Höllenteufel

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„Meine Güte!“, entfuhr es Sarah und ihre Blicke trafen sich mit denen Thomas`, der die widerlichen Artefakte ebenfalls eindringlich musterte.

„Haben wir es möglicherweise mit einer Sekte zu tun? Oder mit schwar­zer Magie?“, fragte sie ihren Partner, der mit den Schultern zuckte, aber nicht auf ihre Frage einging. Also sah sie sich weiter um. Erst jetzt wurde ihr gewahr, dass der schwere Hochlehner, der sich dem riesigen Highboard ge­gen­über an der Wand befand, auf einem Sockel stand, und ihn wie einen Thron erscheinen ließ. Hätte man alles, was sich in diesem Raum befand, in einer großen Halle mit Ge­schick ange­ord­net, hätte das Ergebnis, so gruselig es auch sein mochte, et­was Erhabenes ausgestrahlt. So wie der Saal des Eisernen Throns aus der Fantasy Serie, die sie so gerne an­­sah. Hier aber, auf engem Raum zusammengepfercht, er­weck­­­­ten die Gegen­stände den Eindruck eines Provi­so­ri­ums, bei dem ein Not­behelf die Erfordernisse eines Be­ses­senen befriedigen muss­te. Als sie sich umdrehte, ent­deckte sie auf dem High­board neben einem Blatt Taro-Karten eine nicht hierher passen zu wollende Fernbedienung für ein TV-Gerät oder ei­nen DVD-Player. Obschon sie das dazu­ge­hörige Gerät hinter den Türen des Highboards vermutete und auch die Sicht­­achse zwischen dem Thron und dem Mö­bel erkannte, wider­stand sie der Versuchung, sie zu öffnen und wandte ihre Auf­merk­samkeit wieder ihrem Partner zu. Thomas wies mit seinem Kopf auf die rückwär­tige Seite des Raumes.

Sarah nickte und bewegte sich umsichtig in Richtung der Tür, die zum hinteren Teil der Hütte führen musste. Doch be­vor sie diese erreichte, stockte ihr der Atem! Hinter dem massiven Highboard ragten zwei Beine reglos in den Raum. Der Größe der Schuhe und der Dicke der Unterschenkel nach gehörten sie zu einem Mann, der hinter dem Möbelstück an dessen Seitenwand lehnen musste!

„Thomas!“, flüsterte sie scharf und näherte sich dem Bein­paar mit vorgehaltener Waffe. Ihr Partner kam hinzu, sah so­fort, was Sarahs Aufmerksamkeit erregt hatte, und nahm sei­ne Dienstpistole ebenfalls in Anschlag.

„Vorsicht!“, raunte er halblaut und umrundete Sarah, um ihr Deckung geben zu können. Die Polizistin schob sich lang­sam weiter vor, bis sie den Rest des Mannes sehen konnte, der tatsächlich mit aufgerichtetem Oberkörper halb an der Wand, halb an dem Highboard lehnte. Er saß in einer Lache aus dunklem Blut, seine rechte Hand lag offen im Schoß, sei­ne linke neben dem Oberschenkel auf dem Boden. Beide Hän­de waren blutig und Sarah schlussfolgerte, dass der Un­bekannte sie auf die große Bauchwunde gepresst hatte, die sich unter dem komplett durchtränkten Hemd befinden mus­s­te. Jetzt erkannte Sarah auch Schnitte in den Unter­ar­men. Hals und Gesicht wiesen ebenfalls grässliche, klaf­fende Wunden auf. Der Täter musste mit großer Wut auf sein Op­fer eingestochen haben oder aber, sofort kam Sarah das Mäd­chen wieder in den Sinn, mit panischer Angst ver­sucht ha­ben, sich zu retten. Ohne in die Blutlache zu treten wagte sie sich anzunähern, ging in die Knie und versuchte, an den ge­schlos­senen Augenlidern des Mannes eine Bewegung zu er­kennen, doch es war nicht einmal das geringste Zit­tern zu sehen. Etwas mutiger rutschte sie näher und streckte die linke Hand aus, um möglicherweise einen Puls zu ertasten. Sie be­mühte sich, nicht in das Blut zu fassen, das auch am Hals hin­unterlief, legte die Finger auf die Carotis und hoffte, noch ein Lebens­zeichen feststellen zu können.

