Die Orbit-Organisation

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Hoffnungslos veraltet: Die Pyramidenorganisation

Schauen wir uns zunächst an, wie pyramidale Systeme grundkonzipiert sind. Das erkennen wir gut in Abbildung 3:

Der Geschäftsführer, Vorstand beziehungsweise CEO (Chief Executive Officer) wird durch Attribute wie Macht und ein exzessives Salär stark herausgehoben.

Unter ihm gibt es mehrere Führungsebenen: eine obere, heutzutage meist C-Level genannt (CMO, CIO, CFO usw.), eine mittlere und eine untere.

Der Pulk der Mitarbeiter trägt die ganze Last. Es sind »die da unten«, das Fußvolk, das Humankapital, Spielfiguren des Managements, Mittel zum Zweck.

Alles Streben der Organisation gilt der »Sonnenanbetung«, Profitmaximierung genannt.

Ein solches Denkmodell hängt der männlichheroischen Ansicht nach, dass es ein paar wenige weit oben gäbe, die »den ganzen Laden schmeißen«. Viele Symptome des Abblockens neuer Organisationsstrukturen, aber auch das weitläufige Fehlen weiblicher Führungskräfte im obersten Stock, haben ihren Ursprung in diesem veralteten Mindset.

Visuell manifestiert sich dieses Denkmodell als Top-down-Organigramm. Es ist derart Standard, dass man es, scheinbar alternativlos, in klassischen Organisationen quasi überall findet. Im Wesentlichen wird darin dokumentiert, wer wem vorgesetzt und wer wem untergeben ist. In einer Selbstschau strukturiert man sich nach Funktionen oder Geschäftsbereichen. Die Kommunikation läuft hierarchisch von oben nach unten und wieder zurück. Was bedeutet: Oben wird gedacht, unten wird gemacht. Führungskräfte werden vor allem dafür bezahlt, dass die Mitarbeiter wie gewollt spuren. »Dienst nach Vorschrift« ist üblich. Ganze Abteilungen sind dazu da, andere zu kontrollieren.


Abb. 3: Das Pyramidenmodell einer klassischen Unternehmensorganisation

Gearbeitet wird zentralistisch organisiert in Formationen, die man gerne »Silos« nennt. Querverbindungen gibt es nur oben, zwischen den unteren Ebenen offiziell nicht. So weiß oft die rechte Hand nicht, was die linke tut, und genau das ist die Krux: Silodenke ist mit der Flexibilität, die die Märkte und Kunden heute verlangen, nicht vereinbar. Funktionssilos sind Anomalien. Sie stehen für Abschottung und Isolation, Netzwerke hingegen für Dialog und Zusammenarbeit. Silos sorgen für den gefährlichen Tunnelblick, Netzwerke für eine reiche Rundum-Perspektive. Wirklich Neues entsteht an Schnittstellen, in Randbezirken und dort, wo flexible Einsatztruppen interdisziplinär agieren – aber niemals in Silos.

Was vermittelt uns zudem ein Organigramm? Der Chef thront ganz oben, darunter, in Kästchen eingesperrt, seine brave Gefolgschaft. Dokumentiert werden nur die Leitungsfunktionen, weder Mitarbeiter noch Kunden kommen darin vor. Vielmehr kreist die Führungsriege rein um sich selbst. Sie konzentriert sich auf Macht und nicht auf den Markt. Solche Organigramme haben übrigens militärische Wurzeln. Sie zementieren Hierarchien und Unterwürfigkeit, Starrheit und Konformität. Im digitalen Sturm haben sie, so wie die Monokulturen in unseren Wäldern bei einem Orkan, nicht den Hauch einer Chance. Ein gesunder »Mischwald« wäre besser geeignet. Kreativität, die Schlüsselressource der Zukunft, wird durch Top-down-Organigramme abgetötet. Indem man Mitarbeitern Macht und Bewegungsfreiheit entzieht, reduziert man ihre Effizienz. Und die Fähigkeit, ihr Bestes zu geben, verkümmert. Wer Menschen nach Vorgaben tanzen lässt, macht sie zu Hampelmännern. Und zwängt man seine Leute in ein Korsett aus Befehl und Gehorsam, fallen sie in Ohnmacht. Soweit die ziemlich erschütternde Erstdiagnose. Schauen wir uns das im Folgenden noch etwas genauer an.


