Baphomet

Tekst
1
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

DIE SIEBEN SIEGEL DES BAPHOMET
Der gehörnte Gott

Mir ist der Doppelköpfige nie erschienen, so sehr ich ihn auch beschwor. Ich habe den Karfunkel nie erblickt. Mag es also so sein: wem der Teufel nicht mit Gewalt den Hals in den Rücken dreht, der wird auf seinem unaufhaltsamen Weg ins Land der Gestorbenen niemals den Aufgang des Lichtes erblicken. Wer aufwärts klimmen will, muss abwärts steigen, dann erst kann das Untere zum Obern werden.

Gustav Meyrinck

Der Baphomet ist die eselsköpfige Kultfigur der Tempelritter, der Bock des Sabbats im mittelalterlichen Hexenglauben, dessen Ursprung unbekannt ist.1 Auf alten Darstellungen wird er meist auf einem Thron erhöht oder auf einem dreibeinigen Schemel inmitten ekstatischer Frauen gezeigt. Theodor Reuß, um 1900 ein innovativer Logengründer, Begründer und Großmeister des O.T.O. (Ordo Templi Orientis), der auch Rudolf Steiner in die Freimaurerei einweihte, mystifizierte den Baphomet als androgynes Wesen aus dem Stoff aller Elemente und gleichzeitig deren Quintessenz. Auch Helena P. Blavatsky sah in Baphomet eine übersinnliche, spirituelle Essenz, ein psychisches Kraftfeld und ein kabbalistisches Werkzeug von großer Macht im Sinne ihrer eigenen spirituellen Magie. In vielen magischen Zirkeln und Gruppen des Hexenkultes wird er heute als Ursymbol ekstatischer Obsessionen und instinktiver Männlichkeit verehrt. In den kirchlichen Schmähschriften über den mittelalterlichen Okkultismus findet man Baphomet zusammen mit den üblichen Entstellungen alter heidnischer Symbolik vor. Dort wird behauptet, Okkultismus sei der Bazillus des Teufels, der die Menschen mit seinen Visionen von Geheimnis und Macht infiziere und sie dadurch in den Bann des Bösen ziehe. Unter dem Schleier der Verschwiegenheit und der Dunkelheit geschähen allerlei geheime Riten, Schwarze Messen, Teufelsanbetungen bis hin zu Menschenopfern. Ebenso lächerlich und übertrieben wie die Haltung mittelalterlicher und moderner Hexenjäger ist aber auch das Verhalten der Satanspriester und vieler Anhänger des modernen Hexenkultes selbst. Sie erheben Baphomet zum Urgott schlechthin. Doch dies ist barer Unsinn, denn so wenig er der Feind Gottes ist, so wenig ist er Gott selbst. Rein historisch gesehen, erscheint er seit dem Mittelalter als Konglomerat der verschiedensten gehörnten Gottheiten, wie sie in vielen heidnischen Mythen und Kulturen in aller Welt und zu allen Zeiten auftraten.

Allein die alten Ägypter kannten fünf verschiedene gehörnte Gottheiten: die widderköpfigen Harsaphes und Chnum, die kuhköpfige Hathor, Gattin des Horus, Anukis mit Gazellenhörnern und Amun oder Ammon, den König der Götter und Stammhalter der Pharaonen, mit Widderhörnern. Auch die Kelten hatten ihren gehörnten Gott Cernunnos, die Isländer ihren Heimdall, der ein mächtiges Horn unter der Weltesche verborgen hielt. Auch der mittelalterliche Faust begegnete einem fliegenden Hirsch mit grossen Hörnern und Zincken, der wollte Doct. Faustum in die Klufft hinab stürtzen, darob er sehr erschracke.2 Auch unter den Griechen waren die verschiedenen Erscheinungsformen des Gehörnten sehr populär: Die Satyrn waren bocksgestaltige Fruchtbarkeitsdämonen und derb-lüsterne Begleiter des orgiastischen Dionysos; zechend streiften sie in Wald und Feld umher und spielten im Rausch den Menschen allerlei Streiche. Und da war Amalthea, im griechischen Mythos eine Ziege, die Zeus in einer Höhle säugte. Sie wurde auch als die Mutter des Pan aufgefasst, den sie zusammen mit Zeus aufzog. Pan selbst, der ziemlich lüsterne und begehrliche Gott mit Ziegenhörnern und –füßen wird auch mit Banebdjet, dem ägyptischen Ziegenbock aus Mendes, in Verbindung gebracht.