Mit einem Mal richtete sich der Körper unter lautem Schrei­en auf! Die blutverschmierte Hand griff nach Sarahs Schulter und das groteske Gesicht näherte sich ihr mit weit aufge­rissenen Augen. Sarah versuchte panisch zu­rückzu­wei­chen, doch der Mann hielt sie mit eisernem Griff! Der laute Schrei ging in ein Gurgeln über. Sekun­denbruchteile darauf schoss ein Schwall Blut aus dem Mund und ergoss sich über Sarahs Jacke und Jeans. Dann würgte und hustete der tödlich Ver­wun­dete und Sarah konnte die Spritzer des warmen Blutes in ihrem Gesicht spüren! Endlich gelang es ihr, sich von dem Mann wegzustoßen. Sie landete unsanft auf dem Boden und war erst jetzt in der Lage, zitternd die Pistole zu heben. Doch trotz des Schreckens und des Ekels realisierte sie, dass keine Gefahr mehr von dem Verletzten ausging. Spasmisch schüt­telte sich sein Körper, ein letztes Röcheln kam über seine Lippen, blutiger Schaum quoll aus dem Mund. Lang­sam kippte er zur Seite. Sarah war sofort klar, dass er in eben diesem Moment den letzten Rest Lebens aus­gehaucht hatte, und sie ließ die Waffe sinken. Sie sah zu Tho­mas, der seine H&K aus dem Anschlag nahm und be­griff, dass er zwar hätte schießen können, aber rechtzeitig er­kannt hatte, dass es sich bei dem vermeintlichen Angriff le­dig­lich um die Reflexe eines unbewaffneten Totgeweihten ge­handelt haben musste. Mit zitternden Händen legte sie die Pistole neben sich, öff­nete die Seitentasche ihrer Winterjacke und brachte eine Packung Papiertaschentücher zum Vor­schein. Diese aufzu­reißen vermochte sie nicht zu bewerk­stelligen, doch Thomas, der seine Pistole weggesteckt hatte, ging neben ihr in die Knie, öffnete die Cellophanhülle, ent­nahm eines der Tücher und wischte Sarah vorsichtig durch das Gesicht. Erst um den Mund, dann um die Augen und schließlich über Nase, Wangen und Stirn. Perplex über das unerwartete Verhalten und dankbar für die Hilfe ihres Part­ners, ließ sie die fast zärtlich anmutende Prozedur über sich ergehen.

„Bist du okay?“, fragte er und fixierte sie eindringlich.

„Ja“, antwortete sie knapp und hauchte noch ein Danke hin­terher.

„Gut! Wir sind nämlich noch nicht fertig!“

Er wandte sich dem unbekannten Mann zu, tastete jetzt sei­ner­seits nach der Halsschlagader und verharrte mit ge­schlos­senen Augen. Kurz darauf sah er zu Sarah und bestätigte mit einem Kopfschütteln, dass das Opfer nunmehr wirklich tot war.

„Reanimieren?“, flüsterte Sarah, doch Thomas` Kopfschüt­teln wurde eindringlicher.

„Sieh dir den Blutverlust an. Und die Anzahl der Stichwun­den. Die Lunge ist sicher etliche Male perforiert. Da ist nichts mehr zu machen. Ein Wunder eigentlich, dass er es bis so lange geschafft hat.“

Er stand auf, reichte ihr die Hand und zog sie mühelos in die Senkrechte. Dann griff er erneut zu seiner Waffe, wartete, bis Sarah die ihre aufgehoben hatte, und wandte sich der Tür zu. Doch bevor sie in den hinteren Teil vordringen konnten, meldete sich der Hundeführer in den Ohrhörern.

„Was war da los? Was war das für ein Schrei?“

„Alles in Ordnung“, beruhigte Sarah in gedämpftem Tonfall den draußen wartenden Kollegen. „Wir hatten einen Vor­fall der minder schweren Art.“

Sie sah ein Schmunzeln über Thomas` Gesicht huschen und konzentrierte sich wieder auf die Tür vor sich. Unter dem Türblatt drang ein schwacher Lichtschein durch und Sarah erinnerte sich, dass sie von außen gesehen hatten, dass der Raum ein wenig beleuchtet war.

„Eigentlich können wir reingehen, oder? Nach dem Lärm wä­re selbst Beethoven in seinen späten Jahren auf uns auf­mer­ksam geworden, meinst du nicht?“, meinte Sarah tro­cken, doch trotzdem betraten sie den nächsten Raum unter größter Vorsicht.

