LIEBE FÜR ZWEI

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Z serii: Eltville-Thriller #1
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LIEBE FÜR ZWEI
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Ute Dombrowski

LIEBE FÜR ZWEI

Fall 1

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

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Impressum neobooks

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LIEBE FÜR ZWEI

Ute Dombrowski

1. Auflage 2016

Copyright © 2016 Ute Dombrowski

Umschlag: Ute Dombrowski

Lektorat/Korrektorat: Julia Dillenberger-Ochs

Satz: Ute Dombrowski

Verlag: Ute Dombrowski Niedertiefenbach

Druck: epubli

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors und Selbstverlegers unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

So wuchsen wir zusammen, einer Doppelkirsche gleich. Zum Schein getrennt, doch in der Trennung eins. Zwei holde Beeren, einem Stiel entwachsen, dem Scheine nach zwei Körper, doch ein Herz.“

William Shakespeare

Ein Sommernachtstraum“

3. Akt, 2. Szene

Marylin und Gina Schnittmüller sahen schon als Kinder absolut gleich aus, selbst ihre Eltern konnten sie vom bloßen Ansehen nicht unterscheiden. Dennoch gab es eindeutige Wesensmerkmale, welche die Zwillingsschwestern zu zwei völlig unterschiedlichen Menschen machten: Marylin redete gern, war ausgelassen und neugierig, ständig löcherte sie ihre Mitmenschen mit Fragen über das Wie und Warum. Sie näherte sich neuen Menschen und Dingen in ihrem Umfeld offen und spontan. Außerdem war sie ein ausgesprochen fröhliches Kind.

Gina war das ganze Gegenteil ihrer Schwester. Sie war verschlossen, einsilbig und mürrisch. Ihren Mitmenschen und allem Neuen begegnete sie mit Argwohn. Dafür waren ihr aber Sauberkeit und Ordnung wichtig, sie achtete auch beim Spielen akribisch darauf, nicht schmutzig zu werden.

Wenn die beiden Schwestern im Garten waren, dann konnte man den Unterschied deutlich erkennen. Die zwanzig Minuten jüngere Marylin schaukelte, hüpfte, buddelte und rannte singend und Selbstgespräche führend umher. Gina saß auf der Wiese, pflückte Gänseblümchen, beobachtete ihre Schwester und schwieg.

Nicht, dass es für die beiden ein Problem gewesen wäre, dass ihre Interessen so arg auseinandergingen. Sie ergänzten sich prima: Da, wo Ruhe und Ausgeglichenheit gefragt war, trat Gina in den Vordergrund, und wo Engagement und Aktivität vonnöten waren, stand Marylin im Mittelpunkt.

Marylin und Gina waren blond, hatten ihre welligen Haare meist zu einem dicken Zopf geflochten. Marylin hasste ihre langen Haare, denn die behinderten sie oft bei ihren ausgedehnten Streifzügen durch die Natur. Am liebsten zog sie ihre alten, abgewetzten Spielhosen an. Gina hingegen stand jeden Morgen vor ihrem Schrank auf der Suche nach dem richtigen Kleid. Ein ordentliches Erscheinungsbild machte für sie den Tag erst komplett.

Die alte Spielhose von Marylin war ihr schon immer ein Dorn im Auge gewesen. So stand sie eines Nachts auf, nahm die Hose, schlich aus dem Haus und vergrub sie im hinteren Teil des Gartens, natürlich nicht, ohne sich vorher Handschuhe anzuziehen. Am nächsten Morgen betrachtete sie still die Tränen ihrer Schwester, ließ sich aber nichts anmerken und half fleißig bei der Suche nach Marylins Lieblingsstück.

Wenn die Zwillinge mit ihren Eltern einkaufen gingen oder die Verwandtschaft besuchten, zog ihre Mutter Roswitha sie stets gleich an. Während sich Gina alleine ankleidete und hübsch machte, musste ihre Mutter Marylin mit viel Überredungskraft in die hübschen Kleidchen zwingen. Das passende Handtäschchen warf Marylin bei ihrer Heimkehr oft wütend in eine Ecke.

