner Hände zu unterdrücken.

»Wo ist s’, die Deinige?«

Matauschek schüttelte heftig den Kopf. »Die Rosa, die kriegts ihr ned a no!«

»Sei ned dumm, Bua. Ohne die Klunker kummt die ja eh ned weit. Und wenn wir s’ jetzt kassieren, dann macht s’ wenigstens ned noch einen Blödsinn.«

Matauschek bemühte sich um eine Steher-Pose.

»Hörst, Bürscherl. Du hättest die Alte fast umbracht, ist dir das klar? Jetzt hast noch eine Chance, dass d’ mit Raub und Körperverletzung im Affekt davonkommst. Das sind, na, drei bis vier Jahr, und des vielleicht ned amoi am Felsen. Aber wennst bockig bist, dann machen wir ganz schnell einen versuchten Mord mit schwerem Raub draus. Das sind dann 15 Jahr Stein. Mindestens. Also überleg’ dir gut, ob du parierst oder ned.«

Matauschek entglitten die Züge: »15 Jahr’?«

Bronstein nickte gewichtig.

»Taborstraßen 2. Im Hinterhaus. Da is’ so eine verlassene Schupf’n, da hamma übernachtet. Und dort wartet sie auf mich.« Die letzten Worte waren fast tonlos aus Matauschek herausgekommen. Gleich danach vergrub er sein Gesicht in seinen Händen und fing tatsächlich zu schluchzen an.

»Ich hab das alles ned wollen«, greinte er, »ich wollt’ doch nur das Geld. Die Rosl hat g’sagt, mit dem Gerstl von der Alten können wir wieder ein halbes Jahr gscheid leben. Ich hab ja ned g’wusst, dass die alte Vettel ihr’n depperten Kasten zusperrt. Ich hab g’rüttelt wie ein Wilder, aber der is einfach ned aufgangen. Also hab i des Hackl g’nommen, mit dem das Holz für’n Ofen g’macht wird. Und dann war’s auf einmal wieder da, und i hab ned g’wusst, was i jetzt machen soll. In meiner Angst hab’ i aufg’rieben. Ich hab’ g’hofft, die fallt uns in Ohnmacht. Aber na, die hat zum Schreien ang’fangen, und da wollt ich nur, dass sie ruhig ist. Des war alles.«

»Na servas, ein Gemütsmensch«, resümierte Bronstein angewidert. Dann fuhr er fort: »Und wie bist auf den Tajtelbaum kommen?«

»Den kenn ich noch vom Krieg. Der hat in Galizien eine illegale Schnapsbrennerei g’habt, bei der die Armee aus und eingangen ist. Und im 18er Jahr ist er mit uns in den Westen g’flüchtet, weil er Angst g’habt hat, die Polen hängen ihn am nächsten Baum auf. Und seitdem lebt der da in der Leopoldstadt. Der stellt keine Fragen, wenn man ihm was vorbeibringt.«

Eigentlich musste er diesem Vorwurf nachgehen, dachte Bronstein, aber jemand wie Tajtelbaum war ohnehin gestraft genug vom Leben, also konnte man diesen Hinweis getrost außer Acht lassen. Auch mit Matauschek war er eigentlich fertig.

»In Ordnung, bringt ihn in die Zelle. Jetzt holen wir uns seine Eva.«

Die Pichler leistete keinerlei Widerstand, als die Beamten kurz vor 7 Uhr den halbverfallenen Schuppen stürmten. »Na ja«, zuckte sie mit den Schultern, »wieder einmal Logis auf Staatskosten. Was wird’s denn werden? Wiener Neustadt? Für’n Mittersteig geht’s sich ja wahrscheinlich ned aus, was?«

»Wohl kaum. Unter drei Jahr geht’s dermalen ned ab.«

»Das hab’ ich mir gleich denkt. Der Trottel! Was geht der auch mit dem Hackl auf die Alte los? Ohne den Blödsinn wär’n wir im Frühling wieder draußen.«

»Na ja«, grinste Bronstein, »Frühling wird schon passen. Im 24er Jahr dann.«

»Oaschloch!«

»Nein, Drecksloch. So heißt das, wo du jetzt hinkommst, du faule Frucht.«

Die Pichler wollte noch etwas erwidern, doch Bron­stein wandte sich ab und hieß die Uniformierten, die Pichler auf die Elisabethpromenade zu bringen. Er erinnerte sich an die Aktendeckel. Bald würde er wieder einen schließen können. Und mit dem weinerlichen Matauschek und der stahlharten Pichler mochten sich die Geschworenen herumplagen.