Seit das Christentum im frühen Mittelalter die geistige Vorherrschaft in Europa errungen hatte, erhielt die gehörnte Naturgottheit, die in so vielen unterschiedlichen Gestalten und unter mannigfachen Namen in der Mythologie der Völker ihren festen Platz hatte, allmählich einen völlig anderen Charakter. Sie wurde im wahrsten Sinne des Wortes „verteufelt“, denn den Teufel, der ursprünglich als Schlange vorgestellt worden war, versah man im Mittelalter mit Hörnern und Ziegenfüßen. Damit verschwand die spielerisch-unbekümmerte, exotisch und archaisch zugleich anmutende gehörnte Naturgottheit, die mit ihrer unermesslichen Potenz die ganze Erde bevölkerte, für Jahrhunderte völlig in der Versenkung. Ihre hochmittelalterliche Renaissance im Glauben der Templer blieb ein Zwischenspiel, das in den Folterkellern der Inquisition endete. Wie ein dunkler Schatten aus tiefschwarzer Vergangenheit folgt der Gehörnte seither treu seinem christlichen Gebieter: ist jener doch nichts anderes als die andere Seite des Lichtes, die dieser vor sich selbst im Schatten versteckt halten muss – nicht ohne sie jedoch in der Wiederkehr des Verdrängten um so machtvoller auszuleben. Baphomet, der Gehörnte, ist der janusköpfige Gott, der seine Sicht nach innen mit dem Blick nach außen im Doppelblick vereint: Ich bin der Teufel, der die Polaritäten überwunden hat, indem er Gott ins Auge blickte und darin die Wahrheit fand. Ich bin aus einer Welt, die vor mehr als tausend Jahren versunken ist, und ich habe diese Schrift für den geschrieben, der als erster diese Sätze liest. Denn ich bin der letzte einer sich selbst zerstörenden Kultur, der für den ersten einer anderen Kultur, die im Begriff ist, zu entstehen, eine Botschaft hinterlassen hat!3

Der magische Gott

Baphomet ist ein psychisches Kraftfeld, eine tiefe, geheimnisvolle Energie, die das Dunkle und Unergründliche an sich bindet. Diese energetische Schwingung in den Abgründen des Unbewussten wirkt gleichsam wie seelischer Klebstoff, der uns mit dem Faszinosum des Unerkannten verbindet, das wir, an unserem Bewusstsein vorbei, hinaus in die Welt projizieren und dessen Spiegelungen wir dann im Strudel der äußeren Geschehnisse erliegen. Psychologisch betrachtet ist dies ein irrationaler Zustand, das Gefühl einer sehnsuchtsvollen Hingabe an das Unentdeckte, Unerkannte, an das Unerhörte in uns selbst. Diese rätselhafte, nicht einzuordnende Erfahrungsebene ist aber nicht gleichbedeutend mit dem Bösen! Nicht zufällig ist zwischen den Hörnern des Baphomet oder denen seiner vielfältigen mythologischen Derivate oft eine Fackel entzündet: unzweifelhaft als Zeichen der Spiritualität, die sich, dem menschlichen Naturell entsprechend, nun einmal am leichtesten als Licht visualisieren lässt. Auf einer vergeistigten Ebene ist Baphomet mit dem Hermes oder Hermes Psychopompos der griechischen Mythologie gleichzusetzen, dem Begleiter der Seelen aus dem Diesseits ins Jenseits und Anwalt der Verdammten, der sich mit Klugheit und Geschick im Reich der Schatten bewegt. Er ist auch der in der Materie verborgene oder gefangene, Welten erschaffende Geist. Im alchimistischen Rosarium oder Rosarium Philosophorum sagt Hermes von sich selbst: Ich bringe das Licht hervor, aber die Finsternis gehört zu meiner Natur.4 Der gehörnte Pan wiederum ist ein Sohn des Hermes, und sein Gesichtsausdruck ist verschmitzt, weil er weiß, dass sich durch den Teufel der Schatten des Lichtes ausdrückt. In der Vorstellung der Menschen vom Teufel finden wir alles wieder, was die Welt nicht gerne bei sich selbst sieht.