„Oh, wie süß die beiden Mädchen sind“, riefen die Leute, wenn sie irgendwo auftauchten.

Gina lächelte dann huldvoll und Marylin sprang wild umher, denn sie hasste es, süß zu sein. Für Gina war das Leben mit ihrer Schwester ein Alptraum bis zu dem Tag, als sie endlich ein eigenes Zimmer beziehen konnte. Gina betete jeden Tag, an dem sie mit ihrer Schwester ein Zimmer teilen musste, voller Hingabe dafür. Marylin verabscheute Ordnung und Aufräumen und so sah ihre Seite des ersten gemeinsamen Zimmers immer aus wie ein Schlachtfeld: Bekleidung und Spielzeug waren in großen und kleinen Haufen bunt geschichtet, dazwischen lagen Kinderbücher, Malstifte und Kuscheltiere. Abends wischte Marylin alles Unnötige vom Bett und kuschelte sich an ihren Plüschbären Ralf. Der war früher einmal rosa gewesen, aber die Zeit und der intensive Gebrauch hatten ihn in ein schmutziges, blasses, grau-rosa Unding verwandelt. Wenn ihre Mutter ihn waschen wollte, schrie Marylin und hatte schlechte Laune, bis Ralf wieder trocken war und in ihrem Bett lag.

 

Für sie brach eine Welt zusammen, als Ralf eines Morgens verschwunden war. Die ganze Familie half beim Suchen, aber der Plüschbär tauchte nicht mehr auf. Gina tröstete ihre Schwester, wie sie es bei ihrer Mutter gesehen hatte, und gab ihr eines von ihren Plüschtieren ab, das neben den anderen sauber und gepflegt auf einem Regal auf der ordentlichen Seite des Zimmers saß.

Marylin weinte tagelang, aß nicht, schlief unruhig und wollte vom neuen Bärchen nichts wissen, doch die Zeit heilte auch diese Wunde.

Gina putze, bevor sie ein eigenes Zimmer hatte, jeden Tag ihre Hälfte des großen Raumes. Am liebsten hätte sie in der Mitte eine Mauer errichtet. Sie nahm alles aus den Fächern heraus und wischte diese feucht aus, dann drapierte sie ihre Spielsachen wieder an der gleichen Stelle wie vorher. Ihre Mutter hatte einmal gewagt, die Bücher in ein anderes Regal einzuordnen. Gina hatte sie angeschrien, sie solle die Finger davon lassen und räumte sie sofort wieder um, weil sie Veränderungen genauso hasste wie Schmutz.

Wenn bei Marylin etwas nicht mehr funktionierte oder verschlissen war, kam es nicht selten vor, dass es einfach verschwand. Keiner in der Familie konnte sich das erklären, nur ihr Vater Robert. Eines Tages wollte er im hinteren Bereich des Gartens ein neues Gemüsebeet anlegen, da stieß er in einer kleinen Grube auf die verschwundenen Dinge.

Er hatte den Verdacht, dass Gina, seine ordnungsliebende und penible Tochter, ihre Finger im Spiel hatte, aber er schwieg, denn er wollte sie nicht in Schwierigkeiten bringen. Er liebte Gina abgöttisch, sie war ein Papa-Kind.

Marylin war weder ein Mama- noch ein Papa-Kind. Sie war unabhängig und eigensinnig. Sie machte immer nur das, wozu sie Lust hatte. Das änderte sich auch nicht, als sie älter wurde. Gina hingegen plante alles immer sehr genau und richtete ihr Handeln stets auf ihren Vorteil aus. Niemals würde sie sich zu etwas Spontanem hinreißen lassen. Selbst die Streiche, die sie ihrer Schwester spielte, plante sie langfristig.

Marylin hatte guten Kontakt mit den Kindern aus der Nachbarschaft, so waren immer einige Jungen oder Mädchen mit im Garten oder Haus unterwegs. Marylin war beliebt wegen ihrer erfinderischen Art zu spielen.

Gina hatte nur eine Freundin. Sie hieß Claire von Doranisky und wohnte am anderen Ende des kleinen Städtchens etwas außerhalb in einem schlossähnlichen Anwesen. Sie war die Tochter eines wohlhabenden Textilfabrikanten und einer emanzipierten Verlegerin.

