Traumafolge(störung) DISsoziation

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4 (K)eine Diagnose (nur für Titel-Interessierte)

Diagnosen sind Worte auf Papier.

Diagnosen sind dann gut und richtig und wichtig, wenn sie ihren Job erfüllen. Und den erfüllen sie in dem Kontext, in dem sie eine Begrifflichkeit sind, um Behandlungsindikationen anzuzeigen. Dafür sind sie da. Hier werden sie gebraucht (wenn sich auch außerhalb der Allgemeinmedizin wieder über die Bürokratisierung von menschlichem Leid gestritten werden könnte). Aber davon abgesehen werden sie eben oft ihrem Job entfremdet. Darum schreiben wir auch nicht ständig von uns mit dieser und jener Diagnose, sondern von uns als Mensch mit diesen und jenen Wahrnehmungen, Erfahrungen, Themen, Problematiken und Behinderungen. Diagnosen sollen ein Wegweiser sein, in welche Behandlungsrichtung es gehen sollte. Im psychiatrischen Bereich können sie als Einsicht dienen, um Dingen eine Erklärung zu geben, oder als Indikator für medikamentöse Einstellungen. Eine Diagnose ist für Betroffene wichtig, um Krankheitsbilder kennen und verstehen zu können, auch wenn eine Diagnose uns nicht uns selbst erklärt, aber manche Symptome eben. Ohne einen Begriff, um den es geht, ist Psychoedukation unmöglich, und diese kann von großer Bedeutung sein. Diagnosen geben „all dem“ einen Namen. Symptome können zugeordnet und durch Sprache greifbar werden. Zudem haben sie dann einen Grund und meist auch einen Sinn. Diagnosen können Sicherheit geben, weil alles eben nicht nur schrecklich und unkontrollierbar ist – was es schon noch ist –, aber eben nicht grundlos. Zudem können diese Titel zu Kontakt (direkten, schriftlichen oder über das Lesen von Texten Anderer) verhelfen, zu Menschen, die auch so betitelt wurden, was unglaublich wertvoll sein kann, wenn wir spüren, entgegen so manchen Glaubenssätzen, nicht mit allem ganz allein zu sein. Ich kann davon nur sehr begrenzt bzw. für einzelne Elemente im Bezug auf Bücher berichten, da außerhalb von Kliniken solche Dinge heutzutage primär online stattfinden, wir aber flimmernde Bildschirme nicht lange, bei hohem Schlafmangel gar nicht, ertragen können, ohne einen epileptischen Anfall zu provozieren. (Es besteht eine hohe visuelle Empfindlichkeit, sodass ich bspw. beim Abtippen von Texten, die immer auf Papier entstehen, den Bildschirm oft auch ausschalte oder nicht direkt darauf schaue.) Zudem bin ich irgendwie vor der Digitalisierung von Zwischenmenschlichkeit stehengeblieben, da ich auch heute noch immer eher und lieber einen Brief, als Textnachrichten per SMS verschicke. (Und ja, ich weiß, auch das ist schon wieder altmodisch.) Wir sind also nicht so viel im Austausch, wie es andere vielleicht über Foren oder Blogs sind, was manchmal schmerzt, aber weiß ich auch, dass diese Kontaktform nicht nur Entlastung bringt. So ist auch über einseitige Kommunikation von Menschen zumindest zu lesen, von denen ich das Gefühl habe, in Manchem verstanden zu werden, weil sie Dinge schreiben, die ich auch schon gedacht habe, unglaublich wertvoll, so traurig diese Momente auch sein mögen. Obwohl ich finde, dass Etiketten für Dosen und nicht für Menschen sind, können Diagnosen Halt geben, denn auch wenn wir mehr sind als solch ein Titel, ist es wichtig, damit anerkannt zu werden, weil wir eben auch das sind. Es ist, je nachdem, ein Teil von uns, oder sogar bedeutender eine Beschreibung von dem, wie unsere Informationsverarbeitung und Wahrnehmungsprozesse funktionieren, auch wenn sich das wandelt.

Doch kein Bericht, keine Diagnose und keine Akte kann vorhersagen, welche Erfahrungen, Schwierigkeiten und Talente ein Mensch letzten Endes mitbringt. Manchmal braucht es ein Loslassen von theoretischen Schablonen und festen „Heilungsplänen“, besonders wenn eine Fehldiagnose gestellt wird und trotz Antipsychotika noch Halluzinationen da sind. Eine ausführliche Diagnostik wäre auch eine Idee. Dies ist sicherlich nicht leicht, wenn eine Diagnose-Karriere vorliegt, die primär aussagt, dass sehr viel kaputt ist, und alle eine andere Meinung haben und auch Komorbidität besteht, aber es ist nicht unmöglich, wenn gründlich hinterfragt wird.