Es verging eine halbe Ewigkeit, ehe Bronstein wieder über den Fall Pichler/Matauschek stolperte. Ende Oktober bekam er eine Vorladung für den Schwurgerichtssaal, wo am 5. November gegen die beiden verhandelt werden würde, weshalb er, wie im Übrigen auch Pokorny und Kapuszczak, seine Aussage würde machen müssen. Unwillkürlich ertappte er sich bei der Frage, ob Letzterer überhaupt in der Lage sein würde, einem Verhör in deutscher Sprache folgen zu können. Wäre doch zu peinlich, wenn ein Staatsbeamter einen Dolmetscher für die Staatssprache benötigen würde.

Unvermittelt wurde er aus seinen Gedanken gerissen. »Da ist jemand für Sie, Herr Oberleutnant«, sagte der Bürodiener. Bronstein bedeutete ihm, die betreffende Person vorzulassen. Ein unscheinbares Ding von leidlich 20 Jahren kam in devoter Haltung auf ihn zu. Die Frau wartete, bis sie mit Bronstein allein im Raum war. Dann kramte sie in ihrem Korb herum und zog ein abgewetztes Stück Papier hervor. »Das soll ich Ihnen bringen«, flüsterte sie und reichte es ihm über den Tisch.

Bronstein schlug das Kuvert auf und registrierte, dass er einem Schlaganfall näher war als einem geregelten Herzschlag. Seine Augen blickten auf eine Korrespondenzkarte, die vor über einem Jahr im ukrainischen Tarnopol abgestempelt worden war. Mit zittrigen Fingern, für die ihn selbst Matauschek auf der Liesl bedauerte hätte, las er die wenigen Worte, die dort geschrieben standen.

»Lieber David. Es geht mir gut. Mach Dir keine Gedanken. Sobald die Stürme sich gelegt haben, sehen wir uns wieder. Wir leben in spannenden Zeiten. Nutzen wir sie. Ich liebe Dich! Deine stets an Dich denkende Jelka.«

Er schloss die Augen und spürte, wie sich zwei dünne Bäche ihren Weg über seine Wangen bahnten. »Ich hab das alles ned wollen«, dachte er.

1921: Tödlicher Mulatság

»Kollege, gut, dass ich Sie treff’! Ich wollte g’rade zu Ihnen.«

Bronstein sah verwirrt auf. Er war, bewaffnet mit einem Bündel Akten unter dem Arm, eben im Begriff, die zuletzt aufgearbeiteten Fälle ins Archiv zu bringen, und hatte nicht im Traum daran gedacht, dass der Leiter des Staatspolizeilichen Büros ihn ansprechen würde. Ja, er hätte nicht einmal gedacht, dass dieser ihn überhaupt kannte. Umso verwunderlicher war die Anrede gewesen.

Bronstein blieb abrupt stehen und sah den Spitzenbeamten möglichst devot an. »Herr Hofrat, ich muss zugeben, das ist, nun, ein wenig überraschend.«

»Gell«, lachte Bronsteins Gegenüber, »aber wir haben einen sehr heiklen Auftrag zu erledigen, und man sagte mir, dafür wären genau Sie der Richtige.«

»Na, wenn das so ist, Herr Hofrat …, die Akten können warten. Wenn ich Sie bitten dürfte, mir zu folgen.« Bronstein machte kehrt und geleitete den obersten Staatspolizisten in sein kleines Büro am Ende des Korridors. Umständlich, er hatte ja immer noch das Dokumentenkonvolut unter dem Arm, öffnete er die Tür und bat seinen hohen Gast hinein. Drinnen sah Pokorny erschrocken auf, doch eine kaum merkliche Bewegung des staatspolizeilichen Hauptes signalisierte ihm, er solle sich schleunigst rarmachen. Eine Aufforderung, der Pokorny nur allzu gerne nachkam.

Einen Augenblick später saß Bronstein an seinem Schreibtisch und sah seinen Besucher erwartungsvoll an.

»Was wissen Sie, Kollege, über Ödenburg?«, begann dieser vorsichtig.