Heddy von Doranisky legte Wert auf eine bodenständige Erziehung, Vater Guntram überließ alle familiären Entscheidungen seiner Frau, also auch die Erziehung. Er hätte sowieso keine Chance gehabt, gegen seine wortgewandte und eigensinnige Frau die richtigen Argumente zu finden, und hatte sich im Stillen damit abgefunden, dass daheim Heddy die Hosen anhatte, aber in der Textilfabrik ließ er jeden spüren, dass er der Chef war.

Sehr gerne hätte Guntram gesehen, dass Claire in seine Fußstapfen treten würde, aber sie wollte seit frühester Kindheit Schauspielerin werden. Ihre Mutter war nicht sehr angetan von dieser hochtrabenden Idee, doch sie unterstützte Claire, nachdem sie in der Schule und im Kindertheater der Stadt großen Erfolg hatte.

Claire liebte Gina wegen ihrer Zuverlässigkeit, ihrer Verschwiegenheit und dafür, dass Gina sie bewunderte und anhimmelte. Gina war äußerst angetan vom ordentlichen Leben ihrer Freundin, ihrem sauberen Zimmer und ihrem wohldurchdachten Lebensplan. Sie hatte Claire kennengelernt, als diese auf der Schultoilette wie verrückt weinte, weil sie mit einem hässlichen Fleck auf dem Lieblingspulli von den anderen geärgert worden war.

Gina spendete Mitleid und ihre kleine Strickjacke zum Überziehen. Von da an waren sie unzertrennlich.

Marylin konnte Claire nicht ausstehen, denn sie wusste nie genau, wann sie eine Person nur spielte oder wann sie eine reale Person war. Claire machte es sich zum Hobby, ihre schauspielerischen Fähigkeiten an Marylin zu testen. Ob sie nun die nette Kameradin oder die streitsüchtige Rebellin spielte, Marylin war über die Jahre vorsichtig geworden, denn oft genug war sie am Ende die Dumme, die von Claire und Gina ausgelacht wurde.

Roswitha Schnittmüller war begeistert von Claire, die in ihren Augen wohlerzogen und klug war. Robert hasste sie, denn er dachte, dass seine kleine Gina nur Mittel zum Zweck war, ein Spielzeug für die verwöhnte Tochter aus reichem Hause.

2

Marylin und Gina genossen eine angenehme Kindheit und als die ersten Jungen ins Spiel kamen, begann eine Zeit der Machtkämpfe. Marylin hatte, als sie dreizehn Jahre alt waren, zuerst einen Freund. Mit ihrer Kontaktfreudigkeit war es ihr nicht schwergefallen, den Nachbarsjungen zu einem Kuss zu überreden. Stundenlang standen sie danach knutschend unter dem Birnbaum vor dem Gartentor.

Weil Gina auch ein Auge auf den blonden, einen Kopf größeren Henri Wörthes geworfen hatte ̶ einfach nur, um ihn zu besitzen ̶ zum Ansprechen aber keinen Mumm besaß, rächte sie sich an ihrer Schwester auf ganz profane Weise. Sie hatte lange geübt, wie Marylin zu sein. Claire war ihr eine gute Lehrerin gewesen. Gina gab sich als Marylin aus und küsste Henris besten Freund. Henri machte daraufhin Schluss. Da er es nicht näher begründete, heulte sich Marylin die Augen aus dem Kopf und ließ sich von Gina trösten.

„Er ist es nicht wert. Wahrscheinlich hat er schon eine Neue“, sagte Gina, die froh war, dass sie Marylin nun wieder für sich hatte, mit weicher Stimme.

„So ein Mistkerl!“

Dann ging sie in der Schule auf die Suche nach einem neuen Freund. Gina tat so, als würde sie sich mit Henri aussprechen wollen und traf sich mit ihm im Kino. Später standen sie knutschend unter dem Birnbaum vor dem Gartentor.

Gina dachte: Er passt sowieso besser zu mir.

