Die Hauptmannstochter

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Die Hauptmannstochter
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LUNATA

Die Hauptmannstochter

Die Hauptmannstochter

Roman

© 1836 Alexander Puschkin

Originaltitel Kapitanskaja dočka

Aus dem Russischen von Friedrich Scharfenberg

Umschlagbild: Franz Josef Dobiaschofsky

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Über den Autor

Der Ehre entgegen von Jugend an

Erstes Kapitel
Der Sergeant der Garde

Wär' in der Garde morgen Hauptmann schon ...

»Das tut nicht not: Soll in der Front nur stehen« ...

Ist recht gesprochen: Mag es so geschehen ...

Doch wer sein Vater?

Kujaschnin

Mein Vater Andrej Petrowitsch Grinjow hatte in seiner Jugend unter dem Grafen Münnich gedient und nahm im Jahre 17.. seinen Abschied als Major I. Klasse. Seit jener Zeit lebte er in seinem Dorfe im Gouvernement Simbirsk, wo er dann auch die Jungfrau Awdotja Wassiljewna J. heiratete, die Tochter eines dortigen armen Edelmannes. Wir waren neun Geschwister. Meine Brüder und Schwestern starben schon in ihrer Kindheit. Ich wurde schon früh dem Semjonowschen Regimente als Sergeant zugezählt, welche Auszeichnung ich dem Gardemajor und Fürsten B., einem nahen Verwandten zu verdanken hatte. Bis zur Beendigung meiner Erziehung galt ich als beurlaubt. Damals wurden wir nicht so erzogen, wie es heute geschieht. Mit fünf Jahren wurde ich dem Leibjäger Saweljitsch übergeben, der seines nüchternen Betragens wegen zu meinem Erzieher ernannt wurde. Unter seiner Aufsicht lernte ich in meinem zwölften Jahre ein wenig Russisch lesen und konnte äußerst vernünftig über die Eigenschaften von Jagdhunden reden. Zu dieser Zeit engagierte mein Vater einen Franzosen für mich, Monsieur Beaupré, den man aus Moskau mitsamt dem jährlichen Vorrat an Wein und Provenceröl verschrieb. Sein Kommen gefiel dem Saweljitsch durchaus nicht.

»Nun Gott sei Dank,« murmelte er für sich: »ich glaube das Kind ist doch gewaschen, gekämmt und gefüttert. Muß man denn wirklich unnütz Geld ausgeben, um einen Musje zu engagieren, als ob man keine eigenen Leute mehr hätte!«

In seiner Heimat war Beaupré Coiffeur gewesen, in Preußen Soldat und kam dann nach Rußland pour être outschitel1, obwohl er die Bedeutung dieses Wortes nicht sehr gut begriff. Er war ein guter Kerl, aber hochgradig leichtsinnig und liederlich. Seine vornehmste Schwäche war die Leidenschaft zum schönen Geschlecht; aber nicht selten kam es vor, daß er für seine Liebkosungen nur Rippenstöße erntete, die ihn zuweilen ganze Tage ächzen ließen. Außerdem war er, wie er selber sagte, kein Feind der Flasche, d. h. um's anders auszudrücken, er trank lieber zu viel als zu wenig. Doch da Wein bei uns nur zum Diner gereicht wurde, und auch da nur in kleinen Gläsern, und man den Lehrer meistens überging, so gewöhnte sich mein Beaupré sehr schnell an die russischen Schnäpse und zog sie sogar den Weinen seiner Heimat vor, da sie auf den Magen so außerordentlich wohltätig wirkten. Wir beide gewöhnten uns schnell aneinander und trotzdem er sich kontraktlich verpflichtet hatte, mich Französisch, Deutsch und überhaupt alle Wissenschaften zu lehren, zog er es doch vor, von mir ein wenig Russisch plaudern zu lernen, worauf ein jeder von uns sich mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigte. Wir lebten wie ein Herz und eine Seele. Ich wünschte mir gar keinen andern Mentor. Doch bald schon trennte uns das Schicksal, und das geschah folgendermaßen:

Ein dickes und pockennarbiges Mädchen, die Wäscherin Palaschka, und die schiefe Kuhmagd Akulka schienen sich irgendwie verabredet zu haben, meiner Mutter zu gleicher Zeit zu Füßen zu fallen, ziehen sich sündiger Schwäche und gestanden mit Tränen, daß es der Musje wäre, der ihre Unerfahrenheit überlistet hätte. Meine Mutter verstand keinen Scherz in solchen Dingen und teilte es dem Vater mit. Der machte kurzen Prozeß. Er ließ augenblicklich nach der Kanaille von Franzosen rufen. Man meldete ihm, daß Musje mir eine Stunde erteile. Der Vater kam in mein Zimmer. Beaupré schlief gerade auf meinem Bette den Schlaf der Unschuld. Ich meinerseits war beschäftigt. Man muß wissen, daß für mich eine geographische Karte aus Moskau verschrieben worden war. Sie hing unbenutzt an der Wand, allein lange schon führte mich die Breite und Güte des Papiers in Versuchung. Ich hatte den Entschluß gefaßt, aus ihr einen Drachen zu bauen und da Beaupré schlief, machte ich mich an die Arbeit. Mein Vater trat in dem Augenblick in das Zimmer, als ich einen Bastschwanz an das Kap der guten Hoffnung heftete. Da er meine eifrigen Bemühungen in der Geographie bemerkte, fand er es für nötig, mich am Ohr zu ziehen, eilte dann zu Beaupré, weckte ihn sehr unvorsichtiger Weise und überschüttete ihn mit Vorwürfen. In seiner Verwirrung wollte Beaupré eigentlich aufstehen, aber er konnte es nicht: der unglückliche Franzose war total betrunken. Sieben Sünden eine Antwort. Mein Vater zerrte ihn am Kragen aus dem Bett, stieß ihn zur Tür hinaus und noch am selben Tage wurde er aus dem Hause gejagt, zur unbeschreiblichen Freude Saweljitschs! Damit war meine Erziehung beendet.

Ich lebte wie ein rechter Landjunker, war hinter den Tauben her und spielte mit den Kindern des Gutsgesindes. Unterdessen war ich schon sechzehn Jahre alt geworden. Da trat eine Veränderung in meinem Leben ein.

Einmal im Herbst braute meine Mutter im Gastzimmer ein Getränk aus Honig, ich schaute auf den kühlenden Schaum und leckte mir die Lippen ab. Der Vater las am Fenster den »Hofkalender«, den er jährlich erhielt. Dieses Buch übte immer einen mächtigen Einfluß auf ihn aus: niemals noch hatte er es ohne besondere Hingabe gelesen und die Lektüre brachte seine Galle in seltsame Erregung. Meine Mutter, die alle seine Gewohnheiten und Grillen so gut kannte, war immer bemüht, das unglückselige Buch irgendwo, möglichst weit weg zu verstecken und auf diese Weise kam ihm der »Hofkalender« oft ganze Monate lang nicht unter die Augen. Wenn er ihn dann aber zufällig fand, ließ er ihn gewöhnlich lange Stunden nicht aus seinen Händen. Also mein Vater las den »Hofkalender«, las, zuckte zuweilen mit den Achseln und wiederholte mit halber Stimme: »Generalleutnant! ... Er war in meiner Kompanie Sergeant! ... Ritter beider russischer Orden! ... Sind wir denn schon so weit? ...« Dann endlich schleuderte mein Vater den Kalender aufs Sofa und versank in Nachdenklichkeit, die nichts Gutes verhieß.

Plötzlich wandte er sich an die Mutter:

»Awdotja Wassiljewna, wie alt kann wohl Peter sein?«

»Ja, er ist jetzt im siebzehnten Jahr,« antwortete die Mutter: »Peter ist in demselben Jahre geboren, als die Tante Nastasia Gerasimowna lahm wurde und damals war es auch, daß ...«

»Ja, ja,« unterbrach sie der Vater: »nun ist es für ihn Zeit, in den Dienst zu treten. Schon viel zu viel hat er sich in den Mädchenkammern herumgetrieben und den Tauben nachgestellt.«

Der Gedanke an eine Trennung von mir, die schon so bald stattfinden sollte, berührte meine Mutter so heftig, daß sie den Löffel in die Kasserolle fallen ließ und Tränen ihr Gesicht überströmten. Mein Jubel jedoch wäre schwer zu schildern. Der Gedanke an den Dienst verschmolz in mir mit dem Gedanken an Freiheit und an die vielen Vergnügungen des Petersburger Lebens. Ich sah mich schon als Offizier in der Garde, und das war, wie ich damals glaubte, der Gipfel irdischer Seligkeit.

Mein Vater liebte es weder seine Pläne zu ändern, noch deren Ausführung zu verschieben. Der Tag meiner Abreise wurde bestimmt. An dem ihm vorhergehenden Abend erklärte mein Vater, daß er beschlossen habe, meinem zukünftigen Kommandanten über mich zu schreiben und verlangte Feder und Papier.