Die Kammer, in der eine kleine, abgedunkelte Nacht­tisch­lampe für etwas spärliches Licht sorgte, hatte ganz offen­sichtlich als Zelle gedient. An einem metallenen Bett­gestell, das in der hin­teren linken Ecke an der Wand stand, hingen dicke, fa­seri­ge Seile, mit denen, so ließ der Anblick vermu­ten, das rot­haarige Mädchen festgebunden worden war. Da sich au­ßer dem Bett lediglich eine Kommode in dem Raum befand, und sich somit keinerlei Versteckmöglichkeit für einen Hin­terhalt bot, tastete Thomas nach einem Licht­schalter und schaltete, nachdem eine nackte Neonröhre fla­ckernd an­sprang, seine Taschenlampe. Auch Sarahs Mag­lite er­losch, bevor sie sie in die Seitentasche ihres Parkas gleiten ließ. Wortlos sahen sich die beiden um. Sarah nä­herte sich der wuchtigen, schwarzen Kommode, in deren Schat­ten sie einen Plastikabfalleimer entdeckte. Bis auf einige Papier­fetzen und einer Ansamm­lung kleiner Fläschchen war dieser leer, doch ein Blick auf die Kommode bestätigte ihr, dass es sich bei dem Inhalt der braunen Ampullen um eine medi­zinische Flüssigkeit ge­handelt ha­ben musste: Sie erkannte eine In­jektionsspritze und ein we­nig Verbands­mull sowie eine Rolle Leukoplast.

„Er muss dem Mädchen etwas gespritzt haben“, infor­mierte Sarah ihren Partner. „Das sind die Utensilien dazu.“

„Und zwar immer wieder“, ergänzte Thomas, der an das Bett herangetreten war. „Dort liegt ein Venenzugang mit ei­nem Stück Schlauch. Ich vermute, sie wurde auf diese Weise ruhiggestellt.“

Noch bevor Sarah den Fund auf der zerwühlten Bettdecke in Augenschein nehmen konnte, ertönte abermals die Stim­me des ungeduldigen Hundeführers aus den Funk­geräten.

„Ist da drin alles okay? Brauchen Sie meine Hilfe?“

„Alles in Ordnung, wir brauchen Sie nicht“, ant­wortete dies­mal Thomas dem Kollegen.

„Wir kommen gleich raus und überlassen das Feld der Spurensicherung. Finden Sie bitte heraus, wie die mit ei­nem Fahrzeug hierherkommen. Ich habe ein wenig die Ori­en­tierung verloren, aber vielleicht ist ja irgendein Kaff in der Nähe. Der Weg, den wir genommen haben, ist mit dem gan­zen Equipment zu weit und zu beschwerlich.“

„In diesem Fall würde ich trotzdem gerne zu Ihnen rein­kom­­men“, tönte es zögerlich von draußen. „Da drinnen ist es be­stimmt etwas wärmer, oder?“

Sarah und Thomas tauschten kurze Blicke, wobei es Sarahs Miene war, aus der etwas Bittendes zu lesen war, während Tho­mas ein skeptisches Stirnrunzeln offenbarte. Trotzdem lenkte er ein.

„In Ordnung, kommen Sie durch den Vordereingang rein und bleiben Sie in dem ersten Zimmer. Legen Sie den Hund in der Nähe des Herdes ins Platz und sehen Sie zu, dass we­der er noch Sie etwas kontaminieren.“

 

Ein erleichtertes Danke drang zu den beiden in den Raum und die knirschenden Schritte des Kollegen entfernten sich. Sarah und Thomas sahen sich weiter um.

Just in dem Moment als Dr. Wiese der digitalen Spie­gelreflex die Spei­cher­karte entnahm und die Kamera zur Seite legte, klopfte es an der Tür des Behandlungsraums und herein trat eine leicht untersetzte Mitdreißigerin. Ein dun­kelblonder Locken­schopf umrahmte ein freundliches, of­fenes Gesicht, aus dem neu­gierig warme, braune Augen her­ausstrahlten. Dem sym­pathischen Erscheinungsbild ent­sprach auch die ange­neh­me, fast beruhigende Stimme, mit der sich die Dame vor­stellte.

„Ich bin Melanie Escher, Psychologin vom Jugend- und So­zial­amt Freiburg. Hier wartet eine kleine Patientin auf mich?“

Sie streckte ihre Hand aus, die sowohl von Dr. Wiese als auch von Professor Schwarz unter Nennung ihres jeweiligen Namens ergriffen wurde. Beiden fiel das am Hals hervor­lu­gende Etikett auf, das verriet, dass sich die Psychologin zu die­ser nachtschaffenden Stunde in aller Eile angezogen hatte und daher den Merinopullover falschherum trug. Die Dame vom Jugendamt bemerkte die Blicke der Ärzte, so scheu und kurz sie auch gewesen sein mochten. Sie lächelte breit.

