Chef, wir müssen reden. Der Traum vom Ausstieg auf Zeit

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Chef, wir müssen reden. Der Traum vom Ausstieg auf Zeit
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Trenne Dich nicht von deinen Illusionen.

Wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter

existieren, aber aufgehört haben zu leben.

(Mark Twain)

Alexander Reeh

CHEF, WIR MÜSSEN REDEN

Der Traum vom Ausstieg auf Zeit

Inspirierende Geschichten von Menschen, die das Abenteuer einer Auszeit wagten

Mit vielen Informationen und praktischen Tipps

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2013

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Copyright (2013) Engelsdorfer Verlag Leipzig

1. digitale Auflage 2013: Zeilenwert GmbH

Alle Rechte beim Autor

Coverfoto © Thomas Fuchs

Foto Schmutztitel © Daniel Jutrosinski

Foto Coverrückseite © Bernd Nowak

ISBN 9783954887729

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Zitat

Titel

Impressum

Gedicht

Prolog

Einleitung

Wenn Träume fliegen

Eine Auszeit, die alles veränderte . . .

Der Prozess, es endlich zu wagen

Reise unseres Lebens

Ruf des Ozeans

Vom Operationssaal zu den Mönchen

Stille Einkehr im Kloster

Mönch auf Zeit

Eremit auf Zeit

Auszeit auf der Fußmatte

Den Horizont erweitert – Sabbatical in Nepal und Indien

»Aufi, s’Vieh sammla!«

100 Tage Abgeschiedenheit

»Ich will dann auch mal weg…«

Unter Schafen, Kühen und coolen Kiwis

Tausche Schule gegen Welt

Freiheit auf dem Kamelrücken

Sabbatical auf zwei Kontinenten

Tropischer Sabbat

Für Ärzte ohne Grenzen in Afrika

Absprung geschafft . . .

Hilfsprojekt im »Land des Lächelns«

Erfahrungen in einem israelischen Kibbuz

Mit Baby auf der Seidenstraße

Papa allein zu Haus – Abenteuer Elternzeit

Reflektionen eines Lehrers über sein Sabbatjahr

Einmal Welt und zurück

Down Under – Familiensabbatical in Neuseeland

Auszeit auf der Straße des Lebens

Bären, Lachse, Einsamkeit – Ein Jahr im Westen Kanadas

Travelling Pooh

Endlich frei, endlich weg – Sabbatical in Spanien

Out of office

Eine Nacht im Mandarin Oriental

Mit dem Mountainbike entlang der Karawanenstraße

Braungebrannt statt ausgebrannt

Steppe, Staub und Sternenzelt – Mit dem Fahrrad durch Asien

»Für ein Sabbatical muss man sich nicht rechtfertigen«

Einfach mal abtauchen

Was den Menschen ins Hamsterrad treibt

Ideen für Ihre Auszeit

Längere Reisen und Auslandszeit

Besinnung, stille Einkehr und Retreatment

Familiäre Auszeit

Planen Sie Ihre Auszeit

So überzeugen Sie Ihren Chef

Krankenversicherung bei langen Auslandsaufenthalten

Unterwegs mit schulpflichtigen Kindern und Haustier – das sollten Sie wissen

Zehn Orte, an denen Sie garantiert Ruhe und Abgeschiedenheit finden

Zu guter Letzt: Freuen Sie sich auf Ihre Auszeit

Hilfreiche Internet-Seiten

Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte

»Wenn ich mein Leben noch einmal

leben könnte, im

nächsten Leben, würde ich versuchen,

mehr Fehler zu machen.

Ich würde nicht so perfekt sein wollen,

ich würde mich mehr

entspannen.

Ich wäre ein bisschen verrückter, als

ich es gewesen bin,

ich würde viel weniger Dinge so ernst

nehmen.

Ich würde nicht so gesund leben.

würde mehr riskieren, würde mehr

reisen,

Sonnenuntergänge betrachten, mehr

Bergsteigen,

mehr in Flüssen schwimmen.

Ich war einer dieser klugen Menschen,

die jede Minute ihres

Lebens fruchtbar verbrachten;

freilich hatte ich auch Momente

der Freude, aber wenn ich noch

einmal anfangen könnte, würde

ich versuchen, nur mehr gute Augenblicke zu haben.

Falls du es noch nicht weißt, aus diesen

besteht nämlich das Leben;

nur aus Augenblicken; vergiss nicht

den jetzigen.

