Die ganze Geschichte

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YANIS VAROUFAKIS

DIE GANZE
GESCHICHTE

Meine Auseinandersetzung

mit Europas Establishment

Aus dem Englischen von

Anne Emmert, Ursel Schäfer

und Claus Varrelmann

Verlag Antje Kunstmann

Zum Buch

Als griechischer Finanzminister löste Yanis Varoufakis eine der spektakulärsten und kontroversesten Auseinandersetzungen der jüngsten politischen Geschichte aus, als er versuchte, die Beziehung seines Landes mit der EU neu zu verhandeln. Trotz der massenhaften Unterstützung seitens der griechischen Bevölkerung und der bestechend einfachen Logik seiner Argumente – dass die gigantischen Kredite und die damit verbundene Sparpolitik eine zerstörerische Wirkung haben – hatte Varoufakis nur in einem Erfolg: Europas politisches und mediales Establishment in Rage zu versetzen. Aber die wahre Geschichte der damaligen Geschehnisse ist beinahe unbekannt, weil so vieles in der EU hinter verschlossenen Türen stattfindet.

In diesem couragierten Bericht deckt Varoufakis alles auf und erzählt die ganze Geschichte von waghalsiger Politik, von Heuchelei, Betrug und Verrat, die das Establishment in den Grundfesten erschüttern wird. Dieses Buch ist ein Weckruf, die europäische Demokratie zu erneuern, bevor es zu spät ist.

»Eine der besten politischen Erinnerungen überhaupt. So eine präzise, detaillierte Beschreibung moderner Macht hat man noch nicht gelesen.«

The Guardian

»Ein wichtiges und erschreckendes Buch, das gelesen werden muss. Besonders, weil es schonungslos offenlegt, wie die Mächtigen in der EU handeln … Varoufakis verkörpert die größten aller politischen Tugenden – Mut und Ehrlichkeit.«

The Times

»Einer meiner wenigen Helden. Solange es Leute wie Varoufakis gibt, gibt es noch Hoffnung.«

Slavoj Žižek

Über den Autor

Yanis Varoufakis, geboren 1961, wurde 2015 Europas bekanntester Finanzminister, als er sich weigerte, für das bankrotte Griechenland neue Schulden aufzunehmen. Seit seinem Rücktritt wurde er zur Galionsfigur einer neuen Bewegung für eine Reform der Eurozone. Der international renommierte Wirtschaftswissenschaftler lehrte an Universitäten in England, Australien und den USA und an der Universität Athen. Im Verlag Antje Kunstmann erschienen Der globale Minotaurus (2012), Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise (mit J. Galbraith und S. Holland, 2015) und Das Euro-Paradox (2016).

Für alle, die intensiv nach Kompromissen suchen, aber lieber untergehen, als sich kompromittieren lassen

INHALT

Eine Anmerkung zu wörtlichen Zitaten

Vorwort

Teil Eins. Winter unseres Missvergnügens

1. Einführung

2. Bailoutistan

3. Von Zungen und Bogen

4. Wassertreten

5. Im Sterbelicht sei doppelt zornentfacht

Teil Zwei. Unbesiegbarer Frühling

6. Es beginnt …

7. Verheißungsvoller Februar

8. Hektik vor dem Sturm

9. Weißer Rauch: ein kurzer Moment der Freude

10. Desmaskiert

11. Unseren Frühling beschneiden

12. In Merkels Bann

13. Das Richtige wird vereitelt

14. Der grausamste Monat

Teil Drei. Endspiel

15. Countdown zum Untergang

16. Reden wie Erwachsene

17. Löwen, von Eseln geführt

Epilog

Danksagung

Anhänge

Anmerkungen

Register

Eine Anmerkung zu wörtlichen Zitaten

In einem Buch wie diesem, bei dem so viel davon abhängt, wer was zu wem gesagt hat, habe ich mir alle Mühe gegeben, zitierte Äußerungen genau wiederzugeben. Dabei konnte ich auf Mitschnitte mit meinem Mobiltelefon zurückgreifen und auf Notizen, die ich nach vielen offiziellen Treffen und Unterredungen niedergeschrieben habe. Wenn ich keine eigenen Aufzeichnungen oder Notizen hatte, verließ ich mich auf mein Gedächtnis und, wo immer möglich, auf die Bestätigung durch andere Augenzeugen.

