Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens

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Früher Konstruktivismus I (Giambattista Vico)

Ernst von Glasersfeld, Begründer des radikalen Konstruktivismus, bezeichnet Giambattista Vico (1668–1774) als den ersten, der »unzweideutig behauptet hat, dass unser rationales Wissen von uns selbst konstruiert wird«31. Laut Vico werden wir durch unsere Erkenntnisfähigkeit zu den »Machern der Wahrheiten, die wir wissen, weil wir sie selbst zusammensetzen«32. In diesem Sinne kann Vico tatsächlich zumindest als moderner Ahnvater des Konstruktivismus gelten, obwohl sein Werk damals offenbar nur wenig Resonanz gefunden hat. Gelebt hat Vico im süditalienischen Neapel.

Als Vicos Hauptwerk gilt die Neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Darin formuliert er bereits eine teils sehr klare konstruktivistische Perspektive und folgt damit zumindest programmatisch einer Position, die wir zuvor bereits bei Protagoras kennengelernt haben. Schon zu Beginn seiner Argumentation erklärt er, dass sich der Mensch »selbst zur Richtschnur des Weltalls mache« und sich dementsprechend auch zu irren vermag. Des Weiteren argumentiert er, dass wir bisher Unbekanntes oftmals einfach anhand bereits »bekannter und gegenwärtiger Dinge« beurteilten33 und sich somit unser Erkennen dann weder aus großen Prinzipien ableitet noch aus intensiver Beobachtung, sondern einfach nur aus schneller, schlichter Assoziation. Hier zeigt sich ein früher Vorbote von Batesons Abduktion.34

Allerdings ist es bei Vico, ebenso wie bei einigen anderen in unserer Ahnengalerie so, dass er nur erste, zaghafte Ansätze eines systemischen bzw. konstruktivistischen Denkens entwickelt. Immerhin aber gehen konstruktivistische und systemische Ideen bereits bei ihm Hand in Hand: in Gestalt des Konstruktionscharakters der Welt sowie in Gestalt einer reflexiven Wendung auf den Beobachter selbst.

Eine dezidierte Durchdringung und Klärung beider Denkweisen bleibt jedoch dem 20. Jahrhundert vorbehalten und ist bis heute nicht abgeschlossen.

Früher Konstruktivismus II (Immanuel Kant)

Philosophisch fundierter wird all dies beim nächsten unserer Autoren: Immanuel Kant (1724–1804). Er ist zunächst einmal ein weiterer früher Vertreter in unserer konstruktivistischen Ahnengalerie. Kant verbrachte nahezu sein ganzes Leben im ostpreußischen Königsberg. Seine Kritik der reinen Vernunft gilt als »die Gründungsschrift der modernen Philosophie«*. Seine darin entwickelten erkenntnistheoretischen Einsichten haben in ihrem Kern bis heute Bestand. Darin betont er im Übrigen – ganz im Gegensatz zu Descartes – die fundamentale Bedeutung von sinnlicher Erfahrung.

In der Kritik der reinen Vernunft hält sich Kant gar nicht erst lang mit einleitendem Geplänkel auf. Schon sein erster Satz bringt eine zentrale philosophische Erkenntnis unmissverständlich auf den Punkt: »Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel«.35 Klarer kann man sich kaum gegen Positionen wie jener von Descartes positionieren. Erfahrung ist für Kant außerdem notwendigerweise abhängig von unseren Sinneswahrnehmungen. Sie wiederum sind jedoch beschränkt, sie bilden die Wirklichkeit nicht eins zu eins ab.

So etwas wie ein direkter Realismus, also die Annahme, dass die Welt genau so ist, wie wir sie wahrnehmen, erscheint in dieser Perspektive nicht nur als naiv, sondern sogar als obsolet. Denn wir haben nun einmal nur unsere Sinne, um die Welt wahrzunehmen. Fehlen sie uns, so fehlt uns eben auch die Wahrnehmung eines Teils der Welt. Und zumindest ein Argument von Descartes bleibt im Übrigen bestehen: Sinneswahrnehmungen können trügerisch sein. Umgekehrt, hätten wir noch weitere Sinne, beispielsweise für Radioaktivität, so würden wir über eine andere Wahrnehmung der Welt verfügen. Hätten wir uns dann jemals dem Wahnsinn hingegeben, derart mit dem radioaktiven Feuer zu spielen wie geschehen?