Wenn ich noch einmal leben könnte,

würde ich von Frühlingsbeginn

an bis in den Spätherbst hinein

barfuß gehen. Und ich würde mehr mit

Kindern spielen, wenn ich das Leben

noch vor mir hätte.

Aber sehen Sie… ich bin 85 Jahre alt

und weiß, dass

ich bald sterben werde.«

Jorge Luis Borges, argentinischer Dichter

 

In zwanzig Jahren wirst Du mehr enttäuscht sein von den Dingen, die Du nicht getan hast, als von den Dingen, die Du getan hast. Also wirf die Leinen los. Verlasse den sicheren Hafen. Lass den Passatwind in Deine Segel wehen. Erforsche. Träume.

Entdecke.

Mark Twain

Prolog

»Ihr seid aber noch keine Rentner! Dafür seid Ihr viel zu jung!«

»Stimmt.«

»Aha, Ihr habt also geerbt!«

»Nein, wir haben uns jeden Euro selbst verdient.«

»Wir konnten uns das in dem Alter aber nicht leisten!«

Ein Dialog, den wir schon mal so oder in leicht abgewandelter Form führen müssen. Dabei werden wir meist gar nicht mit Fragen, sondern direkt mit vermeintlichen Behauptungen konfrontiert. Auf die letzte Feststellung könnten wir verschiedene Antworten geben. »Man muss sein Geld halt nicht nur verdienen, sondern auch sparen.« Oder »Vielleicht haben wir ja einfach in unserem 25jährigen Berufsleben mehr geleistet.« Oder die sicherlich ehrlichste Antwort: »Was wir machen hat eigentlich wenig mit Geld, sondern mehr mit Mut, Abenteuergeist und Entscheidungsstärke zu tun.«

Einfach mal die Konventionen hinterfragen. Müssen wir wirklich arbeiten bis zum »Burn-out«? Brauchen wir ein Haus, damit andere sehen, wie erfolgreich wir sind? Gibt es ein Gesetz, dass man tatsächlich bis 67 arbeiten muss? Muss man jemanden um Erlaubnis fragen, wenn man seine Karriere mit 43 beendet?

Nein, nein, nein, nein!

Jeder hat sein Leben und das, was er damit macht, selbst in der Hand. Irgendwann habe ich für mich entschieden, 86 Jahre alt zu werden. 43 Jahre, also genau die Hälfte, habe ich in die Karrieren investiert. In 24 Jahren habe ich mich vom Azubi bis in die Führungsebene eines großen DAX-Unternehmens hochgearbeitet. Als Geschäftsführer, Referats- und Abteilungsleiter habe ich rund 100 Mitarbeiter betreut und konnte die Privilegien eines Managerlebens genießen. Ich war in der ganzen Welt unterwegs, mal in der Business Class, mal in der First Class oder gar im Firmenjet. Habe in den tollsten Hotels gewohnt, den besten Restaurants gespeist.

Doch wir kommen beide aus einfachen Verhältnissen und hatten nie den Drang, das Leben unseren finanziellen Möglichkeiten anzupassen. Wir hatten eine wunderschöne Wohnung mit tollen Nachbarn. Wir brauchten keine Rolex am Arm und keine Kleidung von Armani. Wir haben lieber Camping gemacht, als Urlaub im Hotel. Doch eines, das hatten wir immer zu wenig: Zeit! Zeit für uns und Zeit für einander!

Warum also nicht die zweiten 43 Jahre unseres Lebens nutzen, um was ganz anderes zu machen? Einfach aussteigen aus dem bisherigen Leben und die Welt bereisen. Sich fremde Länder nicht aus dem Taxi während einer Dienstreise anschauen oder in der perfekten Organisation einer Pauschalreise. Natürlich gab es genug Stimmen, die gesagt haben: »Das macht man nicht!« Viele, die gewarnt haben: »Ihr könnt doch nicht einfach Eure Sicherheiten aufgeben!« und etliche, die uns leicht vorwurfsvoll mit-teilten: »Ich würde das ja auch gerne machen, kann aber nicht wegen …«

Es ist auch nicht unser Bestreben, unsere Lebensphilosophie als die einzig wahre darzustellen. Was im Endeffekt die richtige Entscheidung gewesen sein wird? Zu dieser Weisheit werden wir wohl erst mit 86 Jahren gelangen. Doch bis dahin genießen wir das Gefühl von Freiheit, den Hauch von Abenteuer und Zeit … Zeit satt!

