Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens

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5Die Welt wird reif für systemisches Denken

Die vorangegangenen Kapitel demonstrierten, wie sehr systemischkonstruktivistische Denkweisen in unserer Geistesgeschichte bereits seit der Antike präsent sind. Welche zeitgeschichtliche Rolle sie jeweils gespielt haben mögen, vermag ich nicht zu entscheiden. Immerhin ging Sokrates für seine Ideen in den Tod, was zumindest nahelegt, dass sein Denken tatsächlich als hinreichend gefährlich angesehen wurde.

Betrachtet man den weiteren Lauf der Geschichte in Europa mit seinen ideologisch angestifteten Kriegen (insbesondere dem Dreißigjährigen), der Inquisition und den immer wieder aufflackernden Pogromen, so lässt sich allerdings von so etwas wie »systemischer Weisheit« (Bateson) nur wenig erahnen. Und doch: Systemisch-konstruktivistische Denkweisen waren nicht nur »immer« schon da, sie waren im Kern des Denkens der berühmtesten Philosophen – und sei es im Dafür (Sokrates, Kant, Hegel) oder sei es im Dagegen (der späte Platon, Descartes, Nietzsche).

Mit dem 20. Jahrhundert wird nun die Welt – trotz und mit ihrer großen Katastrophen– endgültig reif für eine auf breiterer wissenschaftlicher Grundlage abgestützte systemisches Denkweise. Meines Erachtens dürften es heute eher die Nichtsystemiker sein, die in wissenschaftlicher Erklärungs- und somit Rechtfertigungsnot stehen sollten als die Systemiker. Doch die Ironie der Geschichte will das leider zuweilen andersherum …

Im Folgenden werde ich wie in den vorangegangen Kapiteln eine Reihe von Denkern mit jeweils zentralen Anteilen ihres Denkens ähnlich wie auf einer Theaterbühne präsentieren. Thematisiert werden hierbei so unterschiedliche Disziplinen wie die Physik, die Psychologie, die Mathematik sowie einmal mehr die Philosophie.

In wissenschaftlicher ebenso wie in systemischer Hinsicht beginnt das 20. Jahrhundert mit einem großen Paukenschlag. Im Jahre 1905 veröffentlicht Albert Einstein vier Artikel, mit welchen er große Gegenstandsbereiche der Physik revolutioniert und damit die vielleicht entscheidendste Grenze zur vormodernen Physik zieht. Die großen Themen der Relativitäts- und der Quantentheorie beschäftigen uns bis heute. Einstein ist hierbei aber nur einer aus einer Reihe mehrerer zentraler Akteure aus der Physik in ebenjenen ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Ich werde neben ihm auf Werner Heisenberg und Niels Bohr näher eingehen. Insbesondere Bohrs Konzept der Komplementarität wird hierbei eine wichtige Brücke zwischen den Wissenschaften schlagen.

Weitere Akteure in dieser Reihe von zentralen Umbrüchen, die in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts das althergebrachte Denken erschütterten, sind natürlich Sigmund Freud, dessen Psychoanalyse die moderne Psychologie einläutete; Kurt Gödel, der in der Mathematik eine Grundlagenkrise mit auslöste; und – bereits etwas näher am Fokus dieses Buches – Jean Piaget mit seiner Klärung des Konstruktionscharakters des kleinkindlichen Denkens. Es folgen Ludwig Wittgenstein mit seiner Analyse der Welt der Sprache sowie Theodor Adorno und Max Horkheimer mit dem Wiederaufgriff des Themas philosophischer Dialektik. Eine bis heute weiterhin wirkmächtige Gegenströmung zu diesem breiten neuen Wissenschaftsparadigma soll jedoch nicht unerwähnt bleiben. Es handelt sich hierbei um den wichtigsten Gegenspieler zu Freud ebenso wie zu Piaget und anderen mehr, nämlich um John B. Watson. Watson ist Begründer des Behaviorismus, der vermutlich wirkungsmächtigsten und fatalsten Schule in der modernen Psychologie.