Laut der ISSTD, einer internationalen Gesellschaft für Traumaforschung und Dissoziation, verbringen Menschen mit einer Dissoziativen Identitätsstörung fünf bis zwölf Jahre in irgendeiner/verschiedener Behandlung, bis sie eine korrekte Diagnose erhalten. Das liegt auch an der „multiplen Symptomatik“, da Einzelsymptomatiken oder auch ausreichende Diagnosekriterien für eine zusätzliche Diagnose u. a. folgender Krankheitsbilder vorliegen können: Depressionen, Ängste, Somatisierungsstörungen, Essstörungen oder Sucht sind oft ein Teil. Dabei entsprechen ab einer gewissen Komplexität der dissoziativen Struktur aber nur einzelne Anteile zusätzlichen Krankheitsbildern, andere nicht, oder sie weisen eine andere Problematik auf. Da wir oft nur sehr wenig wissen und es auch an Aufklärung im Bereich der komplexen Dissoziativen Störungen mangelt, dauert es mitunter sehr lange, bis erkannt wird, was hier vorliegt. Es handelt sich nun mal um eine individuelle Überlebensstrategie, die u. a. von den Fähigkeiten/Voraussetzungen der Person, der Umweltkonstellation, den traumatischen Ereignissen, ihrer Schwere und Wiederholungen wie auch der Beziehung zu Täter_innen abhängig ist. Das erfordert differenziertes Hinschauen und es muss generell die Möglichkeit von Dissoziation überhaupt in Betracht gezogen werden. Ich kann auch nicht beurteilen, wie wir von außen aussehen/wirken/erscheinen und konnte es schon gar nicht zu Beginn unserer ersten psychiatrischen Kontakte. Sicherlich gibt es Überschneidungen in den Kriterien von traumaassoziierten Störungen, was zu unklaren oder schwer zu treffenden Differentialdiagnosen führen kann. So gibt es beispielsweise Menschen mit einer Borderline Diagnose, die auch eine dissoziative Symptomatik zeigen (bspw. Emotionen von der Bedeutung spalten), deren Anteile aber keinen – oder zumindest einen weniger festen – eigenen Selbstsinn haben. Auch liegen hier meist keine amnestischen Zeitlücken oder völlige Entfremdung vor. Jedoch können deutliche und scheinbar unkontrollierbare Wechsel zwischen Anteilen mit internalisiertem Hass oder auch Verteidigungswut und anderen mit verzweifelter Sehnsucht nach Zuneigung auftreten.

Dissoziative Störungen/Symptomatiken sind in den Diagnose-Werken kategorisiert und aufgeteilt, wobei in der DSM (Diagnostic ans Statistical Manual of Mental Disorders), für den englischsprachigen Raum, anders differenziert wird als in der ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems). Jeder dissoziativen Störung im Bereich der Strukturellen Dissoziation liegen ein oder mehrere Traumata zugrunde. Die dissoziativen Störungen im Bereich der Tertiären Strukturellen Dissoziation werden in verschiedener klinischer Literatur als die komplexesten Formen einer Posttraumtischen Belastungsstörung, PTBS, beschrieben. Ich verstehe das prinzipiell, empfinde aber die PTSB als akute Symptomatik (von deren Hauptsymptomen auch nicht alle im System etwas spüren). Etwas, das akut sehr viel Leidensdruck und Beeinträchtigung verursacht. Und die DIS als etwas, das alle im System betrifft, auch wenn nicht alle es wissen oder als solches benennen können. Unsere Persönlichkeitsstruktur als etwas, das, auch wenn sich die Kommunikation verbessern soll und ein Zusammengehörigkeitsgefühl angestrebt wird, im Grunde bleibt/bleiben kann (weil Anteile nicht verschwinden, sondern sich bzw. ihre Strategien verändern und gleichermaßen unsere Zusammenarbeit, unser Zusammensein), worunter wir dann an sich ja auch nicht (mehr) leiden, nur an dem, was dadurch (noch) entsteht, bzw. an dem, woraus sich das entwickelte. Das, was künftig im ICD als Komplexe Posttraumatischen Belastungsstörung klassifiziert werden soll, beinhaltet verschiedene Formen von Dissoziationen oder Stufen der Strukturellen Dissoziation sowie Affektregulationsstörungen, negative Selbstwahrnehmung und Beziehungsstörungen. Nicht des Titels wegen ist es wichtig die Komplexität zu verstehen, sondern um Entstehungskontexte und Möglichkeiten der Zusammenarbeit erkennen zu können, also um Wege zu mehr Integration und weniger Leid gestaltbar zu machen.