So ging das immer. Wenn Gina ihrer Schwester einen Jungen nicht gönnte, ließ sie sich von Claire beraten und versuchte, die Schwester und ihren aktuellen Freund auseinanderzubringen. Claire hatte immer gute Ideen. Oft, sehr oft, fielen die Jungen darauf rein. Gina hörte dann nach kurzer Zeit auf, diese Jungen zu küssen, denn sie liebte sie ja nicht, es machte ihr einfach nur Spaß, sich einzumischen. Wenn sie ihr Ziel erreicht hatte, traf sie sich mit Claire zum Eis essen.

Im Laufe der Zeit hatte Gina ihre eigenen Ideen entwickelt und die Taktik perfektioniert. Da brauchte sie Claire dann nur noch, um ihr hinterher davon zu erzählen. Irgendetwas in ihrem Inneren sagte ihr, dass die Schwester ihr ganz alleine gehörte, sie wollte sie nicht teilen, schon gar nicht mit einem Jungen. Die Liebe zu Marylin war ihr einziges wahres Gefühl.

An ihrem fünfzehnten Geburtstag erlaubte Roswitha den Zwillingen eine große Party. Marylin hatte sich von Gina überreden lassen, sich identisch anzukleiden und die gleiche Frisur zu tragen, selbst die Ohrringe waren gleich. Marylins aktueller Freund stand vor den beiden Mädchen und schaute von einer zur anderen.

„Ich habe keine Ahnung, wer Marylin ist“, sagte er zu Henri, der natürlich auch eingeladen war.

Gina hatte Henri noch ein paar Tage geküsst, aber dann hatte Marylin einen neuen Freund und Gina das Interesse am Nachbarsjungen verloren. David Hoffels war der beliebteste Junge der Schule. Er und Henri waren Freunde und spielten zusammen Fußball. Sie hatten nach dem letzten Spiel die Wahrscheinlichkeit diskutiert, ob man beide Schwestern an einem Tag küssen könnte. Das wollten sie heute ausprobieren und schlossen eine Wette ab: Wer beide Mädchen küsste, der würde den nächsten Elfmeter schießen.

Marylin sagte zu David: „Dann rate mal, wer ich bin. Wenn du richtig liegst, bekommst du einen Kuss.“

„Und wenn nicht?“

„Dann musst du Claire küssen.“

Claire zeigte ihr einen Vogel.

„Pfui, den kannst du behalten. Küss ihn selbst.“

Sie war seit einiger Zeit in einen achtzehnjährigen Nachwuchsschauspieler aus der Theatergruppe verliebt. Da er sie nach der letzten Probe geküsst hatte, dachte sie, sie müsste sich mit den „kleinen Jungs“ aus der Schule nicht mehr abgeben.

David schaute die beiden Mädchen an. Plötzlich ging ihm ein Licht auf. Die, die geredet hatte, musste Marylin sein. Niemals würde Gina von sich aus ein Gespräch beginnen. Er zog Marylin die Treppenstufe herunter und nahm sie in den Arm.

„Du bist Marylin. Ich erkenne doch meine Freundin.“

Henri schaute Gina an. Die nickte nur.

Dann rief er Marylin zu: „Und jetzt küssen. David hat gewonnen. Los!“

Die beiden Teenager knutschten innig. Anschließend ging er zu Gina und küsste sie nun auch ganz frech auf den Mund. Also hatte er die Wette gewonnen. Die Jungen klatschten sich ab.

Henri schaute zu Gina und sah, wie eine steile Falte zwischen ihren Augen erschienen war, sie war zornig. Nun sah auch er den Unterschied zwischen den Schwestern: Marylin war fröhlich und locker, Gina war verkniffen und schrullig. Gina wandte sich schnell ab, am liebsten hätte sie sich den Mund abgewischt.

Die Party war ein großer Erfolg. Am späten Abend wurden die Jugendlichen von ihren Eltern abgeholt. Nur Claire durfte hier übernachten. Sie saßen noch zu dritt in Ginas Zimmer auf dem Fußboden und redeten über die Jungen. Gina hatte einen dicken, weißen Teppich, der blitzblank war.