»Na ja«, antwortete Bronstein nicht minder verhalten, »es gehört endlich wieder uns.«

»Wollen wir es hoffen«, seufzte Bronsteins Visavis, und Bronstein wusste selbstverständlich, worauf dieser Satz anspielte. Zwar hatten die Venediger Protokolle im vergangenen Oktober das gesamte ehemalige Westungarn Österreich zugesprochen, welches das Gebiet auch Anfang des Monats in Besitz genommen hatte, doch just in der vorgesehenen Hauptstadt Ödenburg stand noch eine Volksabstimmung aus, deren Ausgang darüber zu entscheiden hatte, ob Ödenburg bei Österreich verblieb oder aber an Ungarn übergeben werden musste. »Wie auch immer«, fuhr Bronsteins Gast fort, »derzeit verwalten wir dieses nette Städtchen. Und wir mussten feststellen, dass offenbar nicht alle in diesem Städtchen nett sind. Gestern gab es einen Mord. Einen ziemlich üblen sogar, wie es scheint.«

»Aha«, machte Bronstein und fragte sich dabei, was ihn diese Tatsache angehen sollte.

»Nun, wie Sie sich vorstellen können, Kollege, sind wir auf so etwas ganz und gar nicht vorbereitet dort unten. Wir sind ja erst vor einer Woche in Ödenburg eingerückt, und derzeit haben wir dort nur ein Regiment Soldaten und eine Handvoll Landgendarmen stationiert. Von denen weiß kein einziger, wie er mit einem Mordfall umgehen soll.«

Allmählich begann Bronstein zu dämmern, weshalb er aufgesucht worden war.

»Sie meinen also, Herr Hofrat …«

»Ich hab’s doch gewusst, Braunstein, dass Sie Ihr Vaterland nicht im Stich lassen.« Bronsteins Wange zuckte irritiert, und er überlegte einen Augenblick, ob er auf der richtigen Form seines Namens bestehen sollte, doch der Leiter der Staatspolizei fuhr ohne Umschweife in seiner Rede fort. »Ich habe hier schon alles für Sie bereitstellen lassen.« Er zog ein Päckchen Papiere aus seiner Tasche. »Hier ist eine Bahnkarte Zweiter Klasse, hier ein Anweisungsschein für ein Zimmer im Hotel Bauer, das, wie man mir versichert hat, direkt am Hauptplatz steht, und da haben wir auch noch eine Bestallungsurkunde, die Sie zum einzig verantwortlichen Beamten in dieser Sache macht, dem alle zur Verfügung stehenden Kräfte weisungsunterworfen sind.«

 

Obwohl sich Bronstein eingestehen musste, dass ihm vor allem die zuletzt gefallene Formulierung enorm schmeichelte, kam er dennoch nicht umhin, die entscheidende Frage zu stellen: »Warum, bitte schön, ich?«

»Weil wir, wie gesagt, keine zuständigen Behörden vor Ort haben. Wir brauchen jemanden, der auf dem Gebiet von Leib und Leben ein ausgewiesener Fachmann ist, und der …«

Bronstein wartete einen Augenblick, doch sein Gegenüber kratzte sich nur verlegen am Hinterkopf.

»… der?«

»Nun ja, was soll ich da lange um den heißen Brei herumreden, Kollege! Sie wissen selbst, in zwei Wochen ist Weihnachten, und wer kann schon sagen, ob der Fall so schnell gelöst werden kann. Wir brauchen da unten jemanden, der ungebunden ist und nicht wegen der Feiertage um Urlaub einkommt.«

Na bestens, dachte Bronstein verbittert. Nicht nur, dass er nach wie vor von der holden Weiblichkeit samt und sonders verschmäht wurde, jetzt richtete sich dieser ohnehin schon furchtbare Tatbestand noch zusätzlich gegen ihn. Anstatt unter dem Baum mit der Liebsten Franz Xaver Gruber zu würdigen, würde er am Weihnachtsabend in einem trostlosen Provinznest in einer abgetakelten Absteige mit irgendeinem Fusel mit sich selbst anstoßen. Was für eine Perspektive!