Ebenso wie Descartes sucht auch Kant nach einem festen Anker für seine Philosophie. Hierzu stellt er die Überlegung an, was das genauer sei, was nun jenseits unserer Sinne ist. Kant bezeichnet dies als das »Ding an sich«. Man mag sich darüber streiten, ob diese Bezeichnung passend sei oder nicht und was man nun überhaupt darüber sagen könne. Doch selbst, wenn wir zu einer exakten Erkenntnis unserer Welt gelangen könnten: Die nächsten Widrigkeiten lauern bereits. Die Kommunikation über unsere Wahrnehmung ist nämlich bereits wieder etwas anderes als die beschriebene Sache selbst. Wir bleiben hier unausweichlich in der Welt der Beschreibungen, und bei aller Skepsis gegenüber »Wahrheiten«: Diese Schwelle ist unüberwindbar und demnach vermutlich die zentrale Einsicht im konstruktivistischen Denken.*

Für Kant seinerseits war vor allem eines klar: Wir wissen deutlich weniger, als wir zu wissen vermeinen. War für Descartes beispielsweise die Existenz Gottes noch eine klare Sache, formuliert Kant eine deutlich kritischere Position: »Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.«36 Für »Gott« zeigte er im Folgenden zweierlei: Einerseits lässt sich seine Existenz nicht belegen, andererseits aber auch nicht widerlegen. Es handelt sich unüberwindbar um eine Sache des Glaubens. Insgesamt ist für Kant damit zweifellos ein Platz im Olymp der Konstruktivisten gesichert.

Nach Kant ist unser Weltwissen also abhängig von den von uns gemachten Erfahrungen. Schnell erreichen wir damit den Schluss, dass eine jegliche individuelle Weltvorstellung eine andere sein muss. Niemand macht dieselben Erfahrungen, nicht einmal eineiige Zwillinge. Kant geht dabei jedoch noch einen Schritt weiter: Erfahrung sei nicht nur einfach dass, was uns geschieht, sondern ein »Produkt der Sinne und des Verstandes«37. Wir machen uns unsere Erfahrungen also nicht ungefiltert zu eigen. Sie strömen nicht nur einfach so in uns herein, sondern sie sind ein Produkt unserer Sinne, und diese Sinneswahrnehmungen werden ihrerseits nochmals neuronal berechnet, was die moderne Hirnforschung 200 Jahre nach Kant auch empirisch bestätigt hat. Daher werden wir, so Kant, niemals eine abschließende Beschreibung selbst des einfachsten Dings unserer Außenwelt vornehmen können, nicht einmal für etwas so Einfaches wie einen Stuhl.38

Kants Denken erweist sich darüber hinaus auch in systemischer Hinsicht als relevant. In seinem kategorischen Imperativ formuliert er eine ähnliche Perspektivverschiebung, wie sie bei systemischen zirkulären39 Fragetechniken erfolgt: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.«40 Er fordert damit einen Perspektivwechsel ein: weg von dem eigenen Bedürfnishorizont und hin zu der mit anderen geteilten Welt.

Kant verzichtet damit auf direkte moralische Vorschriften, sondern appelliert stattdessen an unser Vermögen zur Reflexion. Ähnlich wie schon Sokrates will er keine Handlungsanweisungen für ein gutes Leben erteilen und fordert vielmehr zum Selberdenken auf.

Diese Strategie philosophischer Aufklärung gipfelt bei Kant in seiner berühmten kleinen Schrift zu der Frage »Was ist Aufklärung?«. Seine provokante These darin lautet: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.« Selbst verschuldet? Wie bitte? Ja, genau! Kant ergänzt diese Provokation mit der Aufforderung: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«41 … und lasse es sein, ständig neue Ausreden zu generieren, warum hier und jetzt und heute gerade keine Veränderung möglich sei.

Damit ist Immanuel Kant nicht nur ein prominenter Platz in unserer konstruktivistischen Ahnengalerie sicher, er darf wohl auch bereits den Systemikern mit zugerechnet werden.

Nicht alle Widersprüche lösen sich auf (Georg Wilhelm Friedrich Hegel)

Einen vielleicht noch größeren Schritt in Richtung auf ein systemisches Denken hin macht der knapp 50 Jahre später als Kant geborene Philosoph Friedrich Hegel (1770–1831). Lange und viel haben die Philosophen über »große« Fragestellungen wie Weisheit, Erkenntnis, Ästhetik und Ethik nachgedacht. Auf eine gewisse Spitze getrieben wurde dies durch Hegel, der als wichtigster Vertreter des Idealismus gilt.