In den alten Mysterienkulten nahm der Schattenbereich die Form verschiedenster Gottheiten an: Er erschien als Pan Pangenitor Panphage, der Alles-Erzeuger und Alles-Vertilger, als tierköpfiger Gott des Sexus und des Todes, Archon, als Reptiliengott Jehova, als der kanaanitische Baal-Zebub, der „Herr der Fliegen“, als Thanateros und als Bock des Sabbats, auch als der ägyptische Gott Seth, gleichbedeutend mit Shaitan oder Satan. Ebenso hierher gehört Abraxas oder Xnoubis (Chnubis), der vielgestaltige Gott, der sowohl gut als auch böse ist, weil er einer antiken, gnostisch-manichäischen Vorstellung entspricht, die den dunklen und den lichten Aspekt in einem einzigen Gottesbild vereint. Vor allem die Manichäer glaubten, die Welt sei aus einer Vermischung Gottes mit dem Teufel entstanden (Gott gab den Menschen Seelen, der Teufel gab ihnen den Körper). Der moderne Prophet des Schattengottes, Aleister Crowley, schreibt über ihn: Er erfreut sich am Derben und Unfruchtbaren nicht weniger als am Lieblichen und Fruchtbaren. Alle Dinge erhöhen ihn in gleicher Weise. Er repräsentiert das Entdecken der Ekstase in jeder Erscheinung, möge ihre Natur auch noch so anstößig oder ekelhaft sein; er transzendiert alle Begrenzungen; er ist Pan; er ist Alles.5

Der sich selbst erkennende Gott

In dieser Schrift ist Baphomet das Symbol des Schattens, des Verdrängten oder die bildhafte Manifestierung des Geistes, der sich selbst ins Auge schaut, des Blickes, der sich im eigenen Auge erkennt, oder des Schattens, der sich im Licht versteckt. Dabei repräsentiert er eine geistige Stufe, auf der das Bewusstsein die Polaritäten des Denkens durchbricht und über die Grenzen der menschlichen Vorstellung hinaus vorstößt.

Also sprach Baphomet, als er aus dem Nichts aufstieg und in der Gestalt der kosmischen Mutter, des Urchaos, den Träumer in die Tiefe lockte:

In mir ist die Vitalität des Wissens, die Muster, anhand derer du gelernt hast, die Welt zu erschaffen, sowie die Muster der Veränderung, die das verändern, was du aus diesen Mustern geschaffen hast – was ficht dich also an, plötzlich verstehen zu wollen, welche Mysterien die Schöpfer durch deinen Geist formen? Siehe, ich bin Astarte-Astaroth, die Göttin der Liebe und die Schlange, Shiva-Kali, der schöpferische, erhaltende und zerstörende Aspekt des Demiurgen, Anima mundi, die Weltseele oder auch schlicht die Große Mutter. Einen Augenblick lang sind unsere Gedanken völlig eins. Wir umarmen uns, halten einander fest, und dieser erste Kuss steht bloß am Anfang eines Hungers, der nur geboren wurde, um desto stärker tot zu sein. Indem du dich aber vom Tode erhebst, lebst du den Tod – der mich tötet! Vielleicht erscheine ich dir unpersönlich; doch da es meine Energien sind, mit denen du die Muster deiner Vorstellung tränkst, bin ich da nicht dein Lebensborn? Wenn du mich Vater nennst, ist es gut, und wenn du mich Mutter nennst, auch. Nur darfst du mich nicht aus dir selbst entfernen, denn ich bin in dir, in jeder deiner Zellen, jenseits der Schwelle, die du kennst, dir näher als dein Atem. Dabei fällt die dunkle Hälfte von dir ab und dir ist, als kehrte der entfesselte Geist ins Licht zurück, denn seine Auferstehung fordert eine triumphale Rückkehr in die Walhallen der Sonnen geradezu heraus. Das zeigt: Die Menschen träumen ihren Wahn, denn sie sind die Schöpfer wie die Akteure in einem Stück, das auf der Bühne in ihrem eigenen Hirn stattfindet, und dieser Traum hat keinen Schluss. Es gibt aber nicht nur kein Ende für ihr Stück, sondern es gibt auch keine Chance, die Hintergründe ihrer eigenen Inszenierung zu durchschauen und aus ihren an die Nachkommen vererbten Anweisungen wieder herauszufinden. Das ist die letzte und tiefste Erkenntnis am Ende aller Lehren: Was die Menschen ständig vor sich auftürmen und was sie in Ermangelung von Klarheit „Realität“ nennen, ist alles nur gequirlte Luft, um sich vom Wesentlichen abzulenken. In dieser Einsicht liegt der von dir gesuchte Schluss: das erkannte Erkennen, das dir die Siegel der menschlichen Vorstellung enthüllt.