Die Physiker oder: Gott würfelt nicht – oder doch? (Albert Einstein, Werner Heisenberg und Niels Bohr)

Albert Einstein (1879–1955) lebte ein sehr typisches mitteleuropäisches Wissenschaftlerleben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Leben war nämlich geprägt von Migration und Flucht. Geboren in Ulm, wirkte er zunächst insbesondere in Bern und in Berlin, bis er, gerade noch rechtzeitig, im Jahre 1932 nach Princeton reiste und infolge der Machtergreifung der Nazis zum Glück dort bleiben konnte. In Princeton hat Einstein den Rest seines Lebens verbracht.

Das Jahr 1905 gilt bei ihm als ein Annus mirabilis, ein Wunderjahr. Einstein veröffentlicht in diesem Jahr gleich vier Aufsätze, in denen er neben der Begründung der Relativitätstheorie auch grundlegende Arbeiten zur Quantentheorie und zur statistischen Mechanik leistet.54

Dabei haben sowohl Relativitätstheorie als auch Quantentheorie einen wichtigen Punkt gemeinsam: Beide nämlich führen den Beobachter als einen notwendigen Bestandteil in die Theorie ein. Beide brechen also mit der klassischen Vorstellung einer »reinen« Beobachtung, und das in der Physik! Das althergebrachte Wissenschaftsgebäude mit dem hehren Ziel reiner Erkenntnis beginnt zu wanken.

Um nicht allzu sehr ins Technische abzugleiten, beschränke ich meine Hinweise zu beiden Theorien auf ein weniges. Zunächst zur Relativitätstheorie. Die Relativitätstheorie bricht mit unserer Alltagsvorstellung einer Unabhängigkeit von Raum und Zeit. Beide nämlich haben sehr wohl etwas miteinander zu tun; in den Worten der Theorie sind sie relativ zueinander.

Ich lade Sie daher ein zu einem kleinen Gedankenspiel. Stellen Sie sich vor, Sie sind der berühmte Raumpilot Major Tom (mit Gruß an David Bowie) in seinem brandneuen und vor allem superschnellen Raumschiff. Major Tom will das Licht verfolgen und schauen, wo es eigentlich hinsaust mit seiner Geschwindigkeit von annähernd 300 000 Kilometern pro Sekunde. Und so rast er mit seinem leider nicht ganz so schnellen Raumschiff hinterher. Nehmen wir einmal an, er fliegt mit eigentlich unfassbar schnellen 290 000 km/s. Und jetzt kommt das große Paradoxon der Relativitätstheorie. Das Licht nämlich baut seinen Vorsprung nicht um die Differenz beider Geschwindigkeiten und somit um schnöde 10 000 km/s aus, sondern es bleibt gleich schnell für ihn. Warum?

Es ist eine Eigenheit unserer Welt, dass die Zeit in dem schnell fliegenden Raumschiff langsamer vergeht als außerhalb des Raumschiffs. Je schneller Major Tom fliegt, desto mehr Energie muss sein Raumschiff aufwenden, und desto langsamer vergeht zugleich für ihn die Zeit. Deswegen, so eine Konsequenz aus der Relativitätstheorie, werden wir niemals die gleiche Geschwindigkeit wie das Licht erreichen können. Die weiteren Konsequenzen daraus sind aber noch lustiger (man muss dem Ganzen ein bisschen den Ernst der Sache nehmen). Major Tom wird, da seine Zeit deutlich langsamer vergeht als die unsrige, tatsächlich viel langsamer altern als wir auf der Erde. Mehr erleben als wir wird er jedoch trotzdem nicht. Denn es ist für ihn ja gar nicht so viel an Zeit vergangen …

Eine der philosophisch interessanten Folgen aus dieser Relativität von Raum und Zeit besteht darin, dass für jeden Beobachter notwendigerweise eine andere Perspektive vorliegt. Um dies anhand eines Beispiels von Einstein selbst zu erläutern: Werden zwei Ereignisse, so beispielsweise zwei Blitzschläge, die ein Beobachter als »gleichzeitig« wahrnimmt, auch für einen anderen Beobachter, der ganz woanders steht, als gleichzeitig wahrgenommen? Die Antwort darauf ist nein, denn jemand, der die Blitze von woandersher beobachtet, wird sie auch in zeitlicher Hinsicht anders wahrnehmen (ich spare mir hierbei mögliche Spitzfindigkeiten). Alle diese Beobachtungen sind somit relativ zum Ort des Beobachters.55