„Meine Socken passen sicher genauso nicht zueinander und von dem Rest wollen wir gar nicht erst sprechen“, sagte sie mit einem schelmischen Grinsen. „Wo ist denn nun die Kleine?“

„Gleich hier drüben.“

Wiese geleitete Escher in das Nebenzimmer, wo immer noch die Krankenschwester neben dem unbekannten Mädchen saß und ihre Hand auf deren Unterarm liegen hatte.

„Sie kommen gerade rechtzeitig“, informierte Wiese. „Wir sind mit unserer Arbeit fertig und werden die Patientin auf Station verlegen, da ist es sicher gut, wenn Sie auf dem Weg dorthin schon dabei sind.“

Die Psychologin nickte, war mit ihrer Aufmerksamkeit je­doch schon voll bei dem Mädchen, das apathisch mit ge­stütz­­tem Oberkörper in dem Bett lag. Escher blieb zunächst am un­teren Ende des Bettes stehen.

„Hallo“, sagte sie mit fast seidiger Stimme und legte ihre Hand sacht auf den Knöchel des Mädchens. „Ich bin Mela­nie. Ich werde zunächst einmal bei dir bleiben und wenn du schläfst auf dich aufpassen. Ist dir kalt? Soll ich dich ein we­nig zudecken?“

Sie trat an das Bett heran, und erst jetzt drehte sich das Gesicht etwas und das Paar grüne Augen blickten zu Mela­nie Escher. Es sollte bei dem seelenlosen Blick bleiben, das Kind zeigte keine weitere Reaktion. Die Psychologin legte die Hand vor­sichtig auf dessen Schulter und sowohl Dr. Wiese als auch Schwarz wussten, dass sie über die Körper­lichkeit eine Ver­bin­dung zu dem Mädchen aufzubauen ver­suchte, ohne ihm zu nahe zu treten oder, schlimmer, etwas zu triggern, das mit dem Erlebten zusammenhing. Da keine erkennbare zu­rück­schreckende oder abweisende Reaktion erfolgte, beließ Escher die Hand auf der Schulter, als sie mit der anderen in ihrer volu­minösen Tasche kramte und nach einigem Suchen ein Kin­der­buch zum Vorschein brachte. Der kleine Klabautermann war auf dem Cover zu lesen.

„Magst du Geschichten mit Piraten und Schatzkarten?“, er­kundigte sie sich, doch abermals verweigerte das Mädchen eine Reaktion.

„Können wir auf die Station? Dort ist es kindgerechter und nicht so steril wie hier“, beendete sie den Versuch, jetzt schon zu der Patientin vorzudringen.

Wiese nickte.

„Kinderstation, Zimmer 314“, antwortete sie. „Medizinisch ist es nicht notwendig. Soll ich der Patientin trotzdem etwas ge­ben, damit sie schläft?“

Escher schüttelte den Kopf.

„Nein. Später, wenn wir feststellen, dass sie traumabedingt nicht schlafen kann, dann vielleicht. Aber nicht im Moment. Vielleicht kann ich ja schon etwas in Erfahrung bringen.“

„Wenn dies der Fall sein sollte, dokumentieren Sie bit­te alles haarklein“, schaltete sich Schwarz ein. „Ich kenne die Kolle­gen, die diesen Fall bearbeiten sehr gut und sie legen viel Wert darauf, jede scheinbar noch so unbe­deutende Infor­ma­tion zu erhalten.“

„Das werde ich“, versprach die Psychologin.

„Morgen im Laufe des Vormittags werden sie sicher per­sön­lich herkommen, um die Patientin, soweit es die Umstän­de zulassen, zu befragen.“

„Aber nur, wenn ich dabei bin, und in dem Maße, wie ich das erlaube!“

Zum ersten Mal lag etwas Schärfe in der Stimme Eschers, doch Schwarz beruhigte die Psychologin.

„Sie denken zu sehr in Klischees“, sagte er. „Die Kollegen wer­den sogar auf Ihre Anwesenheit bestehen und selbstver­ständlich einfühl­sam agieren.“

Escher quittierte das Statement mit einem Nicken.

„Also zumindest Frau Hansen“, fügte Schwarz noch mit einem Au­genzwinkern hinzu.

Kapitel V

In dem Holzhaus im tief verschneiten Wald herrschte emsiger Umtrieb. Nachdem der Hundeführer ihre Po­sition mitgeteilt und man einen einigermaßen gut zugäng­lichen Punkt in der Nähe der Hütte ausfindig gemacht hatte, muss­ten die drei Polizisten geschlagene anderthalb Stunden war­ten, bis die Spurensicherung bei ihnen eingetroffen war. Da auch Sarah und Thomas dem Tatort keine weiteren eige­nen Spuren hinzufügen wollten, hatten sie sich zu dem Kol­legen und dessen Hund in den wärmsten Raum gesellt und sich über dies und jenes unterhalten. Über das Einkochen von Himbeermarmelade über Einsteins allge­meine Relativi­täts­theorie bis hin zu der Tatsache, wie einfach es für Ter­roristen sei, Senfgas aus ver­schiedenen All­zweck­rei­ni­gern selbst her­zu­stellen.