»Versäume nur ja nicht, Andrej Petrowitsch,« sagte meine Mutter: »auch von mir dem Fürsten B. einen Gruß zu bestellen und ich wäre davon überzeugt, daß er unserm Peter seine Gnade nicht entziehen wird.«

»Was redest du da!« entgegnete der Vater finster. »Aus welchem Grunde soll ich denn dem Fürsten B. schreiben?«

»Du sagtest doch, daß du dem Chef Peters schreiben wolltest.«

»Nun und was dann?«

»Ja, der Chef Peters ist doch eben der Fürst B. Peter ist doch dem Semjonowschen Regiment zugezählt.«

»Zugezählt! Was geht das mich an, daß er zugezählt ist? Peter soll nicht nach Petersburg fahren. Was soll er denn dort lernen, wenn er in Petersburg dient? Verschwendereien und Windbeuteleien? Nein, da soll er lieber in der Armee dienen, den Tornister schleppen, Pulver riechen, ein Soldat werden und kein latschiger Gardelaffe! Wo ist sein Paß? Gib mal her.«

 

Die Mutter suchte meinen Paß hervor, den sie in einer Schatulle mitsamt dem Hemde, in dem ich getauft worden war, aufbewahrte und übergab ihn dem Vater mit zitternder Hand. Aufmerksam las ihn mein Vater durch, legte ihn vor sich auf den Tisch und begann seinen Brief.

Die Neugierde quälte mich. Wenn schon nicht nach Petersburg, wohin schickte man mich dann. Meine Augen hingen wie gebannt an des Vaters Feder, die sich ziemlich langsam bewegte. Schließlich war er fertig, machte aus dem Brief und dem Paß ein Paket, das er überdies versiegelte, nahm seine Brille ab, rief mich heran und sagte:

»Nimm hier diesen Brief und übergib ihn Andrej Karlowitsch R., meinem alten Kameraden und Freunde. Du fährst nach Orenburg, um unter ihm zu dienen.«

Und so brachen denn alle meine glänzenden Hoffnungen zusammen! Anstatt des lustigen Petersburger Lebens erwartete mich Langeweile in einem wüsten und fernen Lande. Der Dienst, an den ich noch vor einer Minute mit solchem Jubel gedacht hatte, erschien mir jetzt ein schweres Unglück. Doch da war kein Widerspruch möglich! Schon am frühsten Morgen des nächsten Tages fuhr der Reisewagen an der Freitreppe vor; man verpackte in ihm meinen Koffer, ein Etui mit dem Teegeschirr und Pakete mit frischem Brot und Pasteten, ein letztes Zeichen häuslicher Verwöhnung. Meine Eltern segneten mich. Der Vater sagte:

»Leb wohl, Peter. Diene treu, wenn du geschworen hast, gehorche deinen Vorgesetzten, sei kein Speichellecker, dränge dich nie beim Dienst vor, aber vermeide auch nie den Dienst, und gedenke des Sprichwortes: ›Hüte das neue Kleid und die Ehre in der Jugendzeit.‹«

Weinend verlangte meine Mutter von mir, daß ich auf meine Gesundheit bedacht wäre und von Saweljitsch, ihr Kind zu behüten. Darauf zog man mir einen Hasenpelz an und darüber einen Fuchspelz. Saweljitsch und ich setzten uns in den Reisewagen und ich begann meinen Weg unter bitteren Tränen.