Aus der Relativitätstheorie folgt im Rahmen unserer systemischkonstruktivistischen Spurensuche, dass unsere Alltagskonstruktion einer Unabhängigkeit und Stabilität von Raum und Zeit – glücklicherweise – zunächst einmal zuverlässig ist, da wir uns ja eben nicht mit allzu großen Geschwindigkeiten bewegen. Es folgt jedoch zudem für unsere Alltagswahrnehmung, dass die Beobachtung on Phänomenen abhängig ist von dem Ort, an dem wir die Beobachtung vornehmen. Ein anderer Ort führt zu einer anderen Beobachtung. Wenn also jemand in der Nachfolge Einsteins weiterhin noch von einer »objektiven« oder »sicheren« oder wie auch immer wahren Beobachtung sprechen möchte, dann wird er (oder sie) sich zumindest ganz sicher nicht mehr auf der Grundlage moderner Physik bewegen. Wir stellen somit fest: Unsere raumzeitliche Sicht der Welt ist eine Konstruktion; wir wissen sogar, es ginge noch etwas exakter, aber im Großen und Ganzen genügt dies ja schließlich für unser Tun und Handeln. Des Weiteren offenbart sich mit der Relativitätstheorie ein wichtiger Einblick in die systemische Natur unserer Welt.

Einstein, dessen Rolle in der Physik damit bei Weitem nicht abschließend gewürdigt ist, erhält daher sowohl in unserer systemischen als auch unserer konstruktivistischen Ahnengalerie einen prominenten Platz. Für eine weitere bahnbrechende physikalische Theorie des 20. Jahrhunderts legte Einstein nämlich ebenfalls wichtige Grundlagen: die Quantentheorie. Es ist hier aber ein anderer, Werner Heisenberg, der sie auf einen für uns kritischen Punkt hin weiterentwickelt hat.

Heisenbergs Leben (1901–1976) liest sich ein Stück weit wie ein Parallelentwurf zu Einsteins. Während Einstein nämlich emigrierte, blieb Heisenberg im »Dritten Reich« und machte Karriere. Geboren in Würzburg, studierte er in München und lehrte später in Leipzig und Berlin, wo er führend an den Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zur deutschen Atombombe beteiligt war. Nach dem Zweiten Weltkrieg – die deutsche Atombombenentwicklung kam aus verschiedenen Gründen glücklicherweise nicht zum Abschluss – lehrte er in Göttingen und in München, wo er starb.

 

Lieferte Einstein die Grundlagen der Quantentheorie, verhalf ihr Werner Heisenberg zu ihrem Durchbruch. Insbesondere seine Unschärferelation aus dem Jahre 1927 rüttelte noch weiter an bewährten Grundannahmen des Denkens. Heisenberg erkannte nämlich ein sonderbares Phänomen im Verhalten kleinster Teilchen, ebenden »Quanten«. Diese Quanten stehen hierbei für die Erkenntnis, dass es im Subatomaren kleinste, nicht mehr weiter teilbare Energieeinheiten gibt – eben als Quanten bezeichnet. Wenn also der moderne Volksmund besonders wichtige Phänomene als »Quantensprung« bezeichnet, lächelt vermutlich der Physiker, denn für ihn stellen Quantensprünge eben die kleinstmöglichen Veränderungsschritte dar.

Doch wie dem auch sei, das eigentliche Faszinosum in der Quantenmechanik besteht darin, dass die Eigenschaften dieser kleinsten Teilchen grundsätzlich nicht mehr exakt bestimmbar sind. Denn es kann nur entweder der Ort oder der Impuls eines Teilchens genau gemessen werden, nicht aber beides zugleich. Will man beides messen und somit zu einer konsistenten Beschreibung des Verhaltens eines Teilchens gelangen, wird die Messung ungenau, »unscharf«. Es zeigt sich, dass die Messung selbst (also die Beobachtung) das Verhalten der Teilchen beeinflusst. Messe ich also den Impuls, so verändert sich der Ort des Teilchens, messe ich den Ort, so verändert sich der Impuls. Die Quantenphysik steht somit vor der Erkenntnis, dass sie anstelle von subatomaren Gesetzmäßigkeiten bloß noch von Wahrscheinlichkeiten sprechen kann.