„Die haben gewettet“, sagte Gina böse zu ihrer Schwester, „ob sie uns beide küssen können. Das ist ja total abartig.“

„Ach was, ich fand es lustig. Sei doch nicht immer so spießig und altmodisch. Außerdem ist David der coolste Junge aus der Schule. Also was soll‘s?“

Claire schüttelte den Kopf und meinte naserümpfend: „So etwas tut man nicht. Ich finde, Gina hat recht.“

„Das findest du ja immer.“

Marylin erhob sich, um in ihr Zimmer zu verschwinden.

Gina betrat Marylins chaotisches Zimmer immer nur widerwillig. So hatten sie es sich angewöhnt, abends in Ginas Zimmer zu sitzen. Sie waren grundverschieden, aber jeden Abend saßen sie zusammen und kicherten über die Erlebnisse des Tages. Nur wenn Claire dabei war, hatte Marylin keine Lust auf ihre Schwester. Gina war dann anders, Marylin mochte diese angepasste Art nicht.

„Gute Nacht, Marylin.“

„Gute Nacht, Schwesterlein.“

Claire und sie nickten sich nur zu.

Eine Woche später hatte Gina David dazu gebracht, mit Marylin Schluss zu machen, um dann sie zu küssen.

3

Als die Realschule beendet war, trennten sich die Wege der Schwestern zum ersten Mal: Gina besuchte das Gymnasium, weil Claire dorthin ging, Marylin begann eine Ausbildung in der Apotheke. Sie wohnten weiter zuhause.

Vor einem Monat hatte Marylin zum ersten Mal mit einem jungen Mann geschlafen. Er ging in eine höhere Klasse auf dieselbe Berufsschule und hieß Lukas Röhmberger. Lukas machte eine Winzerlehre. Er war ein schlanker, stiller Mann mit guten Manieren und einem freundlichen Wesen, seine blauen Augen strahlten, die dunklen Haare waren kurz geschnitten und gepflegt in Unordnung gehalten.

Marylin hatte ihn in der Mensa kennengelernt, als sie gerade mit ihrem Hintermann um die letzte Gabel stritt. Lukas hatte der Küchenhilfe gewinkt und die hatte das Fach mit den Gabeln aufgefüllt. Dann lächelte er Marylin an.

„Warum so kompliziert, schöne Frau?“

Er nahm eine Gabel und legte sie auf ihr Tablett. Marylin sagte zur allgemeinen Verwunderung gar nichts mehr und stellte sich wieder in die Reihe. Als sie dann alleine an einem Tisch am Fenster saß, setzte sich Lukas einfach zu ihr. Sie unterhielten sich angeregt und Marylin verliebte sich Hals über Kopf in den hübschen, jungen Mann. Sie erfuhr, dass er im Rheingau auf einem Weingut groß geworden war und dort einmal die Leitung übernehmen sollte. Darum gab er sich große Mühe bei seiner Ausbildung zum Winzer, die er nach dem Abitur begonnen hatte. Er liebte seine Heimat und das Leben in der Natur, sodass er sich nichts anderes für sein Leben vorstellen konnte.

 

Nach dem dritten Mittagessen hatten sie sich ins Kino verabredet und dort küsste er sie dann innig. Als Gina nicht daheim war, weil sie bei Claire übernachtete, lud sie ihn mit zu sich nach Hause ein.

Roswitha und Robert waren begeistert von Lukas und erlaubten ihm, bei ihnen zu schlafen. Roswitha bereitete das Gästezimmer vor. Dort ging Lukas auch brav schlafen, aber als es still im Haus war, schlich Marylin zu ihm ins Bett.

Er küsste sie und tastete sich langsam voran. Auch für Lukas war es das erste „richtige“ Mal und am Ende hatten beide mehr Mühe als Spaß. Aber die Nähe war angenehm. Beim zweiten Versuch gegen Morgen klappte es schon besser.

„Ich liebe dich für immer“, flüsterte Marylin in sein Ohr.

Er brummte müde und zufrieden: „Ich dich auch.“

Dann schlich Marylin zurück in ihr Bett und schlief.

4

Am nächsten Wochenende besuchte Marylin Lukas das erste Mal im Weingut. Es befand sich in Erbach in der Nähe von Eltville in einer kleinen Seitenstraße.