»Es täte sich für Sie natürlich lohnen«, fuhr der Spitzenbeamte in der Zwischenzeit fort, da er Bronsteins Schweigen als ein Zögern wertete. »Sie bekämen nach Abschluss Ihrer Mission Sonderurlaub, und im Erfolgsfall natürlich eine entsprechende Belohnung.«

Bronstein seufzte. »Wann soll ich fahren?«

Sein Gegenüber strahlte. »Der Zug geht um 14 Uhr. Sie haben noch genügend Zeit für ein ansprechendes Mittagessen.«

»Na dann«, sagte Bronstein mit einem Hauch Sarkasmus in der Stimme, auf den sein Besucher jedoch nicht näher einging. Vielmehr erhob sich dieser, legte die Unterlagen Bronstein vor die Nase und meinte, bereits zur Tür gewandt: »Sie sind in dieser Sache allein mir persönlich berichtspflichtig. Ich habe Ihnen meine Fernsprechnummern notieren lassen, unter denen Sie mich Tag und Nacht erreichen können. In Ödenburg selbst wird Ihnen von der Armee ein Feldtelefon zur Verfügung gestellt. Außerdem unterstehen Ihnen dort fünf Gendarmen und zwei Soldaten. Wenn Sie mit dieser Truppe nicht das Auslangen finden, dann können Sie jederzeit mehr Mannschaften beantragen. Wie gesagt, in dieser Causa sind Sie in Ödenburg Kaiser und Gott.«

»Na, das möge Letzterer abhüten«, erging sich Bron­stein in einem Anflug von Galgenhumor, »ich glaube nicht, dass ein Kaiser dort im Augenblick sehr populär wär’.«

»Auch wieder wahr«, grinste der Staatspolizist und griff nach der Türschnalle. »Alsdern, ich erwarte morgen früh Ihren ersten fernmündlichen Bericht.«

»Sehr wohl, Herr Hofrat.«

Doch diesen Satz hatte der Mann wohl nicht mehr gehört. In erstaunlicher Eile war dieser auf den Gang getreten und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Bron­stein kam jedoch kaum zum Durchatmen, als sich die Pforte neuerlich öffnete. Pokorny grinste erwartungsvoll: »Na, was hat er wollen, der Oberhäuptling?«

»Dass ich jetzt essen geh’«, replizierte Bronstein lakonisch und verließ spornstreichs den Raum.

Wenige Minuten vor zwei Uhr nachmittags traf er am Südbahnhof ein. Ein kurzer Blick auf die Anzeigetafel verriet ihm, auf welchen Bahnsteig er sich zu begeben hatte. Als er des Zugs ansichtig wurde, war wieder einmal ein Seufzer angesagt. Natürlich bestand dieser Zeiserlwagen lediglich aus ein paar verkommenen Waggons, die sämtlich drittklassig waren. Seine Fahrkarte war nichts als ein übler Scherz der Bahndirektion. Ebenso gut hätte man ihm ein Ticket erster Klasse ausstellen können, ihm blieb es dennoch nicht erspart, sich mit Bauern, Viehhirten und gestrandeten Existenzen auf einer der harten Holzbänke niederzulassen und darauf zu hoffen, die Fahrt möge nicht allzu lange dauern.

Missmutig zündete er sich eine Zigarette an und hoffte, es würde ihn wenigstens niemand behelligen.

Keine Minute später saß ein feister Mittfünfziger mit kahlem Schädel, ungesunder Gesichtsfarbe und der leuchtend roten Nase eines Alkoholikers auf der Sitzbank gegenüber. »Wohin fahren wir denn, Euer Gnaden?«

Bronstein überlegte kurz, ob er vorwitzig mit »Das weiß ich nicht, wohin WIR fahren« antworten sollte, doch ahnte er, eine derartige Replik hätte den Fahrgast intellektuell überfordert und damit möglicherweise bloß aggressiv gemacht. Und einen Streithandel konnte Bron­stein wahrlich nicht brauchen. Also sagte er bloß: »Ödenburg.«

»Na servus, da haben S’ ja eine wahre Odyssee vor sich, Euer Gnaden«, plauderte der Glatzkopf munter drauflos. »Zuerst einmal geht’s da jetzt ewig lang die Pottendorfer Linie entlang, nicht wahr. Meidling, Inzersdorf, Hennersdorf, Achau, Münchendorf, Ebreichsdorf. Dann kommen Weigelsdorf, Grammat Neusiedl, Reisenberg. Dann Unterwaltersdorf, Wampersdorf …«

Bronstein dachte sich, er hätte zu Mittag doch nicht so üppig zulangen sollen. Allein die Auflistung all dieser trostlosen Dorfnamen brachte seine Peristaltik nachhaltig in Wallung. Er wollte abwinken und dem ungebetenen Reisegefährten signalisieren, so genau wolle er es gar nicht wissen, doch der Mann war ohnehin nicht zu bremsen.