Schon in derselben Nacht erreichten wir Simbirsk, wo ich einen Tag verbringen sollte, um die wichtigsten Sachen einzukaufen, mit welchem Geschäfte Saweljitsch betraut worden war. Wir stiegen in einem Gasthause ab. Am Morgen verließ mich Saweljitsch, um in die verschiedenen Kaufläden zu gehen. Da es mir langweilig wurde, aus dem Fenster auf die schmutzige Straße zu sehen, spazierte ich durch alle Zimmer. Als ich auch ins Billardzimmer kam, sah ich einen hochgewachsenen Herrn, von 35 Jahren, mit langem schwarzen Schnurrbart, im Schlafrocke, mit einem Queue in der Hand und der Pfeife zwischen den Zähnen. Er spielte mit dem Kellner, der jedesmal, wenn er gewann, ein Glas Schnaps trinken durfte, wenn er jedoch verlor, auf allen Vieren unter das Billard kriechen mußte. Ich sah dem Spiel zu. Je länger es dauerte, um so öfter wiederholte sich das Lustwandeln auf allen Vieren, bis endlich der Kellner gleich ganz unter dem Billard blieb. Der Herr sandte ihm ein paar starke Ausdrücke als Leichenrede nach und schlug mir vor, eine Partie mit ihm zu spielen. Ich lehnte ab, da ich nicht zu spielen verstand. Dies kam ihm sehr eigentümlich vor. Er sah mich wie mitleidig an; doch wir kamen ins Plaudern. Ich erfuhr, daß er Iwan Iwanowitsch Surin hieße, daß er Rittmeister des **Husarenregiments sei, sich in Simbirsk aufhielte, um Rekruten in Empfang zu nehmen und in diesem Gasthause wohne. Surin forderte mich auf mit ihm zu Mittag zu speisen und zwar nach Soldaten-Art, was Gott gäbe. Ich willigte freudig ein. Wir setzten uns zu Tisch. Surin trank sehr viel und bewirtete mich die ganze Zeit, indem er sagte, daß man sich an den Dienst gewöhnen müsse; er erzählte mir Anekdoten aus der Armee, daß ich vor Lachen fast umfiel, und als wir das Diner beendet hatten, waren wir die besten Kameraden. Dann erbot er sich auch, mich das Billardspiel zu lehren.

»Das,« sagte er mir, »hat ein jeder von uns beim Kommiß nötig. Kommt man zum Beispiel auf dem Marsch in einen abgelegenen Ort; womit soll man sich beschäftigen? Doch nicht immer und immer Juden prügeln. Da geht man dann eben ins Wirtshaus und spielt Billard; aber darum muß man zu spielen verstehen!«

Ich war völlig überzeugt und mit großem Eifer machte ich mich an die Erlernung des Spieles. Durch laute Zurufe ermunterte mich Surin, wunderte sich über meine schnellen Fortschritte, und bereits nach einigen Übungen schlug er mir vor, um Geld zu spielen, um je einen Groschen, nicht um des Gewinstes, sondern damit man nicht so umsonst spielen müsse, was nach seiner Meinung eine schlechte Angewohnheit sei. Auch damit war ich einverstanden und Surin ließ Punsch servieren und überredete mich, davon zu kosten, indem er wiederholte, daß man sich an den Dienst gewöhnen müsse, und was wäre der Dienst ohne den Punsch! Ich folgte ihm. Unser Spiel ging weiter. Je öfter ich meinen Becher leerte, desto kühner wurde ich. Alle Augenblicke flogen meine Bälle über den Rand, ich wurde hitzig, beschimpfte den Kellner, der, Gott weiß wie, zählte und von Stunde zu Stunde vergrößerte ich meinen Einsatz. – Mit einem Wort, ich führte mich wie ein Knabe auf, der zum ersten Male die Freiheit spürt. Unterdessen verging die Zeit unmerklich. Surin sah auf die Uhr, legte das Queue hin und teilte mir mit, daß ich hundert Rubel verloren hätte. Das erregte mich ein wenig. Meine Gelder bewahrte Saweljitsch auf. Ich entschuldigte mich. Surin unterbrach:

»Ach laß das! beunruhige dich nicht, ich kann sehr gut warten; nun aber laß uns zu Arinuschka fahren.«

Was war zu wollen? Mein Tag endete so liederlich wie er begonnen hatte. Wir soupierten bei Arinuschka. Surin goß mir alle Augenblicke ein und wiederholte beständig, daß man sich an den Dienst gewöhnen müsse. Vom Tische aufstehend, konnte ich mich kaum auf meinen Füßen halten; um Mitternacht brachte mich Surin wieder ins Gasthaus.

Saweljitsch begegnete uns auf der Treppe. Als er die unzweifelhaften Anzeichen meines Diensteifers sah, stöhnte er:

»Was ist mit dir geschehen, junger Herr?« sagte er mit kläglicher Stimme; »wo hast du so geladen? Ach Gott! hat man schon so eine Sünde gesehen!«

»Schweig, alter Kerl!« entgegnete ich ihm stotternd. »Du bist sicher betrunken; marsch, schlafen ... und bring mich zu Bett.« Am andern Tage erwachte ich mit Kopfschmerzen und erinnerte mich dunkel an die gestrigen Vorfälle. Meine Gedanken wurden durch Saweljitsch unterbrochen, der mit einer Tasse Tee zu mir kam.