Schizophrenie ist eine wohl nicht seltene Fehldiagnose, die Menschen mit dissoziativer (in dem Fall dann meist Identitäts-) Störung erhalten. Vermutlich ist die wörtliche Übersetzung von Schizophrenie, gespaltene Seele, ein Grund dafür, dass es weiterhin den Vergleich/die Verwechslung gibt. Zumindest in der Alltagssprache, wird „schizophren“ als Synonym für „gespalten“ oder „höchst ambivalent“ verwendet. Allerdings liegen grundlegend andere neurobiologische und psychologische Prozesse vor. Die Schizophrenie ist eine deutlich seltenere Krankheit als dissoziative Störungen, die keine Seltenheit sind, jedoch entspricht die Gewichtung der wissenschaftlichen Betrachtung offensichtlich anderen Interessen. „Sie finden [in PubMed, Suchmaschine für wissenschaftliche Studien] 264 Studien zur Dissoziativen Identitätsstörung und 90 251 über Schizophrenie. Wenn Sie jetzt noch die Anzahl der Studien mit bildgebenden Verfahren vergleichen zwischen DIS und Schizophrenie, dann zeigt sich dieselbe Schieflage innerhalb von Sekunden: 18 für DIS und 940 für Schizophrenie. Ist diese fehlende Betrachtung gerechtfertigt?“, fragt Traumaforscher, Therapeut und Autor Ellert R. S. Nijenhuis.

Nach Kurt Schneider kann eine Schizophrenie mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Auftreten der Symptome ersten Ranges diagnostiziert werden, wenn andere Ursachen, wie körperliche Erkrankungen oder Drogeneinnahmen, ausgeschlossen sind. Diese Symptome treten jedoch anscheinend im Falle einer dissoziativen Identitätsstörung häufiger auf als bei Schizophreniekranken. Also sollte Dissoziation in diesen Fällen definitiv in Betracht gezogen werden. Zudem wirken bei uns Medikamente sehr unterschiedlich, je nach Erregungszustand, und machen Symptome nicht weg, wenn sie dissoziativer Natur sind. Sowohl bei Schizophrenie als auch DIS kommt es also z. B. zum Hören von Stimmen, Bedroht- und/oder Aufgefordertwerden, zu Wahrnehmungen, deren Auslöser nicht im Hier-und-Jetzt für Außenstehende erkennbar ist, zu Empfindungen, für die es keine direkte Ursache gibt, Gedankenabbrüche oder -eingebungen sowie (scheinbare) Willensbeeinflussung. Und schließlich und nicht unwichtig: Beide Krankheiten leiden unter Stigma und sind nicht heilbar mit Äußerungen wie: „Du weißt, es ist nicht echt“ oder „Es ist doch schon vorbei“, oder einfach durch die Zeit.

 