Schlussendlich stellt die Quantentheorie zudem fest, dass das Verhalten kleinster Teilchen gar nicht erst als kausal dargestellt werden kann – also nicht als strenge Koppelung von Ursache und Wirkung –, sondern dass hier letztlich unvorhersehbare Wahrscheinlichkeitsphänomene vorliegen, die sich erst wieder über die große Zahl an Ereignissen zu stabilen Mustern hochsummieren. Ebendiese Erkenntnis aber war es, die den Mitbegründer der Quantentheorie, Albert Einstein, wiederum zu seiner berühmten Aussage motivierte, dass »der Alte […] nicht würfelt«56. Damit hat sich Einstein jedoch offenbar geirrt. Die Unschärfe von Quantenereignissen zählt bis heute zum unhinterfragbaren Kernbestand moderner Physik.

Noch weiter übertroffen wird diese heisenbergsche Erkenntnis über die Unschärfe durch den dänischen Physiker Niels Bohr (1885–1962), dem »Sokrates unter den Physikern«57. Bohr fasste ebenfalls 1927 – und tatsächlich sogar am gleichen Ort wie Heisenberg – verschiedene physikalische Phänomene unter einem grundlegenden Prinzip zusammen, nämlich der Komplementarität. Inzwischen gilt die Komplementarität sogar im Vergleich zu Heisenbergs Unschärfe als die größere Entdeckung in der Physik.58

Bohrs Komplementarität steht für ein Paradoxon. In Anknüpfung an oben: Im Bereich der Quanten kann nicht mehr trennscharf unterschieden werden zwischen dem Verhalten der Beobachtungsobjekte und der Beobachtung selbst – das war bereits Gegenstand der heisenbergschen Erkenntnis. Darüber hinaus greift unsere klassische Kausalerklärung nicht mehr. Bohr bietet hier als »einen allgemeineren Gesichtspunkt« für das obsolete Kausalitätsprinzip eben die Komplementarität an:

»Die scheinbar miteinander unverträglichen Auskünfte über das Verhalten des Untersuchungsobjektes, die wir bei Benutzung verschiedener Messanordnungen bekommen, lassen sich nämlich offenbar nicht in gewöhnlicher Weise miteinander verbinden, sondern dürfen als komplementär bezeichnet werden.«59

Das prominenteste Beispiel für die Komplementarität besteht im Verhalten des Lichts: In ein und demselben Experiment lässt sich das Verhalten eines Lichtstrahls einmal als Welle und einmal als Teilchen beschreiben. Beide Beschreibungen schließen sich eigentlich wechselseitig aus, und doch sind beide physikalisch korrekt – ein Indiz dafür, dass die subatomare Welt nicht so ganz unseren Alltagsvorstellungen entspricht. Wobei die Frage noch offenbliebe, ob unser Alltag selbst unseren Vorstellungen entspricht …

Später finden sich übrigens ähnliche Gedanken bei Gregory Bateson. Bateson erklärt anhand einer ganzen Reihe von Beispielen (wenn auch ohne Bezug auf Bohr): »[…] zwei Beschreibungen sind besser als eine.«60 Doch damit ergreift er Bohrs Idee der Komplementarität noch nicht ganz (und ich weiß auch nicht, ob er sie kannte). Bohr ist nämlich durchaus fundamentaler: Er belegt, dass unterschiedliche Beschreibungen zuweilen sich zwar ausschließen, jedoch trotzdem gültig sind sowie darüber hinaus mit Notwendigkeit zwei Seiten desselben Phänomens darstellen – sie sind eben komplementär zueinander.

Diese Idee der Komplementarität könnte daher einen Schlüssel darstellen für all jene Bereiche, in denen verschiedene wissenschaftliche Beschreibungsweisen miteinander konkurrieren. Dann würde man aber weniger nach der »besseren« Erklärungsweise suchen, als insbesondere versuchen, der Komplexität eines Gegenstands durch eine Beobachtung aus verschiedenen Blickwinkeln heraus gerecht zu werden. Welch ein Fest für Systemiker!