Abb. 4: Ein klassisches Organigramm, wie man es fast überall findet

Old School: Wie klassische Organisationen funktionieren

Klassische Old-School-Organisationen nennen wir in diesem Buch bisweilen tradiert, etabliert, herkömmlich, traditionell, fragmentiert, autokratisch, alteingesessen, pyramidal. Ihre Wurzeln liegen im Industriezeitalter. Sie kommen also aus einer Zeit, in der Entwicklungen linear und Märkte überschaubar waren. Folgende Merkmale gehören in aller Regel zu größeren klassischen Unternehmen:

Eine hierarchische Top-down-Organisationsstruktur

Von Zahlen und finanziellen Ergebnissen angetrieben

Fokus auf Marktführerschaft und Gewinnmaximierung

Hohe Kapitalbindung durch Besitz von Wirtschaftsgütern

Effizienzgetriebene Prozesse und große Vorschriftendichte

Flexibilitätsmangel, Risikointoleranz und Fehleraversion

Abschottung, Abteilungsegoismen, Insellösungen

Wettbewerbsverhalten im Firmeninneren und am Markt

Lineares Denken, von der Vergangenheit ausgehend in die Zukunft gerichtet

Planungs-, Vorgaben-, Genehmigungs- und Kontrollbürokratie

Mitarbeiter sind »Humankapital«, also Mittel zum Zweck

Managementtools werden schablonenhaft implementiert

Innovationen in Form von kontinuierlichen Verbesserungen

Wer so aufgestellt ist, kann ganz offensichtlich nur wenig spontane Wandeldynamik entfalten. Hauptaufgabe ist ja der Systemerhalt – und die Verwertung. Steuernd und regelnd geht es der Führung vor allem darum, das Maximum aus der Organisation herauszuholen und zugleich den Status quo abzusichern. Deshalb hat die Finanzseite das Sagen. Sie ist defizitorientiert und die Fixierung auf Kosten ist hoch. Doch Fortschritt lässt sich nicht ersparen, schon gar nicht zulasten der Kunden. Der Rotstift sollte mal besser beim Verwaltungsapparat tanzen. Was der kostet und wie viel Wertschöpfung einem durch seine Pflichtprogramme entgeht, das ist monströs. Und zugleich desaströs.

Querdenken? Muster brechen? Innovieren? In so einer Welt? Wird zwar gefordert, ist aber eigentlich gar nicht erwünscht. Die Menschen in den Unternehmen spüren das intuitiv – und verhalten sich lieber still. Querdenker stören, Musterbrecher destabilisieren das System und Innovationen sind ungewiss. Schwingt sich zudem einer zum Neuerer auf, hat er die Nutznießer des alten Systems zum Feind. Mithin sind Beharrungstendenzen erklärlich. Das klingt dann so: »Unsere Mitarbeiter wollen das nicht!« – »Unsere Führungskräfte ziehen nicht mit!« – »So was funktioniert bei uns eh nicht!«, gern zur Verstärkung ergänzt um ein »Isso!« mit Ausrufezeichen. Ein derart kapitulierendes Denken macht Transformationsversagen sehr, sehr wahrscheinlich.

»Es ist ziemlich sinnlos, die Schuld für Mangel an Veränderung, Innovation, Verbesserung immer abwechselnd ›den Mitarbeitern‹ oder ›den Führungskräften‹ in die Schuhe zu schieben. In Wirklichkeit haben die meisten Unternehmen nicht ein Personalproblem, sondern ein gewaltiges System-Problem: Ihre Organisationsmodelle sind auf Bürokratie, Hierarchie und Fremdkontrolle hin ausgelegt. Da muss man sich nicht wundern, wenn Selbstverantwortung, unternehmerisches Denken und Teamgeist aus der Organisation verschwinden. Man kann eben mit Weisung und Kontrolle kein Unternehmertum erzeugen«, sagt der international renommierte Organisationsexperte Niels Pfläging, der sich selbst Management-Exorzist nennt.12