Dem Leser sollte bewusst sein, dass ein großer Teil der in dem Buch zitierten Diskussionen auf Griechisch stattfand. Das betrifft alle Gespräche mit meinen Mitarbeitern im Finanzministerium, im Parlament, auf den Straßen Athens, mit dem Ministerpräsidenten, im Kabinett sowie die Unterredungen zwischen meiner Partnerin Danae und mir. Alle diese Gespräche habe ich ins Englische übersetzt.

Die einzigen Unterredungen, die weder auf Griechisch noch auf Englisch geführt wurden, waren die mit dem französischen Finanzminister Michel Sapin. Er weigerte sich als einziges Mitglied der Eurogruppe, bei Sitzungen Englisch zu sprechen. Wir unterhielten uns entweder mit Dolmetschern, oder, was ziemlich oft vorkam, er sprach Französisch mit mir, und ich antwortete auf Englisch, unsere Kenntnis der jeweiligen Sprache reichte dafür aus.

In jedem Fall beschränke ich meinen Bericht strikt auf Gespräche, die für die Öffentlichkeit interessant sind: Gespräche über Ereignisse, die das Leben von Millionen Menschen beeinflusst haben.

VORWORT

Mein voriges Buch, Das Euro-Paradox, bot eine historische Erklärung, warum Europa nun, Jahrzehnte nach seiner Gründung, dabei ist, seine Integrität zu verlieren und seine Seele zu verwirken. Als ich an den letzten Seiten arbeitete, im Januar 2015, wurde ich Finanzminister von Griechenland und fand mich im Innersten jenes Ungeheuers wieder, über das ich eben noch geschrieben hatte. Als Finanzminister eines chronisch verschuldeten europäischen Mitgliedstaats, der sich zu dem Zeitpunkt in einer heftigen Auseinandersetzung mit seinen Gläubigern – Europas mächtigsten Staaten und Institutionen – befand, lernte ich unmittelbar die besonderen Umstände und Gründe kennen, warum unser Kontinent in einem Morast versank, aus dem er womöglich lange nicht mehr herauskommen wird.

Das vorliegende Buch erzählt diese Geschichte. Man könnte es als die Geschichte eines Wissenschaftlers lesen, der eine Weile Minister war und dann zum Whistleblower wurde. Oder als persönlichen Enthüllungsbericht, in dem berühmte Personen wie Angela Merkel, Mario Draghi, Wolfgang Schäuble, Christine Lagarde, Emmanuel Macron, George Osborne und Barack Obama figurieren. Oder als die Geschichte eines kleinen, bankrotten Landes, das es mit den europäischen Goliaths aufnimmt, um aus dem Schuldgefängnis herauszukommen, und dann eine krachende, wenn auch einigermaßen ehrenhafte Niederlage erleidet. Aber keine dieser Beschreibungen spiegelt meine wahre Motivation wider, dieses Buch zu schreiben.

Kurz nach der gnadenlosen Niederschlagung der griechischen Rebellion von 2015, auch bekannt als griechischer Frühling oder Athener Frühling, verlor in Spanien die linke Partei Podemos an Schwung; zweifellos fürchteten viele potenzielle Wähler, eine wütende EU könnte ihnen ein ähnliches Schicksal bereiten wie uns. Viele Anhänger der Labour Party in Großbritannien stimmten unter dem Eindruck der kaltschnäuzigen Missachtung der Demokratie, die die EU gegenüber Griechenland an den Tag gelegt hatte, für den Brexit. Der Brexit wiederum gab Donald Trump Auftrieb. Sein Triumph lenkte frischen Wind in die Segel fremdenfeindlicher Nationalisten in ganz Europa und der Welt. Wladimir Putin dürfte sich angesichts des Schauspiels der sagenhaften Selbstdemontage des Westens ungläubig die Augen reiben.