Bohr verbrachte übrigens den größten Teil seines Lebens in Kopenhagen. Durch ihn ist Kopenhagen in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren zum weltweit wichtigsten Begegnungsort für all jene Physiker geworden, die sich mit quantentheoretischen Fragen befassten. Allerdings musste Bohr im Jahr 1943 die Flucht ergreifen, nachdem sich die Situation in dem von den Nazis besetzten Dänemark weiter zugespitzt hatte. Gleich nach Kriegsende kehrte er jedoch wieder zurück.

Relativitätstheorie, Quantentheorie und Komplementarität: Die Umbrüche, die sich in diesen ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ereigneten, schufen nicht nur die Grundlage für die moderne Technik (von der Kernenergie bis zum Quantencomputer), sondern wirbelten darüber hinaus überkommene Denkmuster durcheinander; auch wenn es zuweilen erscheinen mag, dass so manche Wissenschaftsbereiche bis heute zumindest in dieser Hinsicht weiterhin im Denken des 19. Jahrhunderts behaftet erscheinen. Doch dazu später.

Mit diesen Umbrüchen in der Physik wird zudem endlich ein wissenschaftlich belastbarerer Boden für Systemik, Kybernetik und Konstruktivismus vorbereitet. Die Unschärferelation zeigt den notwendigen Einbezug des Beobachters in das beobachtete System–einen elementaren Aspekt auch des systemischen Denkens. Für Relativitätstheorie wie Quantentheorie gilt beiderseits, dass alle gemachten Aussagen überdies einen Beobachter voraussetzen, der als Teil einer »objektiven« Weltwahrnehmung mit eingebunden werden muss. Zudem wird aufgezeigt, dass alle Beobachtungen relativ zu Ort und Zeit der Beobachtung sind. Also: Beobachtung ist zwar möglich, und sie kann äußerst präzise sein, aber sie kann dennoch nicht als absolut gesetzt werden. Damit ist der klassische Wahrheitsbegriff, zumindest was Beobachtungen anbelangt, definitiv erledigt. Mit der Idee der Komplementarität wird zudem ein Erklärungsprinzip für all jene Bereiche entwickelt, wo sich mehrere Erklärungsweisen als passend erweisen.

Was ist das Ich? (Sigmund Freud vs. John Watson)

Für die Entwicklung der Psychologie ist es bis heute undenkbar, an Sigmund Freud (1856–1939), dem Begründer der Psychoanalyse, vorbeizugehen. Allerdings führt er in der modernen, empirisch fokussierten Psychologie mittlerweile eher ein randständiges Dasein. Zu Recht?

Geboren wurde Freud wurde im mährischen Freiberg. Er lebte jedoch von Kindesbeinen an in Wien, das er nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten spät und wohl gerade noch rechtzeitig im Jahre 1938 in Richtung London verließ. Vier seiner fünf Schwestern blieben zurück, und sie alle wurden später von den Nazis ermordet. Freud seinerseits lebte ebenfalls nicht mehr lange. Bereits ein Jahr nach seiner Emigration, gezeichnet von schwerem Krebs, bat er um Sterbehilfe von seinem Arzt.

Mit Freud gewinnt das, was bei Descartes noch ein unteilbares Ganzes war, nämlich der Geist, endlich weitere Tiefe. Für viele ist er nicht nur deshalb der »bedeutendste unter den Pionieren der Erforschung des Unbewussten«61. Freud selbst bezeichnete seine Entdeckung des Unterbewussten im Rückblick als eine der drei großen Kränkungen des menschlichen Bewusstseins durch wissenschaftliche Erkenntnis: Zunächst erfolgte die kosmologische Kränkung (die Erde ist nicht der Mittelpunkt der Welt); dann die biologische Kränkung (der Mensch ist aus der Tierreihe hervorgegangen); mit Freud ist er nun nicht einmal mehr »Herr in seinem eigenen Haus«62 (so wie sich das vielleicht Nietzsche noch erhoffte), sondern er erweist sich als beeinflusst durch unbewusste Vorgänge vielfältiger Gestalt.

Für Freud ist das menschliche Bewusstsein, das Ich, eingebunden in zwei grundverschiedene Abhängigkeitsverhältnisse: Das Es, d. h. das Unbewusste, wirkt in Gestalt von Trieben und Affekten, das Über-Ich bündelt in Gestalt des Gewissens die über Eltern und das soziale Umfeld erfahrenen Normen und Wertvorstellungen. Beide zusammen beeinflussen für Freud unser Bewusstsein und somit unsere Entscheidungen. In diesem Zusammenhang entwickelt Freud zudem eine Triebtheorie, welche die Rollen der Libido (also des Begehrens) und des Thanatos (also des Todestriebs) betont.