 

Baphomet: Das Licht der Hölle

Das geschlossene Buch

Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war,

ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar,

das stolze Licht, das nun der Mutter Nacht

den alten Rang, den Raum ihr streitig macht,

und doch gelingt‘s ihm nicht, da es, so viel es strebt,

verhaftet an den Körpern klebt.

Mephisto in Faust I – Erster Teil, Studierzimmer

Dieses Buch ist kein Tarot-Buch im üblichen Sinn. Es behandelt die Tarot-Karten nicht aus der traditionellen esoterischen Sicht, die den Schatten des Lebens und der Seele relativiert, indem dieser auf seinen bloßen Symbolgehalt reduziert wird. Es räumt auch mit dem Aberglauben auf, dass allein schon positive Gedanken oder gut gemeinte Heilungsrituale die Seele des Menschen und das Leben auf der Erde retten können, denn nur bereits die bloße Absicht, die Erde – oder wenigstens die Seele – retten zu wollen, zeugt von ungeheurer schattenhafter Arroganz, solange die Ursache aller polarisierenden und zerstörerischen Handlungen in uns selbst sitzt. Als „Schattentarot“ schlechthin präsentieren Karten und Buch das Panorama einer seelischen und geistigen Unterwelt, die den wahren Schatten im Verdrängen des Schattens – nämlich im „Streben nach Licht“ – erkennbar werden lässt.

Alle Kultivierung der Selbsterfahrung, auf die heute so viel Wert gelegt wird, ist im Grunde überhaupt nicht geeignet, unsere Seelen zu retten. Dadurch können wir allenfalls erkennen, warum wir in die Situation gekommen sind, in der wir uns befinden. Denn der Schatten ist niemals da, wo man ihn erkennt (dort ist ja Licht!), sondern er ist da, wo man ihn verdrängt, ihn in Licht verwandelt und wo man in seinem Zeichen Gutes tut. Deshalb ist dieses Buch nicht für Menschen geschrieben, die nach Wahrheit suchen, ohne sich selbst in Frage zu stellen, oder die sich hinter der Maske des Positiven verbergen. Es ist auch nicht für jene da, die sich wie Süchtige auf die Suche nach Licht begeben, indem sie den bei sich selbst längst überwunden geglaubten Schatten ausschließlich beim anderen suchen – und finden. Die Suche nach dem Licht ist in der Tat wie eine Sucht: Die Droge, die einem dabei im Nacken sitzt, ist der Schatten selbst! Demzufolge richtet sich dieses Buch an Menschen, die zuerst herausfinden wollen, warum man überhaupt die Wahrheit suchen soll, bevor sie die Wahrheit selbst zu finden versuchen.

Was ist das überhaupt: die Wahrheit? Nehmen wir einmal an, die Wahrheit sei das anerzogene Ziel im Menschen, das diesem von seinem sozialen Umfeld aufoktroyiert worden ist. Was macht er nun mit dieser Wahrheit? Er wird sie im außen zu verwirklichen trachten, damit er eine Grundlage hat, auf der er seine Ziele rechtfertigen kann. Im Allgemeinen wird er seiner eigenen Projektion in der Außenwelt so begegnen wollen, dass er daraus seinen Lebenssinn schöpfen kann. Um aber seiner Projektion – einem sehr menschlichen Gebilde – den Rang höherer Erkenntnis einräumen zu können, braucht er schlicht und ergreifend einen guten Aufhänger oder – etwas schmeichelhafter ausgedrückt – ein passendes Modell. Dieses Modell macht er dann zu seiner eigenen Wahrheit. Daher bindet sich der Gläubige an Gott, der Suchende an seinen Meister oder wenigstens an das Credo einer erkannten Wahrheit, der Mathematiker an seine Axiome, der Astrologe an die Schicksalsmacht der Sterne, der Tarot-Experte an die göttliche Vorsehung in seinen Karten, der Atheist an seinen gesunden Zweifel, der Wissende an seine hervorragenden Informationen und der Weise an sein eigenes, untrügliches Erkennen.