Abb. 5: Wesentliche Begriffe in Old-School-Unternehmen

Die Auswirkungen veralteter Management-Mindsets

Hierarchiegeprägte Top-down-Organisationen schaffen ein Mindset, also eine Denk- und Handlungslogik, die genau das Verhalten hervorbringt, das zu diesem Mindset passt: Man erzieht sich lauter Mündel, die meinungslos auf Anweisungen warten. Mit anderen Worten: Man macht seine Mitarbeiter führungsbedürftig. Vorgezeichnete Wege hemmen die Fantasie und zerstören damit die Möglichkeit, eigene, andere, bessere Wege zu einer Zielerreichung zu finden. Und das ist verheerend. Denn die Zukunft ist unklarer als jemals zuvor. Der Planungshorizont wird immer enger, die Vorhersagbarkeit geht gegen null. In allen Branchen wird es nun Pioniere geben, die die Digitalisierung für völlig neue, noch nie dagewesene Anwendungen nutzen. Wir wissen nicht, ob sie kommen oder wann sie kommen, doch wenn sie kommen, dann kommen sie schnell.

 

Veraltete Mindsets machen Mitarbeiter führungsbedürftig.

Der Chef als Leitstern, der alles weiß und alles kann? Tempi passati. Vorbei. Früher war sein Machtwort sicher oft brauchbar. In einem unantizipierbaren Umfeld jedoch wird es schnell zum Irrlicht im Moor. Besser, man schafft einen lebendigen Rahmen, der das Wissen und Können von vielen, möglichst der Besten, rege miteinbezieht. »Früher habe ich versucht, gute Antworten zu geben. Heute versuche ich, gute Fragen zu stellen«, erzählt uns ein Manager. Bingo! Genauso aktiviert man dezentrale Intelligenz.

Als traditionelle Unternehmen entstanden, war die Komplexität niedrig. Insofern war Planung gut machbar. Entscheidungen »von oben« passten zum damaligen Zeitgeist. Top-down-Konstrukte waren eine logische Folge. Doch sie haben auch eine Menge Kollateralschäden erzeugt. Weil Effizienz im Vordergrund stand, ist die Menschlichkeit schnell auf der Strecke geblieben. Managerwichtigkeit wurde in »Kontrollspanne« gemessen. Schlechte Führung? Wurde wissentlich toleriert, solange die Ergebnisse stimmten. Despoten, Menschenschinder, autoritäre Walzen? Keine Seltenheit. Hinter vorgehaltener Hand wurde von »Chefs aus der Hölle« gesprochen.

Ein ganzes Arsenal dirigistischer Managementmoden hielt unhinterfragt Einzug, »weil es alle so machen«. Man kannte es eben nicht anders. So wurden ganze Managergenerationen sozialisiert: »Wir sind nur den Anteilseignern verpflichtet, alle anderen Anspruchshaltungen interessieren uns nicht.« Ansichten wie diese waren zu Shareholder-Value-Zeiten völlig normal. Die brachiale Egomanie vieler Konzerne und ihrer Spitzenmanager hält leider bis heute an. Dies wird aufgrund einer einseitig auf Kapitalperformance ausgerichteten Unternehmensbewertung durch Analysten auch noch begünstigt. Profitmaximierung wird zum alles überstrahlenden Selbstzweck.

Externalitäten bedeutet: Profit wird auf Kosten Dritter erzielt.

Das Erzeugen von Externalitäten ist in solchen Systemen gängige Praxis. Externalitäten sind unkompensierte Effekte, die auf Bereiche außerhalb des Unternehmens abgewälzt werden und dort erhebliche Schäden verursachen, ohne dass jemand dafür die Verantwortung übernimmt. So wird Profit auf Kosten Dritter oder des Allgemeinwohls erzielt, oft auf dem Rücken der Ärmsten und Schwächsten. Denken wir nur an Kinderarbeit, moderne Sklaverei, erschütternde Produktionsbedingungen, das Plastikdesaster, den Pestizidwahnsinn, das Palmöldrama, die Elektroschrottberge, die Giftmülldeponien, die Massentierhaltung, das Artensterben, die Plünderung von Bodenschätzen, den ungebremsten Raubbau an der Natur, die Abermillionen von Toten durch Umweltsünden. Margen, Preisdruck und Gier lassen Ethos, Anstand und Achtung der Menschenwürde manchmal völlig versanden. Und nein, ein bisschen Corporate-Social-Responsibility-Aktionismus wäscht einen ganz sicher nicht rein. Wer auf solche Art modernen Ablasshandel betreibt, wird sehr schnell durchschaut.