Falls eine ungeordnete, sprunghafte (auf Themen bezogen) Ausdrucksweise, gestörte, also nichtlineare, Gedankengänge oder unkontrollierte Bewegungen vorkommen, ist dies bei uns nicht psychotisch bedingt, sondern kann vereinzelt auftreten, weil wir dissoziieren. Es ist unmöglich – für mich zumindest nicht vorstellbar, vielleicht auch abhängig davon, wer geht und wer kommt, aber dann ggf. eben fast unmöglich –, einen Satz in oder nach einem Switch zu Ende zu führen, weil ein anderer Anteil das Bewusstsein übernimmt oder sich in das unsere einmischt. Manchmal fühlt es sich auch so an, als würden andere ihre Gedanken über meine „darüberschütten“ oder mir die ihren hinwerfen, mit denen ich dann etwas anfangen muss, auch wenn es nicht meine Gedanken sind. Es ist anstrengend, beim Thema zu bleiben, wenn sich verschiedene Stimmen einmischen, weil sie uns nicht zustimmen oder Gedanken darum wegbrechen. Ein unterbrochener Satz oder abrupter Themenwechsel ist manchmal einfach nicht zu vermeiden. Dissoziierte Persönlichkeitsanteile sind keine Halluzinationen, sondern wirklich Teile der Persönlichkeit, und alle zusammen ein Mensch. Innen-Stimmen z. B. sind „positive“ dissoziative Symptome. Positiv im Sinne von Addition, weil sich etwas, das abgespalten ist, hinzufügt. Viele davon sind nicht nur sich wiederholende Verfolgungs-Mantras. Zwar kann es sein, dass Anteile teilweise das wiederholen, was (uns) während einer traumatischen Situation gesagt oder gelehrt wurde, aber dann hat es dort seinen Ursprung und eine Bedeutung und ist kein Wahn. In jedem Fall sind wir viele, mehr als nur Stimmen. Wir existieren tatsächlich. Die meisten von uns können (wenn sie dürfen/in der Situation können) in Kontakt treten, Gespräche führen, wir alle fühlen, wenn auch sehr unterschiedlich, oder teilweise nicht, wir hoffen, verzweifeln und je nachdem, wie komplex bzw. autonom jemand ist, handeln und denken wir, wie es Menschen eben können oder nicht. Nur eben je nachdem in einem begrenzten oder eingeschränkten Bereich. Intrusionen sind welche dieser positiven dissoziativen Symptome, es sind Empfindungen oder Wahrnehmungen, für die es objektiv nicht unbedingt einen passenden äußeren Reiz als Auslöser gibt. Jedoch passt der Trigger immer, auch wenn das von außen nicht unbedingt als schlüssig zu erkennen ist, weil es um nicht integrierte Originale geht. Original bedeutet nicht objektiver, juristischer Fakt, sondern original das, was wir damals wahrgenommen haben. Sie sind also nicht psychotisch bedingt, sondern weil sich eine Amnesie auflöst bzw. einzelne Aspekte das Bewusstsein erlangen, als Gegenstück zur Dissoziation quasi. Unser Nervensystem reproduziert die Bilder, Geräusche, Gerüche, Geschmäcker, Empfindungen, die wir abgespalten haben. Sie sind also auch echte innere Wahrnehmungen, die durch triggernde Reize erneut ausgelöst werden. Falsche Überzeugungen, veränderte Wahrnehmungen von realen Sachverhalten oder verzerrte Weltanschauungen: „Illusionen“ sind im Falle einer dissoziativen Störung entweder auch Erinnerungen, die aktuell erscheinen, oder Lernerfahrungen bzw. introjizierte Meinungen der Täter_innen oder auch eine antrainierte Alarmbereitschaft, die aus gutem Grund entstand. Diese Weltbilder können psychotisch scheinen, da sie mitunter sehr extrem sind oder ihr Entstehen nicht verstanden wird, doch sind sie keine Einbildung, sondern Ansichten, die durch die Traumata geprägt und gefärbt sind. Welche allerdings noch irrealer scheinen, indem verschiedene Anteile polare Weltanschauungen oder Werte haben (können). Es kommt also zu massiven Unterschieden.

Ich weiß, meistens, dass wir nur diesen einen Körper haben und dieser objektiv ziemlich anders ist, als die meisten von uns ihn wahrnehmen. Ich wusste von Anfang an, dass die Stimmen im Kopf sind und nicht von außen kommen, weil es, auch wenn es sehr laut sein kann, anders klingt als Sprache, die von außen kommt. So sind die aktuellen Bedrohungen etwas, das innen lebt, auch wenn ich lange nicht wusste, wo es herkommt oder warum es da ist. Das Gefühl, von außen verfolgt zu werden, ist auch „nur“ eine Erinnerung bzw. aufgrund unseres feststeckenden Nervensystems so echt, und die Macht dieser ständigen Angst so vehement, weil sie aus Todesangst geboren wurde. Unser Kontextlernen ist gestört, da der Hippocampus durch den chronischen Stress kleiner ist und die Bedrohung nicht sortiert und orientiert hat. Wir wissen lange nicht, was sicher ist, weil es viel Training braucht, um die Unsicherheit verlernen zu können. Die Angst verlässt uns nicht, weil einzelne Reize nicht in ihre Umgebung integriert sind. Es ist also kein psychotischer Verfolgungswahn, sondern neurobiologische Veränderungen, die uns im Gefahren-Modus festhalten.