»Früh, Peter Andrejewitsch,« sagte er zu mir und schüttelte den Kopf, »früh fängst du an zu bummeln. Und wem artest du nach? Weder Vater noch Großvater waren Säufer; von der Mutter schon gar nicht zu reden: die hat in ihrem Leben nichts als Kwass in den Mund zu nehmen die Güte gehabt. Wer aber ist an allem schuld? Der verdammte Musje! So kam er immer zur Antipjewna gelaufen: › Madame, je vous prii Wodka.‹ Da hast du nun dein ganzes › je vous prii‹! Nicht zu sagen: dieser Hundesohn hat dich gut erzogen. Und daß man auch gerade zum Erzieher einen Heiden aussucht! Als wenn der Herr nicht seine eigenen Leute hätte!«

Eigentlich schämte ich mich, ich wandte mich ab und sagte:

»Du kannst gehen, Saweljitsch; ich will deinen Tee nicht.«

Aber es war nichts Geringes, Saweljitsch zum Schweigen zu bringen, wenn er schon einmal zu predigen begonnen hatte.

»Sieh du mal, Peter Andrejewitsch, ist es denn wirklich so schön das Bummeln. Der Kopf ist schwer und man mag nicht essen. Der Säufer taugt zu nichts ... Trink doch mal Gurkensauce mit Honig, am besten aber wäre es, wenn du durch einen kleinen Kräuterschnaps dich nüchtern machen würdest, willst du nicht?«

In diesem Moment kam ein Knabe herein und brachte mir ein Billett von I. I. Surin. Ich erbrach es und las folgende Zeilen:

»Mein teurer Peter Andrejewitsch, bitte schicke mir durch meinen Knaben die hundert Rubel zu, die du gestern an mich verloren hast. Ich benötige das Geld dringend.

Zu allen Diensten bereit

Iwan Surin!«

Da war nichts zu machen. Ich machte ein möglichst gleichgültiges Gesicht, wandte mich an Saweljitsch, der der Verwalter meines Geldes, meiner Wäsche und meiner Geschäfte war und befahl ihm, dem Knaben hundert Rubel zu geben.

»Wie! warum?« fragte mich der bestürzte Saweljitsch.

»Ich schulde sie ihm,« entgegnete ich mit aller nur möglichen Kaltblütigkeit.

»Schulden!« antwortete Saweljitsch, der von Minute zu Minute immer mehr erstaunte: »Ja wie kannst du sie ihm denn schulden? Da ist etwas nicht in Ordnung. Es ist dein Wille, Herr, aber das Geld gebe ich nicht heraus.«

Ich bedachte, daß, wenn ich in dieser entscheidenden Minute den alten Starrkopf nicht unterbekäme, es mir in Zukunft äußerst schwierig sein würde, mich von seiner Vormundschaft zu befreien und darum sah ich ihn hochmütig an und sagte:

»Ich bin der Herr und du bist mein Diener. Das Geld gehört mir. Ich habe es verspielt, weil es mir so gefiel; dir aber kann ich nur raten, hier nicht den Klugen zu spielen, sondern auszuführen, was man dir befiehlt.«

Saweljitsch war von meinen Worten so überrascht, daß er ganz starr dastand und nur die Hände zusammenschlug.

»Worauf wartest du denn noch?« schrie ich wütend.

»Väterchen Peter Andrejewitsch,« sprach er mit zitternder Stimme: »quäle mich nicht so und mach mich nicht traurig. Ach du mein Licht, hör doch auf mich den Alten: schreibe diesem Räuber, daß du nur gescherzt hättest und daß wir gar nicht soviel Geld hätten. Hundert Rubel! Barmherziger Gott! Sage, daß deine Eltern dir aufs strengste verboten hätten um anderes zu spielen als um Nüsse ...«

»Schwätz keine Dummheiten,« unterbrach ich ihn streng, »her mit dem Gelde oder ich schmeiß dich hinaus.«

Saweljitsch sah mich tieftraurig an und dann holte er, was ich schuldig war. Der arme Alte tat mir eigentlich leid; ich aber wollte meine Freiheit und außerdem ihm beweisen, daß ich kein Kind sei. Das Geld wurde Surin zugestellt. Saweljitsch hatte jedoch Eile, mich aus dem verwünschten Gasthaus zu bringen. Er erschien mit der Nachricht, daß die Pferde bereit seien. Mit unruhigem Gewissen und stummer Reue verließ ich Simbirsk, nahm von meinem Lehrer keinen Abschied, da ich nicht glaubte, ihn jemals wiederzusehen.