Das wunderbare Fachwerkhaus passte perfekt in die Reihe alter Häuser, die in dieser Straße im gepflegten Glanz erstrahlten. Der Fußweg vor dem Haus war grob gepflastert. Man sah, dass die Wände frisch geweißt waren, die schiefen, naturbelassenen Holzbalken waren in vielen Jahren dunkel geworden und brachten dazu den passenden Kontrast. Auf der rechten Seite führte eine große Durchfahrt, die sich über ein Viertel der Häuserfront erstreckte, in einen großen Innenhof mit altem Pflaster. Das Tor war geöffnet. Hinter den einstöckigen Gebäuden, dem Wohnhaus gegenüber, erstreckten sich die malerischen Weinberge in sattem Sommergrün.

Bevor sie von der Straße abbogen, ließ Marylin den Blick an der Häuserfront entlang streifen. Die Fenster des Wohnhauses waren groß und sauber. Links gab es die Eingangstür und über der Einfahrt hing ein Messingschild mit der Aufschrift „Weingut Röhmberger“. Lukas lenkte sein kleines Auto durch die Einfahrt in den Hof. Marylin fand sich in einem idyllischen Traum wieder. Sie stiegen aus und blieben in der Mitte stehen. Außer ihrem Auto stand nur noch der Lieferwagen von Lukas‘ Vater auf einem der fünf Parkplätze an der Rückseite des zweistöckigen Haupthauses.

Es war ein von vier Seiten geschlossener Innenhof. Die rechte Begrenzungsmauer war unter wild wucherndem Weinlaub verschwunden. Links gegenüber der Mauer stand über einer großen Holztür „Lager und Weinkeller“. Der gesamte Gebäudeteil an der Rückseite des Grundstücks war in drei Bereiche unterteilt. Von links aus gesehen zeigte ein weiteres Schild die „Weinstube“. Davor standen zwei riesige, weiße Sonnenschirme, die vier kleine, runde Tische mit je vier Stühlen vor der heißen Sommersonne schützten. In der Mitte war die Tür zum „Büro und Verkauf“ offen. Rechts daneben stand eine gemütliche Bank vor einer Ferienwohnung.

Aus der Bürotür kam ihnen freundlich lächelnd eine schlanke Frau mittleren Alters entgegen, die sich als Lukas‘ Mutter vorstellte. Die beiden umarmten sich und Constanze Röhmberger reichte Marylin die Hand.

„Guten Tag, Sie müssen Marylin sein. Es ist schön, Sie einmal persönlich kennenzulernen, Lukas hat schon sehr viel von Ihnen erzählt.“

Marylin war ein wenig verlegen.

„Danke, dass ich hier sein darf. Sagen Sie ruhig Marylin und du.“

Nun umarmte Constanze sie auch.

„Dann sag Constanze zu mir. Kommt mit ins Haus, ich habe Mittagessen gemacht. Es gibt zur Feier des Tages Schmorbraten mit Klößen. Lukas hat noch nie ein Mädchen mit hierherge­bracht. Du bist …“

Lukas sah sie ungehalten an und fiel ihr ins Wort: „Mama, lass das bitte, das ist peinlich.“

Constanze ließ sich nicht beirren und zog Marylin ins Haus. Die hatte eigentlich eine dunkle und altmodische Atmosphäre erwartet, aber im Haus war es hell und freundlich. Links ging es in die große, gemütliche Küche. Die Möbel waren weiß und glänzten. Am Fenster zur Straße gab es einen großen Esstisch mit einer Sitzbank auf der einen Seite und vier weiteren Stühlen. Der Tisch war mit schönem Geschirr gedeckt, auf jedem der vier Teller lag eine Serviette aus Stoff.

Marylin sah sich um und musste bei all der Sauberkeit sofort an ihre Schwester denken, der es hier sicher gefallen würde, aber sie wollte sich nicht vorstellen, wie es wäre, mit Gina herzukommen. Sie hatte Lukas erzählt, dass sie eine Schwester hatte, aber nicht, dass es ihre Zwillingsschwester war. Marylin wollte gar nicht, dass Gina Lukas zu Gesicht bekam.