Aber genau deshalb, weil es in uns ist und immer wieder die Macht über den Organismus übernimmt, fühlen wir uns so machtlos. Ja, wir sind verfolgt vom Trauma, weil ständig hier und da etwas hochkommt und uns überschwemmt und umreist. Was wir zunächst dissoziieren, weil unser Gehirn weiter auf Gefahrenmodus steht und Dissoziation unsere vorrangige Bewältigungsstrategie ist. Die scheinbar aktuelle Bedrohung, die manche empfinden, bringt auch Hypervigilanz mit sich, was durchaus wie Verfolgungswahn scheinen kann, nur dass diese Alarmbereitschaft absolut total viel Sinn hat(te) und einen realen Ursprung.

Wir sind echt, gültig und entstanden, damit wir überleben. Wir bilden zusammen unsere Persönlichkeit (oder so etwas Ähnliches). Die Strukturen und Ebenen der Abspaltung sind unmöglich gleich zu erkennen, wie auch wie selbstständig Anteile sind und wie viele amnestisch, welche mit Co-Bewusstsein ausgestattet, welche nicht, weil wir voneinander dissoziiert und für andere unerreichbar sind und sich auch viele nach außen nicht direkt, wenn überhaupt, zeigen. Denn es gibt Anteile, die intern eine große Rolle spielen, viel aktiv sind und großen Einfluss auf das System haben, aber extern kaum oder gar nicht „erscheinen“. Die Entstehungsgründe sind bei bestimmten Anteilen ähnlich, auch gibt es z. B. kindliche Anteile oder Introjekte mit vergleichbaren Handlungsimpulsen (vergleichbar insofern, als dass in verschiedenen Menschen Anteile für bestimmte Aufgabenfelder oder mit ähnlichen traumatischen Erlebnissen auch Parallelen in ihrem Verhalten/Auftreten /Wünschen/Bedürfnissen zeigen). So geht es vielmehr darum, warum wer wie da ist, was wer wie warum für Aufgaben hat, welche Ressourcen nutzbar sind und was wer wie warum braucht bzw. warum wir wen wie abspalten mussten, als darum, das Auftreten zu begutachten oder sich nach dramatischen Switchs umzuschauen. Es ist ein Mythos, dass alle Menschen, die eine Multiple Persönlichkeit(störung) haben, offensichtlich und dramatisch ständig wechseln und sich in unterschiedlichsten Facetten zeigen und so auftreten oder sich Anteile nach einem Wechsel zu erkennen geben und sich je mit ihrem Namen vorstellen. Der fehlgeschlagene Titel einer „multiplen Persönlichkeit“ soll auch international künftig nicht mehr verwendet werden, sondern DIS. Denn weder, die offensichtlichen Symptome, an die Menschen bei einer multiplen Persönlichkeit denken, sind das worum es geht, noch bedeutet strukturell dissoziiert zu sein eine multiple Persönlichkeit zu haben. Wir haben nicht das, was integrations-typische Menschen sind, vervielfacht und in einen Körper gepackt. Wir sind viel eher dividiert, als multipliziert.