Auch der sogenannte Homo oeconomicus, der seine Entscheidungen rein vernunftmäßig trifft und selbstsüchtig seinem Nutzen frönt, fällt in die alte Businesszeit. Er ist eine traurige Erfindung weltfremder Wirtschaftsökonomen. In Wahrheit hat es ihn nie gegeben. Doch das ehemals vorherrschende Menschenbild spukt als Poltergeist noch immer in vielen Köpfen herum. Es geht zum Beispiel davon aus, dass Mitarbeiter träge und arbeitsunwillig seien, anspruchslose Aufgaben bevorzugten und Verantwortung scheuten, weshalb sie gefügig gemacht und zur Arbeit angetrieben werden müssten. Dies entspricht der weitläufig bekannten Theorie X von Managementprofessor Douglas McGregor, die er 1960 in seinem Buch The Human Side of Enterprise beschrieb. Darin hat er Gott sei Dank auch seine Theorie Y entwickelt. Sie steht für die Hypothese vom grundsätzlich engagierten Mitarbeiter, der Arbeit als Möglichkeit zur Selbstverwirklichung sieht und Freude daran hat, Leistung zu bringen. Befruchtendes Führen und gute Rahmenbedingungen ermöglichen seine volle Entfaltung. Tatsache ist: Von Haus aus gibt es keine Theorie-X-Menschen. Schlechte Führung lässt sie so werden. Ed Catmull, Leiter der überaus erfolgreichen Pixar Animation Studios, hat das einmal so ausgedrückt: »Wir beginnen mit der Annahme, dass unsere Mitarbeiter talentiert sind und einen Beitrag leisten wollen. Wir akzeptieren, dass unser Unternehmen ungewollt dieses Talent auf unzählige Weisen einengt. Aber wir versuchen, diese Hindernisse zu finden und zu beseitigen.«13

Tatsächlich lassen sich Mitarbeiter auf ganz andere Weise unterscheiden: Einerseits gibt es die erfahrenen Mitarbeiter, die Könner. Das sind jene, die sich in ihrem Bereich sehr gut auskennen. Andererseits gibt es weniger erfahrene Leute. Dementsprechend sollte Führung ausschließlich nach diesem Kriterium unterscheiden: entweder begleitend oder Freiraum schaffend. Den erfahrenen Mitarbeitern muss Freiheit gegeben werden, damit sie ihre eigenen Lösungen entwickeln können. Demgegenüber ist es wichtig, die noch wenig erfahrenen Einsteiger an die Hand zu nehmen. Führungskräfte müssen ihnen Zeit geben, damit diese Mitarbeiter aus ihren Fehlern für die Zukunft lernen und so zu Könnern werden. Wie schon Albert Einstein sagte: »Alles wirklich Große und Inspirierende wird von Menschen geschaffen, die in Freiheit arbeiten können.«

Was zwischen Old School und New School zeitlich geschah

Die Frage, die sich nun stellt: Was hat eigentlich den Umbruch zwischen Old-School- und New-School-Unternehmen herbeigeführt? Das Aufkommen des Internets und die Entstehung der sozialen Netzwerke, verbunden mit einem permanenten mobilen Zugang, haben zu dreierlei Zuständen geführt:

einer exponentiellen Vernetzungsdichte,

einer hohen Spontanaktivität und

zu viralen Effekten mit Tendenz zur Selbstaufschaukelung.

Dieser Dreiklang und die dazugehörigen Wechselwirkungen führen dazu, dass die Komplexität ständig steigt und niemand Vorhersagen darüber machen kann, wohin sich das Ganze entwickelt. Der Schmetterlingseffekt, so formuliert es der leider verstorbene Organisationspsychologe Peter Kruse, steckt immer dazwischen.14

Für die Menschen ergibt sich aus dieser Entwicklung dreierlei:

Sie erhalten quasi überall und jederzeit Zugang zu allem Wissen der Welt.

Sie erleben Selbstwirksamkeit und können Spuren hinterlassen.

Sie können sich in Netzwerken organisieren und zu Bewegungen zusammenschließen.

Dies wiederum führt zu einer grundlegenden Machtverschiebung vom Anbieter zum Nachfrager. Nicht der Anbieter entscheidet, wohin die Reise geht, der Nachfrager entscheidet, was zählt. Macht wird also umdefiniert. Das »Reh« hat nun die Flinte in der Hand. Wir bekommen extrem starke Kunden – und sehr starke Mitarbeiter.