Dagegen wäre im Grunde überhaupt nichts einzuwenden, wenn es nur im Bewusstsein der eigenen Projektionen geschähe. Doch sobald sich der Mensch an seine selbst geschaffenen Bilder klammert, anstatt sie zum Ausgangspunkt eines Weges zu machen, der ihn am Ende zu seinen eigenen Ursprüngen zurückführt, beißt sich die Schlange selber in den Schwanz. Deshalb nämlich, weil er nicht merkt, dass alle Lehren doch nur zu einer Selbsterkenntnis führen können: dass niemand einen Schlüssel zum Wissen oder zur höheren Erkenntnis über die kollektiven Prägungen hinaus hat und jeder die Verantwortung für seine Fragen ganz alleine übernehmen muss. Was also ist die Wahrheit über die menschliche Erkenntnis? Die Notwendigkeit, unsere Ziele in unserem eigenen Suchen zu definieren, und nicht die Wahrheit dadurch zu erfahren, indem wir dem Sinn, der Erleuchtung oder wie auch immer das Ziel definiert sein mag, wirklich dort draußen begegnen.

Es wird die Aufgabe der Zukunft sein, dass wir für die Freiheit, die wir der Natur mit unserem menschlichen Verhalten abgerungen haben, endlich die Verantwortung übernehmen. Versuchen wir die Früchte unserer Taten, wenn wir sie schon nicht lieben können, wenigstens zu akzeptieren, bevor sie uns eines Tages vergiften. Auch den natürlichen Tod wollten wir nicht haben. Wir haben ihn davongejagt aus den Katakomben unserer Vorstellung. Wir haben die Zyklen der Natur aus unserer Nähe verbannt wie einen räudigen Hund, weil wir beständig versuchen, unserer eigenen Wirklichkeit zu entgehen. Mitten ins Herz der Wirklichkeit haben wir ein System gepflanzt, das uns von eben dieser Wirklichkeit jetzt trennt: ein System, das Krankheit mit Versicherungsprämien verdrängt, Schicksale als sozialen Marktwert verplant und den harmonischen Gang der Natur absichtsvoll verhindert. Damit haben wir die Katastrophe selbst vorprogrammiert.

Lernen wir ihr zu begegnen, und lernen wir es auch, zu entdecken, dass niemand wirklich weiß. Weder wissen wir, was das Leben ist, noch was wir selbst sind. Diese Erkenntnis stellt kein Scheitern dar, sondern vielmehr eine geistige Erfüllung. Deshalb brauchen wir keinen Gott, der uns belohnt und bestraft. Wir brauchen keine Gralshüter und auch kein Dogma. Nur jenes lebendige Selbst, das uns entgegenblickt, wenn wir in den Spiegel schauen und welches „Gott“ fühlt. Und gleichzeitig jene Auflösung und Hingabe an das ganze All, wenn wir „Ich“ spüren, jenes Quäntchen Etwas, das sich jedem Zugriff entzieht, uns aber aus den Augen eines jeden Menschen ansieht. Das tragen wir nämlich in uns selbst: die Freiheit der Verantwortung zu uns selbst. Nur die Freiheit – nicht den Weg! Diesen müssen wir uns erst erschließen.

Das erste Siegel

Das wahre Böse sind die Verdrängungsmechanismen einer Kirche und Gesellschaft, die den eigenen Schatten bei sich selbst nicht sehen. Die mit der Waffe in der Hand den Frieden sichern und – welcher Höhepunkt des verdeckten Durchlebens ihres eigenen Chaos! – sogar den Krieg zur gerechten Sache erklären.