»Und wenn S’ einmal in Wampersdorf sind, dann ist Ihre Fahrt ja noch lange nicht zu Ende, ned wahr. Da kommen S’ dann erst nach Pottendorf, nach dem die Linie ja heißt, und vier Kilometer später sind S’ dann in Ebenfurth.«

Bronstein wünschte sich, der redselige Geselle wäre auch ›eben furt‹, und doch wusste er, der Vortrag würde ungebremst weitergehen. Er ahnte, was jetzt kam. In der Tat erläuterte die Schnapsnase wortreich, dass Bron­stein in Ebenfurth aussteigen müsse, um die Linie zu wechseln. Mit der Raaber Bahn müsse er sodann nach Neufeld an der Leitha fahren, von dort ginge es nach Wulkaprodersdorf und Baumgarten, ehe endlich, nach Myriaden von Äonen, wie der feiste Mensch mit zweideutigem Grinsen verlauten ließ, Ödenburg erreicht sei. Natürlich hatte sich Bronstein am Fahrplan kundig gemacht, und die ganze Reise war objektiv kaum der Erwähnung wert. Von Wien bis Ebenfurth waren es 38 Kilometer, für welche der Zug 47 Minuten benötigte. Punkt 15 Uhr ging der Anschlusszug nach Raab, wobei dieser 32 Kilometer bis Ödenburg zurückzulegen hatte, wo er planmäßig um 15.45 Uhr eintreffen sollte. Lauschte man jedoch den Emanationen des Kahlkopfs, dann war der Vergleich mit den Irrfahrten des Odysseus gar nicht so abwegig. Und wieder einmal seufzte Bronstein. Laut und deutlich.

»Na ja«, hörte er den anderen resümieren, »mir kann’s wurscht sein. Ich steig in Hennersdorf aus.«

Bronstein atmete auf. Der Zug hielt eben in Inzersdorf. Schon an der nächsten Haltestelle würde er von seinem unfreiwilligen Kumpan befreit sein. »Wollen S’ wissen, was ich in Hennersdorf mach’?«, fragte der einstweilen.

»Eher ned«, entgegnete Bronstein und verschränkte die Arme vor dem Bauch. Er lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück und ließ sein Gegenüber schmollend zurück. Fünf Minuten später war Hennersdorf erreicht, und Bronstein hatte das Abteil für sich allein.

Beinahe wäre er eingeschlafen, doch der Schaffner wies ihn noch rechtzeitig darauf hin, dass er in Ebenfurth umsteigen müsse, und so befand sich Bronstein alsbald auf einem verödeten Bahnsteig, neben dem scheinbar sinnlos eine verrostete Dampflok vor sich hin schmauchte. Bron­stein war sich bei ihrem Anblick sicher, dass sie Kaiser Ferdinand schon nach Budweis gebracht hatte, doch ihm blieb keine andere Wahl, als sich diesem alten Schlachtross anzuvertrauen. Wieder zündete er sich eine Zigarette an, dann setzte sich die Lokomotive samt den beiden Waggons, die an sie angekoppelt waren, auch schon in Bewegung.

Sie hatte kaum Fahrt aufgenommen, als der Lokomotivführer schon wieder ein Bremsmanöver einleiten musste, da sich der Bahnhof von Neufeld kaum zwei Kilometer von Ebenfurth entfernt befand.

Danach kamen zwei kleine Weiler, ehe sich endlich der Bahnhof von Ödenburg in Bronsteins Gesichtsfeld drängte. Dieser sah aus wie unzählige andere auf dem Gebiet der einstigen Monarchie, und wie in den meisten Fällen musste man ein gutes Stück Weges zurücklegen, ehe man ins eigentliche Ortszentrum kam. Bronstein dachte kurz darüber nach, sich eine Droschke zu nehmen, doch da man ihm versicherte, es seien keine zehn Fußminuten in die Stadt, und er praktisch kein Gepäck mit sich führte, beschloss er, sich Schusters Rappen anzuvertrauen.

Ödenburg selbst ließ noch recht genau die alte Stadtmauer erkennen, und mit seinen knapp 30.000 Einwohnern war es auch noch nicht sonderlich über diese hinausgewachsen. Das Ensemble prägten eine gotische Kirche, ein Gebäude, das Bronstein für ein Kloster hielt, und einige barocke Bürgerhäuser. Tatsächlich fand sich in unmittelbarer Nähe des Gotteshauses ein kleines Palais, auf dem ein Schild davon kündete, dass hier das ›Hotel Bauer‹ untergebracht war. Bronstein hielt darauf zu und betrat das Haus.