Die Ökosysteme der Netzwerkwelt werden eine solche Dynamik entfalten, so Peter Kruse, dass Unternehmen es sich schlichtweg nicht leisten können, sich nicht zu verändern. Was das aber bedeutet: Nicht die Menschen müssen verändert werden, sondern das organisationale System. Man muss stimmige Rahmenbedingungen schaffen, damit die Anpassung an die Flutwelle des Wandels gelingt. Oder, um es mal martialisch zu sagen: Mit alten Waffen kann man keine neuen Kriege gewinnen. In der Produktionswelt von gestern ging es um das Steuern und Stabilisieren. In der Digitalwelt von morgen sind hohes Tempo, adaptive Beweglichkeit und ständiges Innovieren in einem komplexen Umfeld die Norm.

Komplex: Was in vernetzten Systemen passiert

Komplexe Systeme steuern sich in hohem Maß selbst. Nehmen wir als Anschauungsmaterial die komplexesten knapp anderthalb Kilo, die die Natur je erschaffen hat: unser Gehirn. Es ist der beste Beweis für funktionierende Selbstorganisation. Kein Neuronenklumpen sagt so was wie: »Wenn ihr Vorschläge habt, reicht die mal hoch, damit ich entscheiden kann, wie wir diesen Menschen zum Laufen bringen.« Vielmehr passt sich unser Denkapparat ganz ohne Befehl von »oben« in einem permanenten Selbstlernmodus blitzschnell an die sich laufend ändernden Außenbedingungen an. Dazu greift er auf einen Mix aus genetischen Programmen, gespeicherten Erfahrungen, etablierten Routinen und vorherrschenden Mindsets zurück. Seine Verschaltungen laufen nicht linear, sondern über vernetzte Knotenpunkte, etwa 20 an der Zahl. So kann unser Hirn auf mehr als einem Weg zu guten Ergebnissen kommen. Zudem bezieht es eine hohe Zahl heterogener Sinneseindrücke mit ein, bevor es entscheidet. Diese Eindrücke werden auf Relevanz überprüft und dann gewichtet. Schließlich kontrollieren permanente Rückkoppelungsschleifen, ob eine getroffene Entscheidung die richtige war.

Unser Gehirn ist ein Musterbeispiel für funktionierende Selbstorganisation.

Nervenbahnen, die nicht regelmäßig benutzt werden, verwildern wie Trampelpfade im Wald. »Use it or loose it« nennt man dieses Prinzip. Neuronale Baupläne werden andauernd aufgebaut, umgebaut und auch wieder abgebaut. Stockt alles und führt nichts zum Ziel, kennt das Gehirn sogar einen Selbstreinigungsmodus. Nicht mehr dienliche Synapsenverschaltungen werden komplett weggeräumt, um Platz zu schaffen. Es kommt zu einer neuronalen Neuvernetzung. Als die Menschen sesshaft wurden, war das zum Beispiel der Fall. Die Fähigkeit, in freier Natur zu überleben und seinem Jagdglück zu frönen, verkümmerte kläglich. Sicher haben damals Berufspessimisten vor dem kollektiven Verhungern gewarnt. Doch siehe da: Die Sesshaftigkeit hat Zivilisation und damit auch Kooperation in großem Stil überhaupt erst ermöglicht. »Die Steinzeit ist nicht zu Ende gegangen, weil den Menschen die Steine ausgingen, sondern weil sie sich neuen Technologien zuwandten«, so die Archäologen.

Auch die Mutter der Digitalisierung, das Internet, hat keinen Boss. Im Internet vernetzen sich die Menschen zu Schwärmen, die mal in die eine und mal in die andere Richtung ziehen, immer auf der Suche nach Neuem, Anderem, Besserem. Dabei geht es nicht nur um eine Vernetzung von Daten, sondern auch um die Vernetzung von Wissen. Wie das funktioniert? Im Web ist dies ein sich selbst steuernder permanenter Prozess, der über vielerlei Knotenpunkte, also Plattformen, Portale und soziale Netzwerke, läuft.