Akron

Die Religion ist gleichsam ein Fenster, durch das unser Bewusstsein in die Welt hinausblickt. Die Art unserer Religiosität sagt immer etwas darüber aus, wie wir die Welt in unserer Vorstellung selbst erschaffen oder – präziser ausgedrückt – wie wir sie aus dem aufgespannten Rahmen unserer kollektiven Sehnsüchte zurückgespiegelt bekommen. Religion ist also nicht vom Himmel gefallen. Auch sie wird von Menschen gemacht und reagiert auf existenzielle Fragen, die auf der Grundlage beruhen, dass die Seele in sich selbst keinen Frieden und in den Zielen der Welt keine Sinnerfüllung finden kann. Andererseits kann es natürlich auch kaum im Interesse der Religion selbst liegen, diese Fragen wirklich zu beantworten und die Seele zu erlösen. Schließlich würde ein erlöster Mensch kaum „Sinnfindungs-Modelle“ finanzieren, die ihn an sich binden. Also müssen die Religionsvertreter unter allen Umständen zu verhindern versuchen, dass die Seele ihre innere Begrenzung überwindet. Ja, sie würden lieber selbst den Teufel beschwören, als zu erlauben, dass der Mensch außerhalb ihrer Dogmen im Leben Sinnerfüllung erfährt. Unter diesen Vorzeichen muss man alle Äußerungen und Beiträge der Religion zur Erlösung des Menschen betrachten.

Jahrhundertelang wurde dem Menschen eingetrichtert, dass Gott und Teufel um die Seele eines Menschen ringen und der Sinn des Lebens darin bestehen würde, dem Bösen zu trotzen. Da das Böse aber damit noch nicht überwunden war, wurde es in der Maske des Guten institutionalisiert. Somit konnte man im Namen Gottes ungehindert alles zerstören, dem man auch nur im Entferntesten das Kleid des Bösen anlegen konnte. Die Zerstörung des „Bösen“ mutierte zum „Guten“, zur Sinn spendenden Erfüllung der verdrängten Instinkte des Menschen, der keinen Sinn mehr erfuhr und der mit Lust zerstörte, was sich nicht dem Joch der „Erlösung“ unterwarf. Wie selbstverständlich aggressive Gewalt gegen Andersdenkende oder „Ungläubige“ als Mittel zum Zweck verherrlicht wurde, zeigt folgende Bibelstelle: Dann sah ich den Himmel offen, und siehe, da war ein weißes Pferd, und der, der auf ihm saß, heißt „Der Treue und Wahrhaftige“; gerecht richtet er und führt er Krieg. Seine Augen waren wie Feuerflammen, und auf dem Haupt trug er viele Diademe; und auf ihm stand ein Name, den er allein kennt. Bekleidet war er mit einem blutgetränkten Gewand; und sein Name heißt „Das Wort Gottes“. Die Heere des Himmels folgten ihm auf weißen Pferden; sie waren in reines, weißes Leinen gekleidet. Aus seinem Mund kam ein scharfes Schwert; mit ihm wird er die Völker schlagen. Und er herrscht über sie mit eisernem Zepter, und er tritt die Kelter des Weines, des rächenden Zornes Gottes, des Herrschers über die ganze Schöpfung. Auf seinem Gewand und auf seiner Hüfte trägt er den Namen: „König der Könige und Herr der Herren“. (Offenbarung 19, 11-16)

So wenig es im Interesse der Religion liegen konnte, den Menschen zu befreien, um so mehr war es ihr Bestreben, die irrationalen Sehnsüchte aufzufangen und sie in gesellschaftliche Modelle einzubinden („Bete und arbeite!“). Denn hätte der Mensch in dem, was er für Gott hält, nicht Gott, sondern nur seine eigene Sehnsucht erkannt, die sich ihm als Gott darstellt und die er nach seinem eigenen Bild wahrnimmt, er hätte sich für die gesellschaftlichen Ziele der Herrschenden, die ihre Herrschaft immer in Verbindung mit dem kollektiv autorisierten Gott zu bringen verstanden, kaum benutzen lassen. Umgekehrt hätte er die Sinnfindungsansprüche seiner naiven Sehnsucht nicht so unbedarft in Verbindung mit seinen gesellschaftlichen Zielen befriedigen können!