Doch jetzt erhellten die Blitze zweier Kameras die Räume, mit denen die Techniker jedes Objekt, jedes Möbelstück und jede Spur dokumentierten, bevor sie Beweismaterial beweg­ten, eintüteten oder gar Einrichtungsgegenstände verrück­ten, um gegebenenfalls Corpora Delicti freizulegen. Auch Lu­minol und Schwarzlicht kamen zum Einsatz, ganz zu schweigen von Unmengen von unterschiedlichen Fin­gerab­druckpulvern, mit dem die Techniker Klinken, Flächen und Artefakte bepinselten. Aufmerksam verfolgten Sarah und Tho­­mas die Arbeiten, während der Kollege der Hunde­staffel begann, sich zu verabschieden.

„Sicher“, murmelte Thomas fahrig, doch Sarah bedank­te sich und wünschte ihm und Connor einen guten Heimweg und eine erholsame Rest-Nacht.

„Friedhelm, seid ihr mit dem Schrank dort fertig? Auch in­nen?“, fragte ihr Partner einen regelrechten Hünen in wei­ßem Over­all und deutete auf das Highboard.

„Mhmmm“, nickte der Gefragte und wandte sich wieder dem Altar zu, an dem er mit Wattestäbchen versuchte, mög­liche DNA-Spuren zu sichern.

„Dann schauen wir mal“, ermunterte Thomas Sarah und öff­nete die Tür, die dem seltsamen Thron gegenüber­lag. Er­wartungs­gemäß befand sich dahinter ein Fernseher, ein äl­teres Flachbildgerät, auf dessen Bedientasten sich fluor­es­zie­rendes Fingerabdruckpulver befand. Darunter konnten er und seine Partnerin sowohl einen DVD-Player als auch einen VHS-Re­corder erkennen. Thomas schaltete Fernseher und Player ein. Sogleich switchte das TV-Gerät auf den Player als Bild­quelle.

Auf dem Bildschirm waren zunächst nur Dunkelheit und das leicht flackernde Licht einer Kerze zu erkennen. Nach ei­nigen Sekunden trat aus dem schwarzen Hintergrund eine Ge­stalt in den Kerzenschein. Sie trug eine Art Kutte und die Maske, die Sarah und ihr Partner zuvor schon auf dem Side­board hatten liegen sehen. Vor sich hielt die Person mit bei­den Händen den selt­samen Dolch, den das rothaarige Mäd­chen bei sich ge­habt hatte. Je näher die Gestalt dem Aufnah­megerät kam, desto deutlicher konnte man gemurmelte Wor­­te vernehmen, die Sarah als ein Sammelsurium aus La­tein, Altgriechisch und einer ihr unbekannten Sprache iden­tifizierte. Fast musste Sa­rah lachen, denn das Intro zu dem Video erinnerte sie stark an Horrorfilme aus den sechziger Jahren.

„Fehlt nur noch Orgelmusik und die Ankündigung von Vin­cent Price“, flüsterte sie mit einem Seitenblick auf ihren Part­ner, der sofort lächelte. Er nahm die Fernbe­die­nung und schal­tete das Video ab.

„Ich möchte mir nicht vorstellen, was da noch so alles zu sehen ist. Vor allem aber will ich es nicht hier an diesem gro­tesken Ort ansehen. Das machen wir morgen im Präsidium.“ Er blickte an einen Teil der Wand, wo in einer Höhe von etwa einem Meter achtzig massive Ringe in der Wand verankert waren. An diesen waren verschließbare Metallschnallen an­ge­bracht. Er trat einen Schritt zurück, machte Sarah darauf aufmerk­sam und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Das erinnert mich an ein Verlies, wo Menschen einer Kreu­zigung gleich an einer Wand fixiert werden“, brachte Sarah hervor und schüttelte sich. „Wie grausam ist das denn?“

„Wenn er das Mädchen da hineingehängt hätte, wäre sie mit der Zeit erstickt. Die Fesseln waren also, wenn überhaupt, nur kurz­zeitig in Gebrauch.“

„Die Vorstellung ist trotzdem quälend! Egal wie lange oder wie kurz jemand so etwas ausgesetzt wird.“

Thomas nickte bestätigend und sprach einen Mitar­beiter der Spurensicherung an, der eine digitale Spiegelre­flexkamera mit einem aufgesetzten System­blitz in eine Be­weistüte pa­cken wollte.