Während Kant seinerseits zeit seines Lebens in Königsberg blieb, war Hegel deutlich mobiler. Geboren wurde er in Stuttgart, er lebte und lehrte in Jena, Bamberg, Nürnberg, Heidelberg und schließlich in Berlin. Beim Lesen seiner Phänomenologie des Geistes überraschte mich eines besonders, nämlich dass inmitten seines großen und teilweise nur schwer überhaupt verständlichen Entwurfs einer großen philosophischen Theorie mit einem Male der Mensch in einer ganz anderen Weise als zuvor beispielsweise bei Kant oder Descartes vorkommt, nämlich nicht als Erkennender, Handelnder oder Zweifelnder, sondern endlich auch in seinem gesellschaftlichen Miteinander.

Berühmt ist Hegels – für uns heute gewiss nicht mehr ganz zeitgemäße – Schilderung sozialer Verhältnisse in seiner Unterscheidung von Herr und Knecht. Hegel stellt dabei eine systemische Selbstverständlichkeit fest. Herr wie Knecht stehen nämlich zueinander in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. So benötigt der Herr den Knecht nicht nur, wie man zunächst meinen könnte, wegen dessen Arbeitsfähigkeit, sondern insbesondere zu seiner Anerkennung eben als Herr. Der Knecht wiederum erreicht durch seine Arbeit Herrschaft über die Natur, er ist der wahrhaft Schaffende und erlangt dadurch ebenfalls Anerkennung durch seinen Herrn. Hegel resümiert: »Sie anerkennen als gegenseitig sich anerkennend42 Ihre Beziehung ist somit reziprok. Beide benötigen sich, und zwar jenseits von bloßer Produktivität.

 

Bereits damit darf Hegel in unsere systemische Ahnengalerie aufgenommen werden. Sein Blick auf die sozialen Verhältnisse verzichtet hierbei auf moralische Fragen und insbesondere die Frage der Ausbeutung, welche Karl Marx später betonte. Hegel erkundet die Komplexität der Verhältnisse zwischen beiden Akteuren und ist offensichtlich bestrebt, ihre systemische Dynamik zu erkunden.

Jene Interaktionsmuster, die Hegel im frühen 19. Jahrhundert als Herrschaft und Knechtschaft charakterisiert, wurden später von dem systemischen Vordenker Gregory Bateson als komplementäre Verhaltensmuster bezeichnet.43 Auch Bateson betont ihre Wechselseitigkeit: Dominantes Verhalten kann Unterwerfung einfordern, umgekehrt können aber auch Unterwerfungsgesten zu Dominanzverhalten führen. Bateson ergänzt hierbei im Übrigen etwas, was Hegel zumindest an dieser Stelle noch fehlt, nämlich eine Reflexion auf symmetrische Beziehungsmuster, also unter gleich Starken.

Das Beziehungsmuster von Herr und Knecht ist bei Hegel wiederum nur ein Teil eines großen dialektischen Prozesses, und da dieser die eben vermisste symmetrische Komponente mit aufweist, verdient er noch eine etwas intensivere Betrachtung. Die Erkundung dialektischer Prozesse ist innerhalb von Hegels Philosophie ein zentrales Element.

Was aber ist unter Dialektik zu verstehen? Zunächst einmal handelt es sich bei ihr um die antike Kunst der Gesprächsführung – also ganz ähnlich wie bei Sokrates. Bei Hegel wird der Begriff weiterentwickelt und zu einem bestimmenden Moment seines Denkens. Bei ihm handelt es sich dabei um einen Prozess, dessen Dynamik sich immer weiter sich vorwärtstreibt, indem (so zumindest die Erwartung) Argument und Gegenargument bzw. »These« und »Antithese« zu einer Einsicht höherer Ordnung, zu einer »Synthese« führen. Dieser dynamische Prozess endet bei Hegel schließlich beim »Weltgeist«, einer allumfassenden Idee einer sich entfaltenden Vernunft.