Die Geschichte in diesem Buch steht nicht nur symbolisch für den Weg, den Europa, Großbritannien und die Vereinigten Staaten eingeschlagen haben; sie bietet auch reale Einsichten, wie und warum unsere Staatswesen und sozialen Ordnungen zerbrochen sind. Während das sogenannte liberale Establishment gegen die Fake News der rebellierenden »alternativen Rechten« protestiert, ist es heilsam, sich daran zu erinnern, dass 2015 eben dieses Establishment eine schrecklich effiziente Verleumdungs- und Rufmordkampagne gegen die proeuropäische, demokratisch gewählte Regierung eines kleines Landes in Europa startete.

 

Ich hoffe zwar, dass derartige Einsichten nützlich sind, doch mein Antrieb, dieses Buch zu schreiben, hat noch tiefere Gründe. Hinter den einzelnen Ereignissen, deren Zeuge ich wurde, erkannte ich eine universelle Geschichte – die Geschichte, was passiert, wenn Menschen sich grausamen Umständen ausgeliefert sehen, die ein inhumanes, überwiegend unsichtbares Netzwerk von Machtbeziehungen hervorgebracht hat. Deshalb gibt es in diesem Buch nicht »die Guten« und »die Bösen«. Vielmehr ist es von Menschen bevölkert, die ihr Bestes tun – oder das, was sie dafür halten – unter Bedingungen, die sie sich nicht ausgesucht haben. Jede einzelne Person, die ich getroffen habe und über die ich hier schreibe, glaubte, sie würde sachgerecht handeln, aber gemeinsam brachten sie mit ihrem Tun Unglück über einen ganzen Kontinent. Ist das nicht Stoff für eine echte Tragödie? Haben nicht genau darum die Tragödien von Sophokles und Shakespeare uns heute noch etwas zu sagen, viele hundert Jahre nach den Ereignissen, auf die sie sich beziehen?

Irgendwann bemerkte Christine Lagarde, die geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds, im Zustand der Verzweiflung, um das Drama zu lösen, bräuchten wir »Erwachsene im Raum«. Sie hatte recht. In vielen der Räume, in denen sich dieses Drama entfaltete, fehlte es an Erwachsenen. Dem Charakter nach fielen die Beteiligten in zwei Kategorien: die Unbedeutenden und die Faszinierenden. Die Unbedeutenden liefen herum und kreuzten Kästchen auf den Blättern mit den Anweisungen an, die sie von ihren Herren und Meistern bekommen hatten. In vielen Fällen waren ihre Meister – Politiker wie Wolfgang Schäuble und Funktionäre wie Christine Lagarde und Mario Draghi – anders. Sie besaßen die Fähigkeit, über sich selbst und ihre Rolle in dem Drama zu reflektieren, und weil sie in der Lage waren, einen Dialog mit sich selbst zu führen, gingen sie so faszinierend leicht in die Falle sich selbst erfüllender Prophezeiungen.

Griechenlands Gläubiger am Werk zu beobachten war tatsächlich so, als würde man zusehen, wie sich im Land des Ödipus eine Version von Macbeth entfaltet. Genau wie Ödipus’ Vater, König Laios von Theben, unwissentlich seine Ermordung selbst herbeiführt, weil er an die Prophezeiung glaubt, dass sein Sohn ihn umbringen werde, führten die klügsten und mächtigsten Akteure in diesem Drama ihren eigenen Untergang aus Angst vor der Prophezeiung herbei, die ihn vorausgesagt hatte. Griechenlands Gläubiger waren sich sehr genau bewusst, wie leicht ihnen die Macht entgleiten konnte, und wurden oft von Unsicherheit geradezu überwältigt. Weil sie fürchteten, Griechenlands unausgesprochener Bankrott könnte zur Folge haben, dass sie die politische Kontrolle über Europa verloren, zwangen sie dem Land Maßnahmen auf, die nach und nach ihre politische Kontrolle nicht nur über Griechenland, sondern über Europa aushöhlten.