»Guten Tag zu wünschen. Major Bronstein. Ich müsste avisiert sein«, begrüßte er den Mann, der gelangweilt an der Rezeption lümmelte.

Dieser schnellte wie eine Feder hoch und mimte sofort rege Geschäftigkeit.

»Aber selbstverständlich, Herr Major! Herr Major sind uns schon ave …, avi …, sind uns schon angekündigt worden. Zimmer 1. Das allerbeste des ganzen Hauses. Mit direktem Blick auf St. Ursula. Herr Major werden zufrieden sein.« Dann wandte sich der Portier ab und rief in den hinteren Teil des Hauses laut und vernehmlich: »Ferenc!« Mit entschuldigender Miene richtete er sodann seine Aufmerksamkeit wieder auf Bronstein aus: »Wenn wir in irgendeiner Weise behilflich sein können, dann zögern Sie bitte nicht, es uns wissen zu lassen.«

»Schon recht«, brummte Bronstein und legte eine passende Summe auf den Tresen, welche der Mann eilfertig einstreifte. »Ich werd’ mich erst ein bisserl frischmachen, dann werde ich diese Grabenrunde absolvieren, von der hier jeder spricht, und dann wünsche ich zu speisen.«

»Das können Herr Major getrost hier erledigen. Wir sind auch im Hinblick auf unsere Küche das beste Haus am Platz.«

»Na, wenn das so ist, dann sagen Sie dem Koch, ich bin um 6 gestellt. Und wahrscheinlich diniere ich nicht allein, denn Ihre Aufgabe, guter Mann, wird es sein, mir den Postenkommandanten und den Kommandierenden des hierortigen Regiments einzubestellen.«

»Keine Sorge, Herr Major, Ferenc wird sich darum kümmern.«

Wie auf’s Stichwort kam ein kleiner Junge von etwa 12, 13 Jahren angeschossen, begierig, Bronsteins Gepäck aufzunehmen. Als er aber nirgendwo Koffer sah, blickte er verwirrt um sich, und seine Arme hingen schlaff vom Körper.

Bronstein lächelte. »Ist schon gut, ich hab’ gar kein Gepäck bei mir. Aber da hast für deinen guten Willen, und dafür, dass du danach machst, was dir der Herr Portier anschafft.«

Ferenc blickte auf die Kronen, dann auf Bronstein und nickte dankbar. Bronstein lächelte und ließ sich dann den Weg zu seinem Quartier weisen. Ehe er in den ersten Stock hochstieg, fragte er noch nach den vorhandenen Zeitungen, doch außer dem ›Pester Lloyd‹ war, wie sich zeigte, kein Blatt vorrätig. Resigniert nahm er selbiges an sich und anschließend die Treppe.

»Na servus«, dachte er sich, nachdem er die Zimmertür geöffnet hatte, »wenn das das beste Haus am Platz ist, dann möcht’ ich nicht wissen, wie die anderen ausschauen.« Tatsächlich war der Raum beengend klein und wies gerade ein schmales Bett samt Nachtkästchen auf. An der gegenüberliegenden Wand stand ein einfacher Holztisch samt Sessel, daneben fand noch ein ebenso hölzerner Spind Platz. Das einzige Fenster wies zwar tatsächlich in Richtung Kirche, doch war es so klein, dass es kaum Licht ins Innere ließ. Was Bronstein umso mehr auffiel, als es nun bereits merklich dunkelte, sodass er sich die Frage stellte, ob er wirklich noch einen Spaziergang unternehmen sollte.

Die diesbezügliche Entscheidung war rasch gefällt. Er ließ sich auf das Bett fallen und begann, im ›Lloyd‹ zu schmökern. Ein erster Blick überzeugte ihn davon, dass es sich um die Ausgabe des 7. Dezember handelte, also tatsächlich vom Tage war. Mit etwas Glück, so dachte er, würde er bereits eine Notiz über den Mordfall finden, sodass er bei seinem Treffen mit den örtlichen Behörden nicht mehr vollkommen ahnungslos war. Doch seine Suche schien nicht von Erfolg gekrönt. Ihn erstaunte der umfassende auslandspolitische Teil, der ihm sogar mitteilte, dass in Jugoslawien der Achtstundentag eingeführt, dass in London Engländer und Iren über einen Ausweg aus dem Unabhängigkeitskrieg verhandelten und in der Schweiz ein Sozialist namens Klöti Parlamentspräsident geworden war, er erfuhr zudem alles über die Liquidation der Besitztümer des Königs, wie man Kaiser Karl im ehemaligen ungarischen Reichsteil beharrlich titulierte, und über die komplizierten Verhandlungen der Koalitionsparteien in der Budapester Zentralregierung, doch zum Mordfall in Ödenburg war keine Zeile zu finden. Mehr noch, obwohl es bis zur Volksabstimmung nur noch wenige Tage waren, vermied das Blatt überhaupt jeden Hinweis auf die umstrittene Stadt.