„Warten Sie bitte kurz! Darf ich die mal haben?“

Der Kollege übergab ihm die Kamera. Thomas orientierte sich kurz, schaltete sie nach wenigen Momenten an und drück­te den Knopf für die Bildwiedergabe. Schon das erste Bild war erschreckend. Erschreck­end grausam. Erschre­ckend ästhetisch. Tatsächlich war das rothaarige Mädchen zu sehen, wie es in dem weißen Gewand vor der weißen Wand in den Fesseln hing. Aller­dings war auf dem Boden ein Holzschemel zu erkennen, auf dem sie sich gerade eben noch mit den Zehenspitzen abstützen konnte. Die High Key Aufnahme, auf der sich lediglich die blasse Haut, einige Fal­ten in dem Gewand und das fast feuerrote Haar sowie die grünen Augen des Mäd­chens von dem gleißenden Weiß ab­hoben, strahlte eine Magie aus, der man sich als Betrachter schier nicht entziehen konnte! Der Mann hinter der Kamera hatte gewusst, was er tat! Thomas klickte sich durch eine gan­ze Serie ähnlicher Bilder, dann schaltete er die Kamera aus und übergab sie zurück an den Kollegen der Spu­ren­sicherung.

„Komm“, sagte er an Sarah gewandt. „Wir schauen zu, dass wir noch ein paar Stunden Schlaf bekommen. Das wird morgen ein langer Sonntag.“

Guten Morgen allerseits“, begrüßte Thomas Bierman die An­wesenden Karen Polozek, Nico Berner und Hans Pfef­ferle, als er mit Sarah im Schlepptau den kleinen Kon­ferenz­raum betrat.

„Da wären wir fünf mal wieder beisammen. Gröber scheint unsere Arbeit zu gefallen“, setzte er hinzu, legte einen recht dünnen Aktenordner auf den Tisch und ließ sich am Kopf­ende nieder. Sarah ließ ebenfalls ein Guten Morgen verlauten und suchte sich den Platz neben ihrer Kollegin, die freudig lä­chelnd bereits den Stuhl vom Tisch weggerückt hatte.

„Er kommt später vielleicht dazu. Hätten wir Sommer, wäre er wohl auf dem Golfplatz. Aber ich habe keine Idee, was er bei diesen Wetterbedingungen am Sonntagmorgen so macht. Skifahren wird er ja wohl kaum“, kündigte Thomas den even­tuellen Besuch des nicht übermäßig beliebten Ressort­leiters an. „Zum derzei­ti­gen Stand wird er schlimm­stenfalls einen Schwall heiße Luft verbreiten, also können wir sicher einige Zeit konzentriert und ungestört arbeiten.“

Auf allen Gesichtern zeichnete sich ein süffisantes Lächeln ab, wussten alle um das zwanghafte Geltungsbedürfnis und die bisweilen unkontrollierten Anfälle ihres cholerischen Chefs.

„Also gut“, eröffnete Thomas das Meeting. „Es ist fünf nach elf, den vorläufigen Bericht haben schon alle gelesen, nehme ich an. Irgendwelche Fragen?“

Sein Blick machte die Runde.

„Wie geht es dem Mädchen?“, fragte Karen und in ihrer Stim­­­me schwang Besorgnis mit.

Sarah, die Thomas genau beobachtete, konnte sehen, dass die Frage ihrer empathischen Kollegin nicht zu den Themen gehörte, die er hier und jetzt besprechen wollte, doch er riss sich zusammen und antwortete sachlich.

„Sie hat die Nacht augenscheinlich gut überstanden und ohne ein Sedativum verabreicht bekommen zu ha­ben, sehr lange geschlafen. Sarah hat eben mit der behan­delnden Ärztin telefoniert.“

Ein erleichtertes Nicken, das auch von Hans Pfefferle auf­gegriffen wurde, quittierte diese Information.

„Hat sie bereits irgendetwas gesagt? Spricht sie überhaupt unsere Sprache?“, hakte Karen nach.