An einem bestimmten Punkt, als sie wie Macbeth spürten, dass ihre Macht sich in unerträgliche Machtlosigkeit verwandelte, fühlten sie sich gedrängt, auf schlimmstmögliche Weise zu handeln. In solchen Augenblicken hörte ich sie beinahe sagen:

Ich stieg ins Blut

So tief, daß mir, wollt ich nicht mehr drin baden,

Rückkehrn so schwer wär wie hindurchzuwaten.

Hab Seltsames im Kopf, was drängt zur Hand,

Und muß getan sein, eh’s recht Prüfung fand.

Macbeth, Dritter Akt, 4. Szene

Wenn einer der Beteiligten über ein mörderisches Drama wie dieses berichtet, können Parteilichkeit und der Wunsch nach Rechtfertigung nicht ausbleiben. Ich bemühe mich, so fair und unparteilich wie möglich zu sein, ihre Handlungsweise und meine mit den Augen einer Person aus einer echten alten griechischen oder shakespeareschen Tragödie zu sehen, in der die Charaktere weder gut noch böse sind, sondern von den unbeabsichtigten Folgen ihrer Vorstellung, was sie tun sollten, überwältigt werden. Ich vermute, dass ich bei Menschen, die ich faszinierend fand, damit erfolgreicher war als bei solchen, deren Bedeutungslosigkeit meine Sinne abstumpfte. Es fällt mir schwer, mich dafür zu entschuldigen, nicht zuletzt, weil es der Genauigkeit dieses Berichts Abbruch tun würde, wenn ich sie anders darstellen würde.

TEIL EINS

KAPITEL 1
Einführung

Den einzigen Farbklecks in der schummrigen Hotelbar lieferte die bernsteinfarbene Flüssigkeit, die in dem Glas vor ihm schimmerte. Als ich näher trat, hob er den Blick und begrüßte mich mit einem Kopfnicken, bevor er sich wieder seinem Whiskyglas zuwandte. Erschöpft ließ ich mich auf das dick gepolsterte Sofa fallen. Wie aufs Stichwort erklang imponierend düster seine vertraute Stimme:

»Yanis, du hast einen schweren Fehler gemacht.«

Spät in einer Frühlingsnacht legt sich eine Sanftmut über Washington D.C., die tagsüber unvorstellbar ist. Wenn die Politiker, die Lobbyisten und die Hofschranzen verschwunden sind, verfliegt alle Spannung. In den Bars verlieren sich die wenigen Menschen, die nicht schon wieder früh am Morgen auf den Beinen sein müssen, und die noch weniger zahlreichen, die ihre Probleme nicht schlafen lassen. In dieser Nacht wie in den einundachtzig Nächten davor und tatsächlich auch den einundachtzig Nächten danach gehörte ich zu Letzteren.

In die Dunkelheit gehüllt, war ich eine Viertelstunde von Nr. 700 19th Street N.W., dem Sitz des Internationalen Währungsfonds, zu der Hotelbar gegangen, wo ich ihn treffen sollte. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ein so kurzer Spaziergang, noch dazu im gesichtslosen Washington, so erfrischend sein konnte. Die Aussicht auf die Begegnung mit dem großen Mann trug zu meiner Erleichterung bei: Nach fünfzehn Stunden an einem Tisch mit lauter mächtigen Leuten, die entweder zu unbedeutend oder zu eingeschüchtert waren, um offen zu sprechen, würde ich nun jemanden treffen, der in Washington und darüber hinaus großen Einfluss hatte, einen Mann, dem niemand Bedeutungslosigkeit oder Kleinmut vorwerfen konnte.

Meine Stimmung änderte sich schlagartig bei seiner bissigen Begrüßung, die in dem dämmrigen Licht und mit den huschenden Schatten noch bedrohlicher wirkte.