Hegels Idee eines Weltgeists war für die Philosophen nach ihm Grund genug, seinen Entwurf als gescheitert zu erklären. An vorderster Stelle stand damals im Übrigen Karl Marx, dessen Materialismus allerdings Hegel mehr verdankte, als es zuweilen erscheinen mag. Für Marx betrieb Hegel jedenfalls ein bloßes Spiel mit Ideen, denen das materielle Fundament verloren gegangen sei. Für ihn stand Hegels Denken »auf dem Kopf«44. Mit der Hinwendung des Blicks auf die materiellen Verhältnisse – Hegels Knecht wurde dabei zum Proletarier, der Herr zum Bourgeois bzw. zum kapitalistischen Ausbeuter – versuchte Marx zugleich eine Wiederbelebung der Idee der Dialektik. Dies wiederum löste später seinerseits insbesondere im Sozialismus eine reichlich sonderbare Dynamik aus. Im verzweifelten Kampf darum, die soziale Wirklichkeit mit dem Ideenleben der marxschen Theorie in Einklang zu bringen, erzeugten sozialistische Gedankengebäude immer fantasiereichere Wirklichkeits-Wegerklärungen, bis dann schließlich George Orwell in der Farm der Tiere mit Blick auf die Sowjetunion ironisierend feststellte: »Alle Tiere sind gleich. Aber manche sind gleicher als die anderen.«

Trotz all der Schwierigkeiten von immer weiter sich nach oben schraubenden Syntheseketten lohnt sich ein vertiefter Blick in die Dialektik von Hegel. Zunächst, weil sie eine grundsätzlich wertschätzende Wahrnehmung von Aussagen beinhaltet: Zwar werden in einer Synthese die zuvorigen Thesen reflektiert und integriert, zugleich aber werden sie bewahrt und »aufgehoben«, d. h. weiterhin als kontextuell gültig anerkannt, wenn auch in ein höheres Ganzes integriert.45 Des Weiteren macht sich Hegels Dialektik immerhin die Mühe, zwischen widersprüchlichen Aussagen zu vermitteln, was bis heute nicht unbedingt für alle selbstverständlich zu sein scheint. An dieser Stelle kommt im Übrigen auch Marx nicht wirklich weiter: Anstelle der Herrschaft des Kapitals fordert er die Herrschaft des Proletariats. An der Idee einer einseitigen Herrschaft wird nicht wirklich gerüttelt.

Für Hegel wiederum ist das Recht weder auf der einen noch auf der anderen Seite, es ist dazwischen oder, besser noch: darüber. Hegel eröffnet zumindest die Hoffnung, dass auf einer höheren Ebene der Reflexion neue Einsichten möglich werden.

Um von diesen philosophischen Höhenflügen wieder zurückzukehren: Ich denke, dass wir heute diese Prozesse sicherlich etwas anders interpretieren würden. So erwarten wir nicht mehr mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie noch Hegel, dass sich widersprechende Argumente auf höherer Stufe einfach aufheben und neu zusammenfügen lassen. Ganz im Gegenteil, es spricht einiges dafür, dass es heute eher als Tugend anzusehen ist, Widersprüche erst einmal zu ertragen und als solche zu akzeptieren und nicht sogleich auf eine heilbringende »Aufhebung« oder gar Auflösung im Sinne einer »höheren Wahrheit« zu spekulieren oder wahlweise die Ideen bis hin zum Leben der anderen auszulöschen.

Insbesondere im Kontext von Therapie und Beratung dürfte dies sowieso das Mittel der Wahl sein: Die unterschiedlichen Weisen der Welterzeugung sind erst einmal in eben ihrer Unterschiedlichkeit wahrzunehmen und zu verstehen. Es liegt in der Verantwortung des Einzelnen selbst, was er denkt und diese Verantwortung ist ernst zu nehmen. Fragen dieser Art werden später insbesondere von Heinz von Foerster weiterverfolgt.

In diesem Sinne entspräche jedenfalls Hegels Erwartung einer alles vermittelnden Synthese letztlich einer Art »Alles-wird-gut«-Mentalität, welche heute, vor unserer komplexen Wirklichkeit, eher als utopisch-romantisierend, wenn nicht gar als naiv erscheint. Zumindest mir wäre es daher lieber, wenn wir (infolge von Hegels Dialektik) vermehrt versuchen würden, Spannungsverhältnisse zwischen unterschiedlichen Vorstellungen erst einmal auszuhalten und sich nicht gleich für das Bessere oder Einfachere oder was auch immer zu entscheiden. Denn gerade an dieser Stelle könnten systemisches ebenso wie dialektisches Denken durchaus in totalitäre Denkmuster einmünden. Dann haben wir wieder die eine Wahrheit – und das mit und nach Auschwitz.