1 Utschitjel (russisch) = Lehrer

Zweites Kapitel
Der Führer

Ach du Weite, du, weite Ferne du,

Ach du Flur, du unbekannte du!

Daß ich zu dir doch nicht kommen wär',

Hätt' das gute Pferd mich nicht zu dir geführt:

So verführten sie des kühnen Knaben Herz,

Flinke Eile, kühner Jugendmut,

Des berauschten Bluts Vergessenheit.

Altes Lied

Meine Betrachtungen auf dem Wege waren nicht sehr heiter. Mein Verlust war nach dem damaligen Geldwerte nicht unbedeutend. Ich mußte mir innerlich gestehen, daß mein Betragen im Simbirskschen Gasthaus dumm war und so fühlte ich mich Saweljitsch gegenüber schuldig. Das alles quälte mich. Finster saß der Alte ganz an den Rand des Wagens gedrückt, wandte sich von mir ab, schwieg und räusperte sich nur zuweilen. Ich wollte mich unbedingt mit ihm versöhnen, aber ich wußte nicht wie es anzufangen sei. Endlich sagte ich ihm:

»Nun, nun Saweljitsch! Es ist schon genug, wollen wir Frieden machen, ich bin ja schuld; ich sehe selbst ein, daß ich schuld bin, ich habe gestern gelumpt und dich um nichts beleidigt. Ich verspreche dir in Zukunft klüger zu sein und mehr auf dich zu hören. Ärgere dich nicht weiter und machen wir Frieden.«

»Ach Väterchen Peter Andrejewitsch!« entgegnete er mit einem tiefen Seufzer: »auf mich selber bin ich wütend, selber bin ich an allem schuld. Wie konnt' ich dich auch allein im Gasthause lassen! Was tun? Die Sünde ist nun mal geschehen: ich gedachte die Küsterfrau, meine Gevatterin, aufzusuchen. Und so war's denn: ging zur Gevatterin, ließ dich in dem verfluchten Loch allein. Ein Unglück und damit genug! Wie soll ich meinem Herrn vor die Augen treten? Und wenn sie's erfahren, was werden sie dazu sagen, daß das Kind trinkt und spielt?«

Um den armen Saweljitsch zu trösten, versprach ich ihm, nie wieder ohne seine Einstimmung auch nur eine Kopeke zu verschleudern. Allmählich beruhigte er sich dann, konnte es aber nicht lassen, immer noch zuweilen vor sich herzumurmeln, indem er den Kopf schüttelte:

»Hundert Rubel! Keine Kleinigkeit!«

 

Ich näherte mich dem Orte meiner Bestimmung. Rings um mich dehnten sich traurige Wüsten aus, die von Hügeln und Schluchten durchschnitten wurden. Alles war von Schnee bedeckt ... Die Sonne sank. Unser Reisewagen fuhr auf einem schmalen Wege oder genauer gesagt, er folgte der Spur von Bauernschlitten. Plötzlich schaute unser Fuhrmann scharf zur Seite, wandte sich dann an mich, indem er den Hut abnahm, und sagte:

»Herr befiehlst du nicht lieber umzukehren?«

»Und, warum das?«

»Das Wetter ist unzuverlässig: schon erhebt sich ein leichter Wind; und sieh, wie er den frischen Schnee aufwirbelt.«

»Ja was geht das uns an?«

»Aber siehst du auch, daß dort ...?«

Und der Fuhrmann wies mit der Peitsche nach Osten.

»Ich sehe dort nichts außer weißer Steppe und hellem Himmel.«

»Nein, nein: jenes Wölkchen meine ich.«

Und tatsächlich sah ich nun am Rande des Himmels ein weißes Wölkchen, das ich anfangs für einen kleinen fernen Hügel gehalten hatte. Der Fuhrmann teilte mir mit, daß dieses Wölkchen einen heftigen Schneesturm prophezeie.

Ich hatte von den dortigen Schneestürmen gehört und wußte, daß ganze Karawanen von ihnen verschüttet worden waren. Saweljitsch stimmte der Ansicht des Fuhrmannes bei und riet umzukehren. Doch der Wind schien mir nicht stark zu sein: ich glaubte, daß es möglich wäre, noch rechtzeitig die nächste Station zu erreichen, und befahl schneller zu fahren.

Der Fuhrmann beeilte sich und sah immer scharf nach Osten. Die Pferde liefen munter. Der Wind wurde von Stunde zu Stunde heftiger. Das Wölkchen verwandelte sich in eine weiße Wolke, die schwer heraufkam, wuchs und allmählich den ganzen Himmel bedeckte. Feiner Schnee kam herab, plötzlich fiel er in dichten Flocken. Der Wind heulte, das war der Schneesturm. In einem Augenblick war der dunkle Himmel mit dem Meer von Schnee verschmolzen. Alles verschwand.