Ich versuchte, unbeeindruckt zu klingen. »Und was für ein Fehler war das, Larry?«

»Du hast die Wahl gewonnen!«

Es war am 16. April 2015, genau in der Mitte meiner kurzen Amtszeit als griechischer Finanzminister. Nicht einmal sechs Monate zuvor hatte ich das Leben eines Wissenschaftlers geführt, der an der Lyndon B. Johnson School of Public Affairs an der Universität im texanischen Austin lehrte, während er von der Universität Athen beurlaubt war. Aber im Januar 2015 hatte sich mein Leben über Nacht verändert, als ich als Abgeordneter ins griechische Parlament gewählt wurde. Ich hatte nur ein einziges Wahlversprechen abgegeben: dass ich alles in meiner Macht Stehende tun würde, um mein Land aus der Schuldknechtschaft und der erdrückenden Sparpolitik zu befreien, die seine europäischen Nachbarn und der IWF ihm auferlegt hatten. Dieses Versprechen hatte mich nach Washington gebracht und – mit der Hilfe meiner engen Mitarbeiterin Elena Panaritis, die das Treffen vereinbart hatte und mich an dem Abend begleitete – in diese Bar.

Ich versteckte meine Beklemmung hinter einem Lächeln über seinen trockenen Humor. Dabei schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Wollte er so meine Entschlossenheit gegenüber einem Meer von Feinden stärken? Ich tröstete mich mit der Erinnerung, dass der einundsiebzigste Finanzminister der Vereinigten Staaten und siebenundzwanzigste Präsident der Universität Harvard nicht für seinen konzilianten Umgangston bekannt war.

Um das ernste Gespräch, das uns bevorstand, noch ein paar Augenblicke hinauszuschieben, signalisierte ich dem Barkeeper, dass er mir auch einen Whisky bringen sollte. »Bevor du mir erklärst, Larry, was für einen ›Fehler‹ ich gemacht habe, möchte ich dir sagen, wie wichtig deine unterstützenden Worte und dein Rat für mich in den letzten Wochen waren. Ich bin dir wirklich sehr dankbar. Besonders, weil ich dich seit Jahren als Fürst der Finsternis bezeichne.«

Larry Summers erwiderte ungerührt: »Immerhin hast du mich als Fürst bezeichnet. Ich habe schon anderes gehört.«

In den nächsten beiden Stunden unterhielten wir uns ernsthaft. Wir sprachen über technische Dinge: Gläubigerbeteiligung, Fiskalpolitik, Reform der Finanzmärkte, Bad Banks. In politischer Hinsicht warnte er mich, dass ich dabei sei, den Propagandakrieg zu verlieren, und dass »die Europäer«, wie er die amtierenden europäischen Politiker nannte, mich kleinkriegen wollten. Er meinte, und da stimmte ich zu, dass eine neue Vereinbarung für mein leidgeprüftes Land so aussehen müsse, dass die deutsche Kanzlerin sie ihren Wählern als ihre Idee präsentieren könne, als ihr persönliches Vermächtnis.

Unser Gespräch lief besser, als ich gehofft hatte, wir stimmten in allen wichtigen Punkten überein. Es war ein großer Erfolg, dass ich mir im Kampf gegen mächtige Institutionen, Regierungen und Medienkonglomerate, die alle die Kapitulation meiner Regierung und meinen Kopf auf einem Silbertablett forderten, die Unterstützung des Respekt einflößenden Larry Summers gesichert hatte. Nachdem wir uns über die nächsten Schritte verständigt hatten und bevor die Müdigkeit und der Alkohol uns zwangen, den Abend zu beschließen, schaute Summers mich eindringlich an und stellte mir eine Frage, die so gut vorbereitet klang, dass ich vermutete, er habe vor mir schon andere damit getestet.1

»Es gibt zwei Arten von Politikern«, begann er. »Insider und Outsider. Die Outsider legen Wert darauf, dass sie ihre Version der Wahrheit frei aussprechen können. Der Preis dafür ist, dass sie von den Insidern ignoriert werden, die die wichtigen Entscheidungen treffen. Die Insider wiederum folgen einer heiligen Regel: Sag nie etwas gegen andere Insider und sprich niemals mit Outsidern über das, was Insider sagen und tun. Welche Belohnung bekommen sie dafür? Zugang zu Insiderinformationen und die Chance, allerdings nicht die Garantie, wichtige Menschen und Ergebnisse zu beeinflussen.« Und damit kam Summers zu seiner Frage: »Also, Yanis, welche Art von Politiker bist du?«

Mein Bauchgefühl riet mir, mit einem einzigen Wort zu antworten. Stattdessen holte ich weiter aus.