Klaus Vierkotten (46), Ex-Manager

Life is for living

Einleitung

Liebe Leserin, lieber Leser,

»Hört zu, ich will euch von einem guten Lande sagen, dahin würde mancher auswandern, wüsste er, wo selbes läge. Wer nichts kann, als schlafen, essen, trinken, tanzen und spielen, der wird dort zum Grafen ernannt. Jede Stunde Schlafens bringt einen Gulden ein und jedes Gähnen einen Doppeltaler.«

Vielleicht haben Sie schon von diesem – leider nie entdeckten – Land gehört, dem Schlaraffenland, von dem Ludwig Bechstein in einem Märchen berichtet. Stellen Sie sich vor, Sie erwachen morgens vom leisen Plätschern der Wellen, die Wedel der Kokospalmen wiegen sich sanft im warmen Wind. Das Frühstück auf der Terrasse besteht aus knusprigen Pfannkuchen und einem exotischen Obstsalat. Ihr Blick wandert hinaus auf das smaragdgrüne Meer, während Sie der Duft von Frangipani umgibt. Schon kehren die ersten Fischer mit ihrem Fang zurück und im Geiste malen Sie sich Ihr Abendessen aus … Doch dazwischen liegt noch ein aufregender Tag, vielleicht Schnorcheln in der türkisfarbenen Lagune, Kanu fahren und dabei eine unbekannte Insel entdecken, ein Plausch mit den Eingeborenen …

Doch die Realität sieht anders aus: Jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe klingelt uns der Wecker erbarmungslos aus unseren Träumen. Nieselregen, die üblichen verstopften Straßen, jeden Tag der gleiche Büro-Mief, dazu die muffigen Gesichter der Kollegen.

Dabei ist die Sehnsucht danach, sich einfach mal aus dem Alltag auszuklinken und die Seele baumeln zu lassen, größer denn je. Ob Almhütte oder Atlantiküberquerung, Pilgern auf dem Jakobsweg oder mit den Kindern auf dem Spielplatz, laut einer Forsa Umfrage wünschen sich 38 Prozent aller Arbeitnehmer in Deutschland eine Auszeit.

Allerdings ist die Zahl derer, die es freiwillig wagen, die alltägliche Tretmühle anzuhalten, noch klein. Zu groß ist die Angst, nicht mehr an den ursprünglichen Arbeitsplatz zurückkehren zu können. Zu mächtig noch immer die Vorurteile, die in unserer Gesellschaft den Menschen entgegengebracht werden, die nicht arbeiten.

Dabei stehen die Chancen auf ein »Sabbatical« heutzutage so gut wie nie zuvor. Dieser heute gängige Begriff entstammt einem biblischen Brauch, der im Zweiten Buch Mose beschrieben wird:

»Sechs Jahre sollst du dein Land besäen und seine Früchte einsammeln. Aber im siebten Jahr sollst du es ruhen lassen«, heißt es dort. Professoren in den USA waren die ersten, die sich die Bibelstelle zu Herzen nahmen. Sie führten an den amerikanischen Universitäten Sabbaticals ein: Auszeiten von einem halben Jahr, in denen die Professoren dem Lehrbetrieb den Rücken kehren können, um sich völlig ihrer Forschungsarbeit zu widmen.

Auch hierzulande machen inzwischen in vielen Betrieben Arbeitszeit- und Urlaubskonten eine solche Pause möglich. Der Arbeitnehmer spart dazu Urlaubstage an, die er dann für eine Auszeit an einem Stück nimmt. Oder aber er bekommt über einen festgelegten Zeitraum reduzierte Bezüge, arbeitet aber voll und nimmt anschließend eine Auszeit, in der das Gehalt gleich bleibt.

Da Auszeiten dem »Burn-out« vorbeugen und die Mitarbeiter oft hochmotiviert an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, stößt diese Form des Langzeit-Urlaubs bei den Chefs inzwischen nicht mehr durchwegs auf taube Ohren.

Allerdings sollte ein »Sabbatjahr«, egal ob drei oder zwölf Monate, gut vorbereitet und geplant sein. Tipps, wie Sie Ihren Chef überzeugen und wie auch Ihr Ausstieg auf Zeit gelingt, finden Sie im Anhang dieses Buches.

Und nun, Arbeit adé, lassen Sie sich von den vielfältigen Berichten der in diesem Buch versammelten »Auszeiter« überraschen und inspirieren.