 

„Hat sie nicht“, sprang Sarah ein, „und das mit der Sprache ist ein guter Ansatz. Dr. Wiese, die Ärztin, geht zwar davon aus, dass ihre Apathie und das damit verbundene Schwei­gen auf die erlittenen Traumata zurückzuführen sind. Dr. Schwarz jedoch hat bei der Auswertung der gestern ange­fertigten Bilder in Bezug auf ihre Zähne eine Vermutung auf­gestellt. Die meisten Problemstellen sind wohl nie richtig behandelt worden, aber immerhin hat ihr Ge­biss eine Plom­be aufzuweisen, von der Schwarz sicher ist, dass sie nicht in Mitteleuropa angefertigt und platziert wur­de. Da ja auch in Polen, Tschechien und der Slowakei seit etlichen Jahren erst­klassige zahnmedizinische Arbeit geleistet wird, tippt er entweder auf Russ­land oder Weißrussland beziehungs­wie­se auf den Balkan.“

„Wie gehen wir in Bezug auf das Mädchen weiter vor?“, woll­­te Nico Berner wissen.

Da Thomas dabei war, die losen Seiten aus dem Akten­ord­ner zu sortieren, antwortete abermals Sarah:

„Vorausgesetzt, wir sind nicht in der Lage, zeitnah ihre El­tern zu ermitteln, wird sie noch mindestens zwei Tage in der Kli­nik unter der Obhut von Frau Dr. Wiese und dem Ju­gend­amt bleiben. Die zwei werden auch entscheiden, wann und in welcher Intensität wir mit der Kleinen arbeiten dürfen. Wir hoffen, dass wir heute Nachmittag ein erstes Gespräch wagen können. Bis dahin werden die Damen auf jeg­lichen Hinweis, der zu Klärung ihrer Identität und Her­kunft bei­tragen kann, achten. Derweil“, sie nahm Thomas das Blatt, welches er ihr hinhielt, aus der Hand, „ha­ben wir ih­re Be­schreibung und Portraitbilder.“

Sie legte den Steckbrief auf den Tisch und wartete darauf, dass ihr Partner etwas dazu sagen würde. Da dieser jedoch keine Anstalten machte, die sich aus dem Blatt Papier erge­bende Aufgabe zu delegieren, nahm Sarah es zum Anlass, selbst aktiv zu werden.

„Wer kümmert sich um die Recherche?“, fragte sie, da sie als jüngstes Mitglied des Teams nicht befugt und auch nicht ge­willt war, eine Anweisung zu erteilen. Selbst wenn sie, so ihre Überzeugung, von Thomas dafür Rücken­deckung be­kommen hätte.

„Ich mach das“, meldete sich sofort Karen Polocek eifrig zu Wort. „Ich gehe die Vermisstendatenbanken durch und neh­me Kontakt zu den anderen Behörden und den Kollegen im Ausland auf.“

Sarah schob ihr das Papier über den Tisch, blickte fragend zu Thomas, der ein kaum wahrnehmbares Nicken des Ein­ver­­ständnisses zeigte.

„Du wirst mit den Kollegen heute nicht viel Glück haben. Ge­nauso wenig verspreche ich mir Erfolg bei der Iden­ti­fi­zierung des Toten. Fingerabdrücke können wir zwar durch­­laufen lassen, aber was die Besitzverhältnisse bezüglich der Waldhütte an­geht et cetera, müssen wir ebenfalls bis morgen warten, genau wie bei den genauen Ergebnissen der Spusi. Zurück­verfolgung der elektronischen Geräte anhand der Serien­nummern macht auch erst Sinn, wenn morgen die Ge­schäfte wieder ge­öffnet haben. Für die Überprüfung der Funkzellen im Be­reich der Hütte brauchen wir einen Be­schluss. Hans, das machst du morgen. Ich denke, was im Mo­ment am pro­duk­tivsten ist, wäre die Durchsicht der DVDs vom Tatort. Viel­leicht können wir da etwas ermitteln, was uns weiter­bringt.“

Er suchte den Augenkontakt mit jedem Einzelnen, und nach­­dem niemand eine Frage hatte, legte er seine Doku­men­te zurück in den Schnellhefter.

„Okay, wir können es uns leisten, jeweils zu zweit das Ma­terial zu sichten. Ich habe die Discs im Büro. Nico, holst du die Scheiben für Hans und dich dort ab? Sarah und ich über­nehmen den Rest.“

Drei Minuten später saßen die beiden an Sarahs Schreib­tisch. Thomas hatte seinen Bürostuhl um den Tisch herum­gerollt und sich so positioniert, dass sie einen guten Blick auf den Compu­ter­mo­nitor hatten. Er öffnete das DVD-Lauf­werk des Desktops und legte die CD ein, die sich in der Hütte im Player befunden hatte. Noch bevor Sarah die Aufnahme startete, kam Nico Berner ins Büro. Ohne ein Wort zu sagen zeigte Thomas auf einen Stapel DVDs, die er auf seinem Schreibtisch für ihn bereitgestellt hatte.