Von Triebtheorien dieser Art hat sich die moderne Wissenschaft zwar aus guten Gründen wieder verabschiedet. Wohl aber bleibt Freuds Erkenntnis unwidersprochen: Das Ich ist nicht alleiniger Herrscher im eigenen Haus, sondern ist in vielfacher Weise von anderen Faktoren beeinflusst. Damit eröffnet Freud eine systemische Perspektive auf den Menschen: Denn er erkennt das Ich als in einem immerhin einseitigen Abhängigkeitsverhältnis von Außenwelt und Innenleben eingebunden. Das ist im Übrigen mehr, als manche Verhaltenswissenschaften dem menschlichen Geist bis heute zubilligen.

An zumindest zeitgenössisch prominentester Stelle steht hierbei übrigens der sogenannte Behaviorismus. Auf diese der freudschen Theorie durchaus bereits zeitgenössisch konkurrierenden Theorie sei an dieser Stelle daher näher eingegangen. Mit dem Behaviorismus entsteht nämlich mehr oder minder zeitgleich mit der freudschen Psychoanalyse in den USA ein ganz anders geartetes und bis heute außerordentlich einflussreiches wissenschaftliches Unterfangen.

Das Gründungsdokument des Behaviorismus wird im Jahre 1913 von John B. Watson (1878–1958) verfasst. Darin formuliert er einen weitreichenden und sehr strikten Gegenentwurf zu den Ideen der freudschen Psychologie. Die damals entwickelten Ideen des Behaviorismus gehören im Übrigen bis heute zum Standardrepertoire diverser psychologischer Lehrbücher.

Watson stammte aus South Carolina, wirkte vor allem an der Universität Chicago, verlor seine Professur aber schon früh aufgrund einer Liebesaffäre und arbeite ab 1920 in der Werbepsychologie. Gestorben ist er in New York.

Was war nun genauer das wissenschaftliche Programm des Behaviorismus? Watson skizziert zunächst die sicherlich nicht schlechte Idee eines »vollkommen objektiven, experimentellen« Vorgehens mit dem Ziel der Vorhersage und Kontrolle von menschlichem Verhalten.63 Was also in der strengen experimentellen Physik gerade erst als komplett unmöglich erkannt wurde, sollte nun in der Psychologie tatsächlich funktionieren. Watson katapultiert uns wie in einer Zeitmaschine mindestens bis ins 19. Jahrhundert zurück.

Als besonderes Kennzeichen der Verhaltenstheorie Watsons gilt zudem, dass es ihn im Sinne »strenger Wissenschaft« gar nicht erst interessiert, wie es in einem Menschen »innen drin« aussehen mag. Klarerweise: Denn es ist nicht direkt beobachtbar. Im Gegensatz zu Freud ist also das »Ich« für ihn uninteressant: Es zählt nur das Verhalten.

Die eigentliche Krux seines Unternehmens besteht jedoch darin, dass Watson von einer nahezu beliebigen Modellierbarkeit menschlichen Verhaltens ausgeht. Und so behauptet er schließlich, dass er Kinder so trainieren bzw. »konditionieren« könne, dass er aus ihnen gleicherweise Ärzte wie Bettler oder Diebe machen könne.64 Einen experimentellen Nachweis für Aussagen wie diese erbrachte er jedoch nicht.

Watson hat vor allem mit Ratten experimentiert, sich dabei allerdings den Vorwurf eingehandelt, dass seine Theorie der psychischen Komplexität nicht einmal einer Ratte gerecht werde.65 Seine wenigen Experimente mit Kindern waren teilweise von schweren Kindesmisshandlungen begleitet: Bis heute berühmt-berüchtigt ist sein Experiment mit dem »kleinen Albert«. Der wurde im Alter von elf Monaten mit dem lauten Klang eines Hammers auf einer Eisenstange so lange »konditioniert«, bis er die erwünschte Angstreaktion vor eine Ratte zeigte.66 Was aus dem kleinen Albert später wurde, scheint trotz diverser Recherchen offenbar nicht ganz gesichert.67

 

Ich erzähle diese Geschichte an dieser Stelle insbesondere deshalb, um zu illustrieren, was passieren kann, wenn man für sich reine »Objektivität« oder eine sichere »Wahrheit« beansprucht: Dann nämlich spielen »in Kauf« zu nehmende Opfer zuweilen doch eine eher minder schwere Rolle. Wenigstens aus heutiger Perspektive fällt es zudem schwer, Watsons »Ergebnisse« als Resultat ethisch einwandfreier und methodisch sauberer (= »objektiver«) Forschung anzuerkennen.