»Nun, Herr,« schrie der Fuhrmann, »ist das Unglück da – der Schneesturm! ...«

Ich schaute aus dem Reisewagen, alles war Sturm und dunkel. Der Wind heulte mit solch wildem Ausdruck, als wäre er lebendig; der Schnee überschüttete mich und Saweljitsch. Die Pferde gingen im Schritt und blieben bald stehen.

»Was fährst du denn nicht mehr weiter?« fragte ich den Fuhrmann ungeduldig.

»Was soll man da noch weiterfahren?« entgegnete er, indem er vom Bock kroch, »sowieso wissen wir nicht, wohin wir gefahren sind: da ist kein Weg zu sehen und ringsum nur Finsternis.«

Ich schimpfte auf ihn ein. Saweljitsch trat für ihn ein.

»Warum mußtest du auch nicht hören,« sagte er böse, »wärst du doch lieber in die alte Herberge zurückgekehrt, hättest Tee getrunken, bis zum Morgen geschlafen, dann hätte auch der Sturm nachgelassen und wir konnten weiterfahren. Wohin eilen wir denn so? Gut wär's, wenn's noch auf eine Hochzeit ginge!«

Saweljitsch hatte recht. Da war nichts mehr zu machen, der Schnee stürzte nur so. Um den Reisewagen herum bildete sich ein hoher Schneehaufen. Die Pferde standen da, ließen die Köpfe hängen und erzitterten von Zeit zu Zeit. Der Fuhrmann hatte nichts zu tun und machte sich am Geschirr zu schaffen. Saweljitsch brummte; ich schaute ringsum und hoffte irgendein Anzeichen von Weg oder Wohnung zu erblicken, doch ich konnte nichts sehen als das trübe Wirbeln des Schneesturmes. Plötzlich sah ich etwas Schwarzes.

»He, Fuhrmann!« schrie ich, »sieh doch mal hin – was ist das da für ein schwarzer Gegenstand?«

Der Fuhrmann schaute angestrengt hin.

»Gott weiß was, Herr,« sagte er, indem er sich auf seinen Platz setzte; »nicht eigentlich ein Wagen, nicht eigentlich ein Baum, denn es bewegt sich scheinbar. Vielleicht ein Wolf oder ein Mensch.«

Ich befahl ihm, auf den unbekannten Gegenstand zuzufahren, der sich im selben Augenblicke uns entgegenbewegte. Nach etwa zwei Minuten begegneten wir einem Manne.

»He, guter Mann!« schrie ihm der Fuhrmann zu: »sag', weißt du nicht, wo der Weg ist?«

»Der Weg ist hier, ich stehe auf hartem Boden,« entgegnete der Wanderer, »aber warum fragst du?«

»Hör' mal, lieber Bauer,« sagte ich zu ihm, »vielleicht kennst du diese Gegend hier? Willst du mich bis zum nächsten Nachtquartier führen?«

»Ich kenne die Gegend,« antwortete der Wanderer, »ich habe sie, Gott sei Dank, kreuz und quer durchfahren und durchwandert. Aber was für ein Wetter das ist, da kann man jeden Augenblick vom Wege abkommen. Besser wäre es, hier zu halten und zu warten, der Sturm wird nachlassen und der Himmel klarer werden, dann werden die Sterne uns schon den Weg zeigen.«

Seine Kaltblütigkeit ermunterte mich. Ich war schon bereit, mich in mein Schicksal zu ergeben und in der Steppe zu übernachten, als plötzlich der Wanderer sich gewandt auf den Bock schwang und dem Fuhrmann sagte: »Nun, Gott sei Dank, ein Haus ist nicht mehr fern; biege nach rechts ab und fahre drauflos.«

»Warum soll ich nach rechts fahren?« fragte der Fuhrmann mürrisch, »wo siehst du denn einen Weg? Du glaubst wohl, daß die Pferde und das Geschirr nicht mir gehören und daß wir nur so drauflosfahren können.«

Mir schien der Fuhrmann recht zu haben.