„Schon was gesehen? Ist es übel?“, fragte er.

Sarah schüttelte den Kopf, während Thomas letzte Anwei­sungen zu den Beweisstücken gab.

„Schwerpunkt ist klar, denke ich. Screenshots von allem, was uns in irgendeiner noch so erdenklichen Form weiter­bringt. Schatten oder Spiegelungen, die auf Anwesenheit ei­ner zweiten Person hindeuten. Schrift oder Ton, die uns et­was über den Mann verraten. Ach, ihr wisst schon…“

Berner nickte.

„Natürlich!“, sagte er in neutralem Tonfall und verließ mit den DVDs das Büro.

Sarah startete den ersten Videoclip, der trotz der Dunkelheit in der Hütte eine erstaunlich gute Qualität aufwies. Sie sprang vorwärts, bis ungefähr zu der Stelle, an der sie des Nachts abgebrochen hatten. Auf dem Monitor konnten sie jetzt verfolgen, wie der Mann seine Maske abnahm, den Dolch mittig in den Gürtel des Gewands steckte und eine Schale nahm, die außerhalb des Bildausschnitts gestanden hatte. Erneut sprach er Verse auf Latein und Altgriechisch, hob die Schale mit aus­ge­streck­ten Armen nach oben, senkte sie bis auf Kniehöhe, be­wegte sie nach rechts und nach links, bevor er sie wieder über den Kopf hob.

„Müssen wir das Kauderwelsch übersetzen, das er da von sich gibt?“, fragte Sarah.

„Was würdest du sagen?“, entgegnete Thomas.

„Von mir ein klares Nein“, antwortete sie. „Zumindest so lange nicht, bis sich eindeutig ermittlungsrelevante Gründe dafür ergeben.“

Thomas nickte nur.

„Gleiches gilt auch für die Choreografie. Wenn sich abzei­ch­net, dass wir es mit einer Gruppierung zu tun haben, könn­te man das einem Anthropologen vorlegen, aber im Moment halte ich das für überflüssig“, fügte Sarah ihrem Statement noch hinzu.

„Sehr gut, so machen wir das.“ Thomas schien sehr zufrie­den mit der Antwort.

Auch wenn sie und ihr Partner erst ein halbes Jahr zu­sam­menarbeiteten sah Sarah die Fragen, die ihr Thomas hin und wieder stellte, nicht als Tests an, sondern eher als Auf­for­de­rung, ihre eigenen Ideen und Ansätze ein­zu­bringen. An Tho­mas‘ Reaktionen hatte sie bisher immer ablesen können, dass er ihr Feedback sehr schätzte und eine unterschiedliche Mei­nung in seine eigenen Überlegungen mit einbezog.

Auf dem Monitor hatte der Unbekannte mittlerweile sein Gebet beendet. Er tauchte Zeige- und Mittelfinger in die Scha­­­le und malte sich mit der roten Flüssigkeit, bei der es sich um Blut zu handeln schien, ein Kreuz auf die Stirn. Dann öffnete er die Kutte über der Brust und versah sein Ster­num ebenfalls mit einem roten Kreuz. Als Letztes malte er das christ­liche Symbol auf seinen Mund, stellte die Schale außer Sichtweite, zog den Dolch aus dem Gürtel und hob ihn mit beiden Händen hoch, so als wollte er sich diesen gleich in den Unterleib rammen. Doch stattdessen senkte er die Arme, den Dolch in der Rechten, bis sie seitlich in der Waag­rechten angekommen waren und er quasi die Position eines Gekreu­zigten eingenommen hatte. Nach einem lauten, lan­gen Schrei trat er rückwärts, bis er wieder in der Dunkelheit ver­schwand, danach brach der Clip ab.

„So“, sagte Thomas. „Was sollen wir von dieser kranken Scheiße denn halten?“

Er klickte auf die Eigenschaften der Dateien auf dem Da­ten­träger.

„Diese Clips hat er alle gestern gemacht, als ihn später der plötzliche Tod durch seine Gefangene ereilte“, stellte Sarah fest. „Oder zumindest hat er sie an dem Tag auf DVD ge­brannt. Aber das war am Nachmittag. Immerhin verrät uns das Video etwas. Erstens ist es nachbearbeitet. Denn wir se­hen weder, wie er die Kamera startet, noch wie er sie wie­der stoppt. Er hat also, voraus­gesetzt er war allein, den An­fang und das Ende der Auf­nahme nicht auf die DVD über­spielt. Ich vermute, er empfand das als unpassend oder wi­der sei­nes Sinns für Ästhetik.“