Wenn die Komplexität zunehmend steigt, sind sich selbst organisierende Strukturen tauglicher als starre Systeme. In Netzwerken gibt es kein Oben und Unten. Weil Netzwerke sich dezentral organisieren, sind sie schnell, anpassungsfähig, robust und flexibel. Sie sind ein Brutkasten für die Kreativität genialer Köpfe, die ideenreich Neues hervorbringen können und wollen. Doch Kreativität ist ein sensibles Gewächs, das die richtigen Umstände braucht. Autonomie und ein teilendes Miteinander gehören dazu. Innovative Energie und damit auch Disruptionen brauchen also eine vernetzungsfreundliche Organisation. Und sie brauchen angstfreie Räume. Deshalb wird in florierenden Jungunternehmen auch so viel Wert auf ein Wohlfühlklima gelegt. Reale Begegnungen, ein angenehmes Umfeld, intensiver Austausch und gute Stimmung gehören dazu. Nur wem es gut geht, der macht gute Arbeit.

Angst tötet Kreativität und innovative Energie.

Überall im Unternehmen müssen »Möglichkeitsräume mit Innovationspflicht« geschaffen werden, in denen eigeninitiatives Handeln den Vorzug vor Direktiven erhält. Um dabei gut voranzukommen, sind umfangreiche Freiheitsgrade, Vertrauen, kurze Entscheidungswege, ein Höchstmaß an Flexibilität und eine kollaborative Vernetzung vonnöten. Analog den Knotenpunkten werden Brückenbauer gebraucht, die als flinke Weichensteller für optimale Verschaltungen sorgen. So kann es gelingen, die kollektive Intelligenz der besten Ratgeber zu mobilisieren, die es da draußen gibt: der eigenen Mitarbeiter und der sozial vernetzten Kunden. Pyramidale Strukturen sind dazu nicht geeignet. Weil diese nur in eine Richtung zeigen, nämlich von oben nach unten, verbauen sie den Blick auf andere, womöglich weitaus bessere Wege zum Ziel.

 

Ein wichtiger Aspekt an dieser Stelle: Selbstorganisation ist eine Wahl. Das hat mit dem inzwischen vielfach üblichen »Empowern« der Mitarbeiter, also der »gnädigen« Abgabe von Macht, nichts zu tun. Ermächtigung wird von oben gewährt, insofern ist sie nur eine abgemilderte Spielart des alten Systems. »Enablen« hingegen, also das Möglichmachen, geschieht auf Augenhöhe mit dem Ziel einer zunehmenden Autonomie.

Selbstorganisation bedeutet natürlich nicht, dass alles sich komplett selbst überlassen bleibt und nach dem Prinzip »irgendwie« funktioniert. Ein grundlegender Rahmen ist unumgänglich, damit nicht alles im Chaos versinkt. Unbestreitbar braucht es in manchen Fällen auch strikte Ablaufpläne, wie etwa im Flugverkehr und bei der Feuerwehr. Doch grundsätzlich dürfen Ordnungssysteme nie so einengend sein, dass dadurch Anpassung verlangsamt und Fortentwicklung ausgebremst wird.

Auch die Wikipedia, eines der eindrücklichsten Beispiele für Selbstorganisation, hat ein klares Regelset, das Wildwuchs verhindert und die Webgemeinde vor Fake News bewahrt. Was wenig bekannt ist: Nupedia, die Vorläuferin der Wikipedia, ist mit Pauken und Trompeten gescheitert. Und warum? Zunächst durften nur ausgewiesene Experten Enzyklopädie-Einträge schreiben. Hierzu wurde ein siebenstufiger Prozess mit Zuweisung, Doppelgutachten, Zwischen- und Endkontrolle definiert. Nach 18 Monaten und 250 000 ausgegebenen US-Dollar hatte die Nupedia 12 fertige Artikel und 150 im Entwurfsstadium.15 Anfang 2001 stellten Jimmy Wales und Larry Sanger dann auf eine offene Verfahrensweise um, sodass jeder seitdem unter Beachtung einiger weniger Vorgaben Einträge verfassen und redigieren kann. So begann der überwältigende Siegeslauf eines Disruptors. Ende 2017 stand das universell zugängliche Onlinelexikon mit 47 Millionen Artikeln in 295 Sprachversionen unter den meistaufgerufenen Webseiten der Welt nach Google, YouTube, Facebook und Baidu auf Platz fünf.16