Mit dem Behaviorismus entsteht dennoch ein prominenter Gegenspieler zu den Ideen, die Freud und andere entwickelten. Weiterentwickelt wurde der Behaviorismus später vor allem durch Burrhus Frederic Skinner (1904–1990). Auf den insbesondere durch Skinner entwickelten radikalen Behaviorismus wird noch näher eingegangen.

Interessant ist es womöglich, den Behaviorismus hinsichtlich eines ihm innewohnenden utopischen Programms zu hinterfragen.68 Dann nämlich liest man ihn als die Idee einer prinzipiellen Veränderungsfähigkeit eines jeglichen menschlichen Schicksals, und zwar egal, von welchen Ausgangsbedingungen es belastet sein mag. Es zählt also nicht die persönliche Herkunft oder gar ein gottgegebenes Schicksal, es zählt nur, was daraus gemacht wird (aber ironischerweise nicht, was man selber daraus macht, denn das »Ich« ist ja kein Teil der Theorie …). Dieser Traum könnte jedenfalls durchaus ein interessanter Traum sein. Wäre es nur so einfach.

In wissenschaftstheoretischer Hinsicht ist der Behaviorismus im Übrigen ein klares Beispiel für eine reduktionistische Theorie: Der Mensch wird komplett auf sein Verhalten reduziert und dieses wiederum komplett als umweltabhängig diagnostiziert. Nachdem sich der Behaviorismus zum Teil bis heute als diskursiv durchaus erfolgreich erwiesen hat, ist ihm jedenfalls ein prominenter Platz in der Galerie der Gegenentwürfe zu systemischen Denkansätzen sicher.

Vielleicht hilft diese Gegenüberstellung zudem, einige Unterschiede zu den systemisch-konstruktivistischen Ideen besser herauszuarbeiten und am Ende vielleicht sogar relevante Teilerkenntnisse aus den reduktionistischen Herangehensweisen systemisch zu integrieren.

Doch damit wieder zurück zu Freud. Die Ironie der Geschichte will es, dass Freud in genau demselben Jahr, in dem Watson den Behaviorismus postulierte (1913), über Zwangsneurosen nachgedacht hat. Und unter einer Zwangsneurose versteht Freud ziemlich genau das, was sich Watson wiederum als die Idealform einer wissenschaftlichen Beschreibung vorstellt: nämlich eine feste Verdrahtung von »Reiz« und »Reaktion«. Freud beobachtet für die Zwangsneurosen nämlich die »Unmotiviertheit der Gebote« sowie ihre »Befestigung durch eine innere Nötigung«.69 Man könnte meinen, er wäre direkt bei behavioristischen Experimenten zugegen gewesen, denn Watsons Programmatik sagt ja genau das aus: Irgendetwas wird durch lernerischen Zwang befestigt, sprich konditioniert. Hätte diese Art von Verhaltensprogrammierung den postulierten Erfolg, so wären wir bloße Automaten.

Freud selber dürfte insgesamt etwas ambivalenter zu beurteilen sein als bei dem hier vorgestellten Teilaspekt seiner Theorie. Was von ihm sicherlich bleibt, ist, dass er mit seinem Konzept des Ich einen inneren, psychischen Raum eröffnet, der so zuvor nicht in dieser Weise gesehen wurde. Auf seine Triebtheorie hingegen sowie auf andere Konzepte wie beispielsweise den Ödipuskomplex wird man heute für gewöhnlich kaum mehr Bezug nehmen. Trotz alledem würde ich Freud insbesondere aufgrund seiner unbestrittenen Verdienste um die Aufklärung des Bewusstseins einen Platz in der systemischen Ahnengalerie zuweisen.

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