Viel Spaß dabei und bei Ihrer Auszeit wünscht Ihnen Ihr

Alexander Reeh

Wenn Träume fliegen

Sie war eine erfolgreiche TV-Moderatorin in München. Vor 13 Jahren stieg sie aus - von jetzt auf gleich - kündigte ihre Festanstellung per SMS, buchte spontan den zehnten Flug auf der Anzeigetafel des Münchner Flughafens und landete in der Karibik. Die unglaubliche Geschichte der Lara Sanders


© Nepomuk Karbacher Bilder.n3po.com

Einer dieser Tage. November-Nieselregen aus schweren Wolken, Temperaturen um vier Grad, Gesichter unter Kapuzen, Autos spritzen durch die Straßenpfützen. Reisebüros werben für Last-Minute-Flüge in die Sonne, irgendwohin, raus aus dem Grau, der Kälte, den Kapuzen. Irgendwohin. Es könnte so einfach sein. Lara Sanders, zierlich, blond, blaue Augen, sitzt im Schneidersitz auf dem Sofa einer Schwabinger Wohnung; sie trinkt grünen Tee, fingert in Sushi-Röllchen und sagt aus dem Fenster blickend: »So ein Tag war das damals.«

Sanders ist gerade 41 Jahre alt geworden, und was sie in den vergangenen zehn Jahren erlebt hat, ist Stoff für einen Film, den sie gedreht hat, »Über allen Horizonten«, und ein Buch, das sie veröffentlicht hat, »Einfach davongeflogen.«

Die zehn Jahre im Zeitraffer gehen so: Die junge TV-Journalistin Sanders leidet unter der Routine des Jobs und Alltags, steigt von jetzt auf gleich aus und flieht auf die winzige Karibikinsel Dominica, um zu sich selbst zu finden. Sie findet aber nicht nur sich selbst, sondern Glückes Geschick, auch einen alten Schweden, der die jemenitische Königsfamilie und afrikanische Prominenz als Privatpilot durch die Welt flog, irgendwann –gleichfalls auf Selbstsuche- in der Karibik landete, um dort auf die alten Tage seinen Traum zu verwirklichen: gemeinsam mit einem jungen Karibe-Indianer ein eigenes Flugzeug zu bauen und zu fliegen. Die Deutsche beschließt, über diesen interessanten Kauz einen Dokumentarfilm zu drehen – acht Jahre und viele Ups and Downs später wird der Film mit internationalen Preisen überschüttet. Und nun ist sie auf dem Weg nach Hollywood, wo Clint Eastwood und Kevin Costner an der Geschichte Interesse signalisiert haben.

In etwa so sähe vermutlich der Beitrag aus, wenn die Fernsehfrau Lara Sanders vor Jahren einen Film über den Menschen Lara Sanders hätte schneiden müssen. Eine Minute dreißig, Klappe – Ende. Denn das war mal ihr Leben vor dem großen Schnitt. Schnell, flüchtig, gehetzt, immer auf dem Sprung. Sie ist da Anfang 30, moderiert nach dem Studium der Kommunikations- und Betriebswirtschaften in Köln Radiomagazine für den WDR, dann auch fürs Fernsehen in München. Sie verdient gutes Geld, hat aber kaum Zeit, es auszugeben. Sie ist beliebt bei den Kollegen und Chefs. Sie hat einen kreativen, jungen Musiker zum Mann und liebevolle Eltern. Stöckelt durch die Bussi-Bussi-Gesellschaft Münchens - Ärzte, Rechtsanwälte, Promis und Semipromis-, »weil ich damals dachte, dass das dazugehört«. Lara ist ein bisschen wie Carrie aus »Sex and the City«. Sie sammelt Schuhe, ist picobello gekleidet und frisiert, mani- und pedikürt und hat außerdem ein gewisses Faible für jüngere Männer. Von außen betrachtet ist sie eine Karrierefrau – selbstbewusst, attraktiv, das flüstern ihr alle, die Freunde, der Mann, die Eltern, die Kollegen. Aber irgendwas an diesem Leben stimmt nicht, das ahnt sie, und das nagt an ihr.