Die andere Variante hierzu, nämlich sich jeglicher Form der Auseinandersetzung durch die alltagspraktische Lust auf Vereinfachung (»Die anderen sind schuld«, »Das ist doch gar nicht so«) zu entziehen, führt dabei auch nicht weiter, selbst wenn sie sich zuweilen sogar wissenschaftlich zu adeln versucht in Gestalt der Doktrin der Übervereinfachung bzw. des »Reduktionismus«.

Von Hegels Denken bleibt jedenfalls die Anerkennung sozialer Verhältnisse als zueinander unterschiedliche und sich wechselseitig bedingende. Im Kontext systemischer Denkansätze würden wir heute wohl eher versuchen, Unterschiede in Gestalt dynamischer Spannungsverhältnisse weiterzudenken, anstatt auf den großen versöhnenden Ausgleich zu hoffen. Hegel, als Wegbereiter der modernen Dialektik, hat damit jedenfalls einen verdienten Platz in unserer systemischen Ahnengalerie gewonnen. Im Rahmen der systemischen Therapie wurde er im Übrigen insbesondere duch Helm Stierlin ausführlicher rezipiert.46

Missklänge (Friedrich Nietzsche)

Dieser kurze Rundgang durch die Neuzeit endet mit Friedrich Nietzsche (1844–1900). Nach ihm beginnt – Zufall oder nicht – die Moderne. Geboren wurde Nietzsche etwa 70 Jahre nach Hegel, in Röcken in Sachsen-Anhalt. Er lehrte zunächst Philosophie in Basel, erkrankte dann aber psychisch schwer, litt unter Wahnvorstellungen und starb schließlich im Kreis seiner Familie in Weimar.

Eine der großen Ideen, die Nietzsche entwickelte, besteht in der »Umwertung aller Werte«. Gehört er damit ebenfalls zum Kreis der frühen Konstruktivisten? Auf den ersten Blick zumindest könnte man das meinen. Ein gewisser Differenzierungsschritt erscheint an dieser Stelle jedoch angebracht: Im Sinne einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie ist natürlich jeder Mensch – und somit jeder Denker – ein Konstruktivist, indem er denkt, handelt und Weltwahrnehmungen aufbaut. Für Konstruktivisten jedweder Richtung stellen Theorien jeglicher Art notwendigerweise einen Akt der Konstruktion dar. Sie sind damit weder »gottgegeben« noch »wahr« (selbst wenn sie das in Anspruch nehmen sollten), noch stellen sie ein exaktes Abbild der Natur (oder wovon auch immer) dar.

Die Frage wäre somit etwas genauer zu formulieren: Beinhaltet Nietzsches Denken Merkmale einer konstruktivistischen Grundhaltung? Dann aber fällt die Antwort etwas schwerer. Bei Nietzsche finden sich nämlich durchaus Anfänge eines konstruktivistischen Weltverständnisses, insbesondere wenn er althergebrachte Weisen der Wirklichkeitskonstruktion infrage stellt. Allerdings: Letztendlich beharrt und verharrt er trotz wiederholt großer Geste in einem reichlich konventionell anmutenden Anspruch eines »Besserwissens«. Im leider ironiefreien O-Ton von Nietzsche lautet dies beispielsweise so: »Warum ich so weise bin«.47

Mit seiner Idee einer »Umwertung aller Werte« betreibt Nietzsche jedoch zunächst einmal ein durchaus vielversprechendes Unternehmen. Eine Reflexion auf Werte und Wertvorstellungen, das macht natürlich neugierig. Doch was meint er genauer? Nietzsche setzt hierbei interessanterweise bei einem ganz ähnlichen Punkt ein, den wir schon bei Hegel kennengelernt haben, nämlich erneut beim Verhältnis von Herrn und Knecht. Nur heißt dies bei Nietzsche dann – und das durchaus programmatisch: Herr und Sklave.

Die von ihm dabei formulierte Erkenntnis ist zunächst einmal die folgende: Der Gegensatz von »gut« und »schlecht« habe ursprünglich gar keine moralische Bedeutung gehabt, sondern sei vielmehr Ausdruck davon gewesen, dass sich die Mächtigen bzw. die »Höhergestellten« als die »Guten« bezeichneten, während sie all die »Niedrigen, Niedriggesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften« als »schlecht« bezeichneten.48 So weit, so gut. Gegen diese herabwürdigende Setzung der Stärkeren hätten laut Nietzsche in der Folge die Schwachen eine besondere Waffe entwickelt, und sie bestand in der Erfindung der Moral. Die »Sklaven« stellten sich mit derlei heimtückischen Vorstellungen wie »schlechtes Gewissen« und »Schuld« gegen die Macht der Stärkeren und unterminieren in dieser Weise deren auf Macht und durch Gewalt fundamentierten Herrschaftsanspruch. Die Schwachen strebten somit danach, den Begriff des »Guten« neu zu besetzen. Für Nietzsche haben sich die Starken jedoch darüber hinwegzusetzen. Anstelle der Dialektik – die für Nietzsche ein Ausdruck des Verfalls, der décadence, darstellt – geraten wir hier in einen unversöhnlichen Kampf zwischen Stark und Schwach. Es geht um Leben und Tod, und es sind die Stärkeren, die hier den Krieg erklären.