Durch die Tür trat in diesem Moment ein großer, breiter Mann mit einem sehr ruhigen Gesicht. Nur seine wachen Augen zeugten davon, dass er Marylin wahrnahm, ansonsten zeigte er keine Regung. Er murmelte eine Begrüßung. Seinem Sohn hielt er eine große, wettergegerbte Pranke hin. Lukas ergriff sie und lächelte.

„Guten Tag, Sohn“, sagte Walter mit tiefer Stimme.

Dann sah er wieder Marylin an. Sie erhob sich kurz und reichte Walter Röhmberger ihre kleine Hand, die fast völlig in der großen Vater-Hand verschwand. Endlich zogen sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln nach oben und Marylin atmete auf.

Constanze füllte die Teller und es wurde schweigend gegessen. Der Sauerbraten schmeckte wie früher bei Marylins Oma, die Klöße waren ein Gedicht. Zum Nachtisch gab es Weinberg-Pfirsiche mit Vanillesoße. Marylin fühlte sich in der heimeligen Umgebung bei den freundlichen Menschen und Lukas sehr wohl. Dieses Gefühl wollte sie festhalten.

Nach dem Essen und dem gemeinsamen Abwasch zeigte Lukas ihr den Rest des Hauses. Auf der anderen Seite des Flurs, wo sich Vorder- und Hintertür direkt gegenüberlagen, führte eine Tür in das Wohnzimmer, das genauso modern und hell eingerichtet war wie die Küche. An den Wänden hingen Bilder in leuchtenden Farben. Auf einer flachen Anrichte standen zahlreiche Familienfotos, sie zeigten die Vorfahren und auch die jetzige Familie Röhmberger. Von Lukas fand Marylin süße Kinderbilder.

Lukas war in einer liebvollen Umgebung als einziges Kind aufgewachsen. Constanze hatte durchgesetzt, dass er Lukas getauft wurde. Alle anderen männlichen Vorfahren hießen traditionell immer Walter. Es wurde der zweite Name von Lukas.

„Es gibt genug Walters in der Familie, es wird Zeit für Neues“, hatte Constanze streng gesagt und weil Walter seine lebenslustige, schöne Frau über alles liebte, hatte er nicht widersprochen.

Nun kam Constanze auch ins Wohnzimmer und erklärte die Fotos aus der Ahnengalerie. Man merkte ihr den Stolz an, mit dem sie in dieser Familientradition lebte. Marylin fand, sie sah noch sehr jugendlich aus. Constanze hatte dunkle Locken, die zu einem dicken Knoten zusammengedreht waren. Sie musste sehr lange Haare haben. Ihre blaugrünen Augen leuchteten strahlend, feine Lachfältchen fanden sich in ihren Augenwinkeln, aber sonst war ihre Haut glatt und samtig.

Lukas unterbrach seine Mutter.

„Oben sind Schlafzimmer, Bad und Gästezimmer. Ich zeige Marylin jetzt die Ferienwohnung. Wir werden dort übers Wochenende wohnen, da sind wir ungestört.“

Er ergriff Marylins Hand und zog sie mit sich über den Hof. Die kleine Ferienwohnung hatte zwei einfach, aber liebevoll eingerichtete Zimmer, eine kleine Küche und ein hübsches, kleines Bad mit Dusche.

Nachdem Lukas die Tür von innen verschlossen hatte, sagte er mit einem schelmischen Grinsen: „Jetzt sind wir endlich allein. Komm, ich will dich spüren.“

Damit küsste er Marylin und liebte sie im frisch bezogenen, nach Sommerblumen duftenden Bett. Hinterher lagen sie noch eine Weile dicht neben­einander. Marylin streckte sich.

„Ich möchte nie wieder hier weg. Es gefällt mir ausgesprochen gut und deine Familie mag ich sehr.“

„Ich würde gerne mit dir hierbleiben. Wenn ich meine Lehre beendet habe und du auch fertig bist, dann können wir hier leben. Man kann sogar das Dachgeschoss über uns noch ausbauen.“

Marylin strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und seufzte zufrieden. Sie verlebten ein ruhiges und entspanntes Wochenende.