Welche Diagnose am Ende auch steht, das Empfinden und Erscheinen kann sehr ähnlich sein, auch wenn es einen anderen Titel trägt. Gleichzeitig können Menschen, die dieselbe Diagnose bekommen, sehr unterschiedlich empfinden. Es sind eben Worte auf Papier. Definitiv ist es aber keine Freak-Show. Die Wechsel und unsere Unterschiedlichkeit oder orientierungsloses Auftreten sind keine Unterhaltungsshow und es ist nicht (!) angebracht zu fragen, ob Wechsel gefilmt werden dürfen, weil es so „krank krass“ sei (wir mussten bitter enttäuschen). Ob als private oder professionell begleitende, unterstützende Person oder Betroffene – wer sich informieren will, soll das gerne tun, aber mit Vorsicht bzw. der Bereitschaft, bei Video-Medien zu hinterfragen. Filme und angeblich aufklärende You-Tube-Beiträge sind ein Grund dafür, dass es das Stigma gibt, bzw. dafür, dass es so weit verbreitet ist, weil es so „voll cool und aufregend“ sei, zu dissoziieren. Nein. Nein, ist es nicht. Ich kann und will mir nicht herausnehmen zu beurteilen, ob ein Video dies einfach als Entertainment übertrieben darstellt oder sich ein Mensch zeigen will, um aufzuklären. Das vermag und will ich nicht beurteilen. Zudem sind dies so überhaupt gar nicht meine Kanäle, um Einsichten oder Wissen zu erlangen, wodurch ich auch kaum Vergleichswerte habe und hier keine Bewertung setzen will. Sicher ist aber, dass etwas, das enormen, zerstörenden Leidensdruck verursacht und unseren Alltag bestimmt und alle Lebensbereiche einschränkt, kein Trend sein kann. Ganz besonders dann nicht, wenn wir die Entstehungsgründe betrachten. Allein die Vorstellung, dass Menschen das absichtlich übertrieben und oder verfälscht darstellen könnten, um mehr Klicks oder Likes zu bekommen, tut mir so weh, für alle, die darunter leiden müssen, weil damit großer Schaden anrichtet wird. Es mag sein, dass es gute, lehrreiche, ehrliche Videos dazu gibt, aber wer über Dissoziation aufklären will, und „Switching caught on camera“ postet, hat definitiv etwas falsch verstanden. Es ist kein Entertainment. Wer eine dissoziative Persönlichkeitsstruktur gebildet hat, hat etwas erlebt, was unmöglich zu ertragen war, was sie_er nicht aushalten konnte, weshalb ihre_seine Wahrnehmung von einem „Ich“ zerbrochen ist bzw. gar nicht entwickelt wurde, das „Selbst“ in Fragmente geteilt, damit sie_er es überstehen konnte. Es ist eine Überlebensstrategie, kein Spaß. War es nicht und ist es auch Jahre später im Alltag nicht geworden. Warum gibt es nicht „Depression caught on camera“? Ja klar, ist nicht so unterhaltsam. Wenn Menschen das sehen, halten sie es entweder für wahr oder sie sind dann überzeugt, dass es Dissoziation nicht wirklich gibt. Beides richtet Schaden an. Wenn sich eine Person bei dir sicher fühlt, mutiges Vertrauen zu dir hat und dir erzählt, eine dissoziative Störung zu haben, und du sagst oder denkst dann: „Oh, nein, hast du nicht. Das gibt es nicht in echt“, leugnest du nicht nur die Symptomatik. Dann leugnest du ihre gesamte Lebensrealität. Allen Schmerz, alles Leid, das sie zu ertragen hat lernen müssen, das ja lange abgespalten war oder (in Teilen) noch ist, alles wird dadurch kleingeredet. Es andererseits zwar als Realität anzunehmen, aber zu sagen, die Person sei völlig krank gestört, ist ebenso schmerzhaft. Wir werten uns selbst schon genug dafür ab. So oft verurteile ich mich für all die scheinbaren Unfähigkeiten, für die Lücken, das Nicht-Wissen, das Sich-aus-Fragen-mit-Halbaussagen-Winden. So oft bin ich davon überzeugt, die Kontrolllosigkeit, die Amnesien, die Schmerzen, die Unsicherheit und ständige Angst nicht mehr aushalten zu können. Dann zu hören oder die Gedanken zu spüren, krank und gestört zu sein, trifft zerstörend zielgenau in wunde Punkte. Es bestätigt die Selbstabwertung und hat auch den Beigeschmack von Schuldzuweisung, weil wir ja kaputt und gestört sind, weil das ja alles unsere Schuld ist, weil wir das Problem sind.

Persönlichkeitsanteile zu dissoziieren, ist grundlegend für Dissoziative Störungen, aber es geht nicht darum, wie deutlich unterscheidbar wir sind oder wie dramatisch die Switches aussehen. Es geht darum, das Prinzip der strukturellen Dissoziation zu verstehen, um sie als Überlebensstrategie anerkennen zu können. Für den Prozess der Integration ist nicht entscheidend, wie viele und wie drastisch unterschiedlich wir sind, sondern welche Bedürfnisse wir haben, warum wir entstanden, warum wir wie sind, warum wir was aus unserem Bewusstsein abspalten mussten bzw. warum wer dieses nie erreicht hat. Die Dissoziative Identitätsstörung (die der tertiären Dissoziation entspricht) ist bei nur sechs Prozent, derer, die sie diagnostiziert haben, andauernd offensichtlich ausgebildet. Also (können) 94 Prozent versteckt bleiben. Das ist keine Wertung. Nur entspricht das Leben in dissoziativen Selbst-Strukturen, das suggeriert wird, nur selten dem tatsächlichen, wenn solche scheinbare Multiplizität für Entertainment verwendet wird. Denn wie dramatisch die Switchs auch sein mögen, sind sie trotzdem nur die Spitze des Eisbergs, nur das, was Aufmerksamkeit erregt, wovon gedacht wird, es sei das Problem. Doch ist die Gewalt das Problem. Das Alleinsein im und nach dem wiederkehrenden Ausgeliefertsein ist das Problem, die Dissoziation ist die Überlebens-Lösung gewesen.