Die Frau im Schneidersitz, zehn Jahre reifer nun, nennt diese Phase rückblickend »Hamsterrad« oder »goldener Käfig« oder »auf eingefahrenen Schienen fahren, nicht links, nicht rechts« oder »innere Versklavung« oder »Monotonie«. Sie hat erstaunlich viele Synonyme parat für ein Gefühl: unglücklich sein. Dahinter, das weiß sie heute, loderte Sehnsucht. Sie wollte Geschichten erzählen, wie früher mit acht oder neun, als sie den Eltern kleine Drehbücher und Hörspiele zu Weihnachten schenkte. Sie wollte kreativ sein und nicht nur funktionieren. Sie sagt: »Ich war wie ein rotes Licht, auf Sendung. An und aus. Auf Knopfdruck. Wie am Fließband. Und dann die Partys, die Einladungen, das Gequatsche. Alles so wichtig, und alles so hohl …«

Cut, Schnitt, Rückblende. November 1999, einer dieser Tage, Nieselregen aus grauen Wolken, Autos spritzen durch Straßenpfützen, Menschen unter Kapuzen. Sanders sitzt in der Straßenbahn auf dem Weg zur Arbeit, Bavaria-Studios München, und sie merkt, dass die Bahn in die falsche Richtung fährt, »immer der gleiche Weg«, Linie R wie Routine, »immer die gleiche Uhrzeit, immer die gleichen Konferenzen. Immer die gleichen Geschichten –wer macht heute die Story über die Frau mit dem künstlichen Ohr?« Das Grau kriecht in ihr hoch und führt zu einem, wie sie sagt, »spontanen und doch geplanten Kurzschluss«. Sanders kramt das Handy aus der Tasche, ruft im Studio an, verlangt den Chef – und kündigt. Sie versucht ihren Mann und die Eltern zu erreichen – spricht aber jeweils nur auf den Anrufbeantworter. Statt ins Büro zu fahren, nimmt sie die Bahn zum Flughafen. Steht im Wintermantel dort, mit Tasche und Notebook, äußerlich noch ganz Karrierefrau, und denkt: »Schau auf die Tafel, nimm den zehnten Flug, nicht den dritten, den erkennt man aus den Augenwinkeln, den zehnten, dann kannst du nicht schummeln. Egal wohin. Nur weg.« Sie hätte auch in Dresden oder Bukarest landen können. Aber der zehnte Flug geht nach Fort de France, Martinique in der Karibik, mit Option auf Weiterflug nach Dominica, »noch nie gehört«. Sie kauft ein Ticket, im Duty-free-Shop noch zwei Kleider, ein Paar Sommerschuhe, Sonnencreme und einen Reiseführer über die Insel. Dominica ist winzig und nicht zu verwechseln mit der Dominikanischen Republik. Kleine Antillen, knapp 80.000 Einwohner, auf einer Fläche so groß wie Hamburg. Drei Stunden später hebt die Maschine ab, ihr neues Leben beginnt, auf und davon. Einfach so.

 

Nach zickzackreichen Jahren hat Lara Sanders die Kurve gekriegt. Sie sitzt auf dem Sofa und erzählt von den Selbstzweifeln anfangs auf der Insel. »Bist du verrückt? Was hast du getan?« Von den Eltern, die nicht verstanden, vom zurückgelassenen Ehemann, der nicht verstand und sich schließlich trennte, von den Freunden, die nicht verstanden und sie – nicht ganz zu Unrecht- auf einem Egotrip wähnten. Vor allem aber davon, dass der Entschluss ein richtiger war. Denn sie lernt in der Ferne, wieder Geschichten zu sehen. Trifft nach nicht einmal einer Woche diesen Greis Daniel Rundstroem, damals 77 Jahre, der sie zunächst mit seiner klapprigen Ente fast über den Haufen fährt und ihr sodann von seinem Baby erzählt, einem Flugzeuggerippe in seiner Garage, das irgendwann fliegen soll. Dieser Mann wird ihre Geschichte, ihr Film. Ein alter Schwede, Pilot einst für Könige, der mit dem jungen Karibe-Indianer Rainstar an einer Van’s RV-8 schraubt. Der alte Mann, ein karibischer Daniel Düsentrieb, öffnet ihr die Augen, er ist ein Lebenskünstler, und beide eint der Wunsch, sich einen Lebenstraum zu erfüllen: Er will sein Flugzeug bauen, sie will einen Film drehen. Beide sind ausgestiegen, beide sind in der Karibik gestrandet, beide glauben beinahe trotzig an ihre Sache. Der Alte und die Junge kombinieren ihre Sehnsüchte. Tausende Kilometer von Deutschland entfernt, erfährt die überstürzte Flucht ihren Sinn. Lara Sanders streift ihr altes Leben ab.