»Allerdings,« sagte ich, »warum glaubst du denn, daß ein Haus nahe sei?«

»Deshalb, weil der Wind von dorther wehte,« antwortete der Wanderer, »und ich den Geruch des Rauches spürte; folglich ist ein Dorf in der Nähe.«

Seine Findigkeit und die Feinheit des Geruchs verwunderten mich. Ich befahl dem Kutscher zu fahren. Schwer stampften die Pferde durch den tiefen Schnee. Der Reisewagen bewegte sich nur langsam vorwärts, denn bald mußte ein Schneehaufen überfahren werden, bald sanken wir in einen Graben, und es war ein beständiges Schwanken von einer Seite zur anderen wie ein Schiff auf stürmischem Meer. Saweljitsch stöhnte und jeden Augenblick stieß er gegen mich. Ich ließ die Matte aus starkem Lindenbast herab, hüllte mich fester in meinen Pelz und schlief ein, eingewiegt vom Gesang des Sturmes und dem Schaukeln der langsamen Fahrt.

Und ich hatte einen Traum, den ich niemals mehr vergessen konnte und in dem ich auch noch heute etwas wie eine Prophezeiung sehe, wenn ich ihn mit den seltsamen Geschehnissen meines Lebens zusammenhalte. Der Leser wird mir verzeihen, denn er weiß vermutlich aus Erfahrung, wie sehr es dem Menschen eigen ist, sich dem Aberglauben hinzugeben, so sehr er auch alle Vorurteile verachten mag.

Ich verfiel in jenen Zustand der Sinne und der Seele, in welchem die Wirklichkeit den Träumen weichend, mit diesen zu den unklaren Bildnissen des ersten Schlummers verschmilzt. Mir schien es, als ob der Schneesturm noch wüte und als ob wir noch immer durch die Schneewüste irrten. Plötzlich sah ich ein Tor und fuhr auf unseren Gutshof. Mein erster Gedanke war die Furcht, mein Vater könnte über mich wegen der unfreiwilligen Rückkehr unter das Dach meines Vaterhauses zornig werden und dies für absichtlichen Ungehorsam halten. Unruhig sprang ich aus dem Reisewagen und sah: die Mutter kam mir auf der Treppe mit tieftraurigem Gesicht entgegen. Leise sagte sie zu mir: »Der Vater ist krank, ist dem Tode nahe und will von dir Abschied nehmen.« Voll Furcht folge ich ihr ins Schlafgemach. Ich sehe, das Zimmer ist schwach beleuchtet; rings um das Bett stehen Menschen mit traurigen Gesichtern. Leise trete ich an das Bett heran; die Mutter schiebt den Vorhang zurück und spricht: »Andrej Petrowitsch! Peter ist zurückgekommen, als er von deiner Krankheit erfuhr; segne ihn.« Ich kniete nieder und schaute auf den Kranken. Doch da? ... An Stelle meines Vaters sehe ich einen schwarzbärtigen Bauer im Bett liegen, der mich heiter ansieht. Verwundert wandte ich mich zur Mutter und fragte sie: »Was soll das bedeuten? Dies ist nicht der Vater. Und aus welchem Grunde soll ich um den Segen eines Bauern bitten?« – »Ach, das hat nichts zu sagen, Peter,« entgegnete mir meine Mutter: »das ist dein stellvertretender Vater; küß ihm die Hand und mag er dich segnen ...« Ich willigte nicht ein. Da aber sprang der Bauer vom Bette auf, griff nach seinem Beile und begann es nach allen Seiten zu schwingen. Ich wollte fliehen ... und konnte nicht; das Zimmer füllte sich mit Leichen; ich strauchelte über Körper und glitt in den Blutlachen aus ... Der entsetzliche Bauer rief mich liebevoll an und sprach: »Fürchte dich nicht, sondern komm und laß dich segnen ...« Grauen und Verwunderung packten mich ... Und in diesem Augenblicke erwachte ich, die Pferde hielten; Saweljitsch faßte mich an der Hand und sprach:

»Steig aus, Herr, wir sind da.«

»Wo denn?« fragte ich und rieb mir die Augen.

»In einer Herberge. Gott half und wir stießen gerade auf ihren Zaun. Herr, steig schnell aus und erwärme dich.«

Ich stieg aus dem Wagen. Der Schneesturm wütete noch immer, wenn auch mit geringerer Gewalt. Es war so dunkel, daß man geradesogut sehen konnte wie ein Blinder. Der Gastwirt kam uns an die Pforte entgegen und führte mich, während er eine Laterne unter dem Rockschoß hielt, in die Wirtsstube, die eng, aber ziemlich reinlich war; ein Kienspan erleuchtete sie. An der Wand hingen eine lange Büchse und eine hohe Kosakenmütze.