 

Dachte er jedenfalls.

Umso erstaunter war er, als die politische Propaganda zum Thema auf der dritten Seite voll einsetzte. Warum hatte er auch von hinten zu lesen begonnen, schalt er sich. Wie einen doch das Wort ›Lokalnachrichten‹ in die Irre führen konnte! Doch nach der Lektüre der vier Artikel, die sich des Themas Ödenburg angenommen hatten, war er auch nicht klüger. Die ungarische Seite beklagte unfaire Einmischung der Österreicher, welche die Abstimmung in ihrem Sinne mittels Flugzetteln zu beeinflussen trachteten. Bronstein kannte diese politischen Spielchen, und sie ermüdeten ihn schon in Wien. Da brauchte er nicht auch noch derartige Aufführungen auf anderen Schmierentheatern über sich ergehen zu lassen.

Mittlerweile hatte die Dunkelheit endgültig über den Tag obsiegt, und Bronstein beschloss, sich noch ein wenig die Beine zu vertreten, ehe er die beiden Männer im Restaurant zu empfangen gedachte. Die empfindliche Kälte trieb ihn jedoch rasch in sein Hotel zurück, und so verkürzte er sich die Wartezeit mit einem Schnaps und einigen Zigaretten.

Eine Stunde später waren die beiden Amtsträger, um deren Erscheinen er ersucht hatte, bereits in voller Fahrt. Der Armeeoffizier beschränkte sich auf eine allgemeine Einschätzung der Lage, die Ausführungen zum eigentlichen Grund von Bronsteins Anwesenheit überließ er dem Gendarmen.

»Also, wir haben den Toten gestern gegen 10 Uhr abends gefunden«, begann dieser. »Hermann Bürkl, 45, ein örtlicher Tabakverschleißer und Kurzwarenhändler.«

»Kurzwarenhändler?«, fragte Bronstein.

»Na ja, er hat Knöpfe, Nadeln, Zwirn und solche Sachen verkauft. Dazu hat er aber eben eine Trafikkonzession besessen.« Bronstein nickte.

»Wir glauben natürlich, dass Bürkls Ermordung etwas mit der Volksabstimmung zu tun hat, denn der Bürkl hat sich sehr für einen Verbleib von Ödenburg bei Österreich eingesetzt. Dementsprechend verhasst war er der ungarischen Seite.«

Bronstein nickte abermals: »Und wie ist er jetzt genau umgebracht worden?«

»Ich habe mir schon gedacht, Herr Major, dass Sie das fragen werden. Darum habe ich gleich heute Vormittag den Bericht zusammengestellt.« Der Gendarm übergab Bronstein einen Pappendeckel, in dem sich zwei Seiten beschriebenen Papiers befanden. Bronstein begann sofort, deren Inhalt zu studieren.

Demnach war Bürkl hinterrücks mit einem spitzen, scharfen Gegenstand erstochen worden. Die Tatwaffe war links unterhalb der Rippen in den Körper eingedrungen und dabei steil nach oben direkt ins Herz vorgestoßen. Der Mann war wohl verhältnismäßig schnell verblutet. Anhand der Wunde könne man aber nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es sich nun um ein Messer, ein Bajonett oder einen sonstigen Gegenstand handelte, der Bürkls Lebensfaden jäh durchtrennt hatte. »Wahrscheinlich war’s eine Stricknadel«, gab Bronstein glucksend von sich. Die beiden anderen sahen ihn verwundert an. »Na ja«, erklärte er, »weil der Mann doch Kurzwarenhändler war.«

Er war sichtlich der Einzige, der dieses Bonmot belustigend fand.