»Von meinem Charakter her bin ich der geborene Outsider. Aber«, fügte ich gleich hinzu, »ich bin bereit, meinen Charakter zu unterdrücken, wenn es hilft, eine neue Vereinbarung für Griechenland abzuschließen, die unser Volk aus dem Schuldgefängnis befreit. Du kannst mir glauben, Larry: Ich werde mich so lange wie ein geborener Insider benehmen, wie es nötig ist, damit eine praktikable Übereinkunft auf den Tisch kommt – für Griechenland und für Europa. Aber wenn die Insider, mit denen ich verhandle, nicht bereit sind, Griechenland aus der ewigen Schuldknechtschaft zu entlassen, dann werde ich ohne Zögern den Whistleblower spielen – wieder nach draußen zurückkehren, was sowieso mein natürlicher Lebensraum ist.«

Nach einer langen, versonnenen Pause erwiderte er: »Das ist nur fair.«

Wir erhoben uns beide zum Gehen. Als wir aus der Hotellobby traten, merkten wir, dass der Himmel während unseres Gesprächs seine Schleusen geöffnet hatte. Ich wartete, bis er in sein Taxi gestiegen war, und wurde in meiner leichten Frühjahrsjacke nass bis auf die Haut. Nachdem sein Taxi davongebraust war, registrierte ich, dass ich einen wilden Traum verwirklichen konnte, der mich in den endlosen Sitzungen der letzten Tage und Wochen immer wieder verfolgt hatte: Ich konnte allein, unbemerkt, im Regen spazieren gehen.

Während ich ganz allein durch die Nässe marschierte, rekapitulierte ich unsere Begegnung. Summers war ein Verbündeter, wenn auch ein widerstrebender. Mit der linken Politik meiner Regierung konnte er nichts anfangen. Aber er hatte begriffen, dass unser Untergang nicht im Interesse Amerikas lag. Er wusste, dass die Wirtschaftspolitik Europas nicht nur grausam für Griechenland war, sondern schrecklich für Europa und damit auch für Amerika. Und er wusste, dass Griechenland nur das Labor war, in dem diese verfehlte Politik ausprobiert und weiterentwickelt wurde, bevor man sie in ganz Europa einsetzte. Deshalb hatte er mir eine helfende Hand gereicht. Obwohl wir unterschiedliche politische Überzeugungen hegten, sprachen wir ökonomisch die gleiche Sprache und hatten kein Problem, rasch zu einer Einigung zu gelangen, welche Ziele wir verfolgen und welche Taktik wir anwenden wollten. Trotzdem hatte meine Antwort ihn offensichtlich beunruhigt, auch wenn er das nicht zeigte. Meinem Eindruck nach wäre er viel zufriedener in sein Taxi gestiegen, wenn ich wenigstens halbwegs Interesse bekundet hätte, ein Insider werden zu wollen. Doch wie die Veröffentlichung dieses Buchs zeigt, war das nie meine Absicht.

 

Zurück im Hotel trocknete ich mich erst einmal ab. Zwei Stunden bevor der Wecker läuten und mich zurück an die Front rufen würde, wälzte ich eine große Sorge hin und her: Wie würden meine Kameraden zu Hause, wie würde der innere Kreis der Regierung Summers’ Frage beantworten? In der Nacht war ich entschlossen zu glauben, dass ihre Antworten genauso ausfallen würden, wie meine Antwort ausgefallen war.

Nicht einmal zwei Wochen später kamen mir die ersten echten Zweifel.