Eigentlich heißt Lara auch gar nicht Lara, sondern Barbara. Aber sie legt den alten Vornamen ab, »ich habe ihn nie gemocht, bin doch keine Heilige«, und nennt sich fortan Lara nach der Lara aus Pasternaks »Doktor Schiwago«, »eine starke, mutige Frau«. Sie legt vieles ab auf der Insel – die Manierismen, das Manikürte, das Gelackte. Sanders ahnt nicht, dass sie dreieinhalb Jahre drehen und weitere zweieinhalb Jahre schneiden wird, ihre gesamten Ersparnisse dafür draufgehen werden, fast 200 000 Euro, für Ausrüstung, Kamerateam und Flüge, »ich habe heute noch Schulden«.

Sie pendelt fortan jahrelang zwischen Dominica und Deutschland, sucht Geldgeber, reist auf Messen und zu Filmfestspielen, lernt in Cannes einen jungen französischen Rechtsanwalt kennen und lieben, Ehemann zwei. Lara spricht bei ungezählten Sendern vor und hört immerzu: »Wen interessieren alte Männer in Flugzeugen?« Heute kann sie darüber lachen, über Pleiten, Pech und Pannen. Über Fast-Abstürze mit dem Helikopter beim Dreh, »das Benzin ging aus«. Über das Leben am Existenzminimum, »keine Bank gab mir Geld, meine Eltern glaubten damals nicht an mich, Freunde gingen auf Distanz«. Und doch: Sie denkt nicht ans Aufgeben, sie ist von der Geschichte, ihrer Geschichte überzeugt, »in die Freiheit fliehen, an Träumen tüfteln, bis sie fliegen!« Die Cessna hebt am Ende ab, der alte Schwede lebt heute erfüllt und glücklich in seiner alten Heimat. Wenn das kein Stoff ist, aus dem Geschichten sind.

Nach sieben Jahren organisiertem Chaos schlägt Arte zu. Der Film »Über allen Horizonten«, 87 Minuten lang, läuft im Fernsehen, bekommt tolle Kritiken. Tatsächlich, es ist ein schöner Film, famose Bilder, leise und zurücknehmend erzählt. Sender aus ganz Europa kaufen ihn, er wird international prämiert in den USA und Frankreich, und bei den Premieren weinen die Leute im Publikum schon mal. Die Botschaft lautet: Realisiere dich selbst, trau dich zu träumen. Das mögen die Leute. Ein Autohändler aus München sieht ihn, verkauft spontan sein Geschäft und eröffnet ein italienisches Restaurant, »das war immer mein Wunsch«, erzählt er ihr später.

Nieselregen über Schwabing, Sanders lebt wieder in München. Sie ist seit drei Jahren Mutter, inzwischen alleinerziehend, ihr zweiter Mann hoffte auf Ruhe und Routine, »Heim und Herd und Muttertier«. Aber das ist sie nicht. Lara Sanders moderiert zuweilen, sie hat einen internationalen Filmvertrieb gegründet, weitere Dokumentarfilme gedreht, das Buch geschrieben über ihr Abenteuer und sich ausgesöhnt mit den Eltern. Sie hetzt von Termin zu Termin, und gelegentlich beschleicht sie das Gefühl, abermals in einem Hamsterrad unterwegs zu sein.

Lara Sanders blickt aus dem Fenster und sagt: »Ich werde es wieder tun.« Seit Dominica glaubt sie nicht mehr an Zufälle, »alles hat einen Sinn, und das ist kein esoterischer Quatsch«. Anfang des Jahres lernte sie zufällig einen Fotografen kennen, der zufällig mit Clint Eastwood und Kevin Costner befreundet ist und zufällig gerade auf dem Weg in die Staaten war, »ein bisschen zu viele Zufälle, oder?« Sie flog mit nach Kalifornien, wurde tatsächlich von beiden empfangen, und die Herren Stars waren schwer angetan von ihrer Geschichte und rieten unisono: »Schreib ein Drehbuch!« Das ist nun ihre neue Obsession, Hollywood, ein Spielfilm über Daniel Rundstroem-Düsentrieb, dargestellt von Clint Eastwood. Sie träumt schon wieder, die Eltern sorgen sich schon wieder, die Mutter wundert sich: »Sie war doch früher so ein braves Mädchen!« Früher.

Lara Sanders sitzt auf dem Sofa, neben ihr liegt eine rote Kladde, auf der »To do list« steht, darin 75 Punkte, einer ist: »Scheidung in die Wege leiten«. Ein anderer mit Ausrufezeichen: »US-Visum beantragen«. Deutschland ist ihr fremd geworden, »kein Platz für Träume hier«, die Wolken zu schwer, die Menschen so ernst. Es ist Zeit für einen Schnitt. Ihre Geschichte geht weiter.

Michael Streck, Stern