»Nun gut«, fuhr er daher aufgeräumt fort, »was muss ich über ihn wissen?«

»Äh, wie meinen S’ das jetzt?«

Bronstein beeilte sich, die Scharte mit der Stricknadel wieder auszuwetzen: »Na, war er verheiratet, hatte er Kinder, betrieb er sein Geschäft allein oder gibt’s da Angestellte. Sein Umfeld, meine Herren! Sein Umfeld. Das ist fast immer der Dreh- und Angelpunkt eines Verbrechens! Haben Sie sich da noch nicht umgetan?«

Der Gendarm und der Offizier sahen sich an und zuckten gleichzeitig mit den Schultern. Dann wendeten sie sich synchron Bronstein zu: »Wozu? Den haben sowieso die Ungarn g’macht!«

Bronstein mimte den Erstaunten. »Ah so? Und wie kommen Sie zu dieser Erkenntnis?«

»Na, das haben wir Ihnen doch schon g’sagt. Der Bürkl war der Leiter des hiesigen Agitationsbüros.«

»Und das heißt jetzt nachher was?«

»Na, er hat die Aktivitäten der österreichischen Seite koordiniert, die was auf die Beibehaltung des gegenwärtigen Status Ödenburgs abzielen.«

Bronstein machte ein ratloses Gesicht.

»Der Kollege meint, er wollt’ dafür sorgen, dass Ödenburg bei Österreich bleibt«, übersetzte der Offizier die Ausführungen des Gendarmen.

»Ah, und deswegen meinen S’ gleich, dass die Ungarn ihn aus dem Weg geräumt haben? Ich glaub das, meine Herren, mit Verlaub eher nicht. Dann hätten s’ ihn nämlich erschossen – und nicht hinterrücks erstochen. Bei politisch motivierten Mordtaten treten die Akteure nicht so verstohlen auf«, dozierte er.

»Weiß das die Sisi auch?«

»Ah«, Bronstein verzog seinen Mund zu einem schiefen Grinsen, »der Herr Gendarm ist Historiker.« Er fingerte nach einer Zigarette und versuchte dabei, seinen Ärger auf sich selbst zu kaschieren. Tatsächlich war die Kaiserin seinerzeit mit einer Feile von einem Anarchisten erstochen worden, und der Fall Bürkl sah der damaligen Tat frappant ähnlich.

»Nein, nein, meine Herren, glauben S’ einem alten Hasen«, bemühte er sich um Contenance, »dieser Mord geschah aus anderen Motiven. Und ich werde sie enthüllen.« Er sah demonstrativ auf die Uhr. »Heute können wir eh nichts mehr machen. Holen Sie mich morgen um 9 Uhr hier ab, dann zeigen Sie mir den Tatort, sein Geschäft und sein Umfeld.«

»Morgen?«

»Ja, was spricht dagegen?«

»Aber morgen ist ein Feiertag«, erklärten beide wie aus einem Munde.

»Ah so? Welcher denn, um Himmels willen?« Bron­stein war nicht klar, weshalb ein Donnerstag ein Feiertag sein sollte.

»Na, Mariä Empfängnis! Da geht hier einmal gar nichts. Zuerst ist die heilige Messe, dann der Frühschoppen, und ab Mittag ist sowieso Feiertagsruhe.«

Bronstein versenkte seinen Blick in die Augen seiner Gesprächspartner. Nach einer Weile brach er das Schweigen: »Sie meinen das wirklich ernst, oder?«

Beide nickten.

»Sagen S’ einmal, sind Sie vollkommen wahnsinnig!« Bronstein brauste auf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Glauben Sie ernsthaft, das Verbrechen hält sich an Feiertage? Was«, äffte er theatralisch einen subalternen Beamten nach, »einen Mord haben wir? Aber doch nicht heute! Heute ist St. Fidibus!« Durchdringend fixierte er die beiden Männer und schob mit schneidender Stimme nach: »So können S’ vielleicht eine öde Burg verwalten, aber nicht die Abteilung Leib und Leben! Die Messe lasse ich Ihnen durchgehen, aber unmittelbar danach sind S’ bei mir g’stellt. Verstanden!«

Die beiden Männer raunten missmutig Zustimmung.

»So, jetzt, wo das geklärt ist, sagen Sie mir noch: hatte der Mann Familie und Angestellte oder nicht?«

»Ja und nein.«

»Was heißt das jetzt schon wieder?« Bronsteins Zorn wurde allmählich heftiger.

»Ja, er hatte Familie, und nein, er hatte keine Angestellten«, bemühte sich der Offizier um Konzilianz. Bron­stein zeigte sich versöhnt.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?