Was aber versteht Nietzsche selbst in diesem Zusammenhang als »gut«? Gut sei »alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht«49. Die Schwachen hingegen mögen zugrunde gehen. Nietzsche wünscht sich die »Züchtung« eines neuen Menschen, und er wünscht sich für diesen ausdrücklich nicht »Zufriedenheit«, sondern »Macht«; nicht »Friede«, sondern »Krieg«; nicht »Tugend, sondern »Tüchtigkeit«. Nietzsche: Prophet oder gar Wegbereiter des Nationalsozialismus? Eine vielerorts wiederholt kontrovers diskutierte Frage.

Das bundesdeutsche Strafrecht spiegelt im Übrigen bis heute die während des Nationalsozialismus initiierte und durch Nietzsches Denken durchaus mit inspirierte Unterscheidung von Mord und Totschlag aus dem Jahre 1941: Es ist der körperlich Starke, der bei vollzogenem Totschlag bis heute weniger streng bestraft wird als der Schwache, der »heimtückisch«50 »mordet«.

Aus heutiger Perspektive ist Nietzsche mit seinem ausgesprochenen Antisemitismus sowie seinen Wendungen von »Herren-Rasse« und von »Ariern«51 bis hin zu seiner Begeisterung von »blonden Raubtiere«52 häufig nur schwer lesbar. Interessant bleibt jedoch der zunächst aufklärerisch anmutende Impuls: Woher kommen eigentlich unsere Vorstellungen von Gut und Schlecht – wenigstens bis hin zu jener Kippbewegung, die im Konzept des »Übermenschen« endet? Nietzsches Denken könnte durchaus lehrreich dafür sein, dass vielversprechend erscheinende Anfänge nicht unbedingt zu einem guten Ende führen müssen.

 

Damit ergibt sich ein weiterer Missklang in unserer kleinen Ahnenreihe: Die Dekonstruktion von Wertideen, wie Nietzsche sie entwickelt, könnte zunächst einmal eine wertvolle Facette in der Reflexion unserer Wertvorstellungen darstellen. Sie führt bei ihm jedoch zu einer autokratischen Vorstellungswelt, fernab jeglicher konstruktivistisch-reflexiver Anteile. Letztlich singt er bloß ein Lob der Stärke und bejubelt die Unterwerfung der Schwächeren durch die Stärkeren im Sinne von »Raubvogel« und »Lamm«.53 In diesem Zusammenhang steht auch seine Vorstellung des sogenannten »Übermenschen«.

Ironischerweise war Nietzsche selbst, der später psychisch schwer erkrankte, nahezu zeit seines Lebens kränklich gewesen. Es war der Schwache, der vom Starken träumte. Nietzsche steht mit seiner Philosophie am relativen Anfang und somit stellvertretend für eine ganze Reihe von Irritationen, die in der Folgezeit ausgelöst wurden.

Aus einer systemischen Perspektive liest sich Nietzsches Philosophie schlussendlich als entschiedener Gegenentwurf hierzu: Es geht um den Einzelnen gegen die anderen, die »Schwachen«. Es geht um Selbsterhöhung, nicht um Interaktion. Kooperation und wechselseitige Hilfe sind allenfalls ein Zeichen der Schwäche, wenn nicht gar der Heimtücke. Entwickelt Nietzsche damit wenigstens Ansätze einer konstruktivistischen Philosophie? Wohl eher nicht.

Damit endet dieser kurze Weg durch die Neuzeit. Nur fünf Autoren standen stellvertretend für viele. Sie stehen allerdings paradigmatisch für relevante, sich teilweise befruchtende, teilweise sich widersprechende Strömungen unserer Geistesgeschichte. Wenn man so will, so setzt sich hier nur jener Streit fort, der bereits in der Antike anhob: Was ist Wahrheit? Gibt es überhaupt Wahrheit? Was ist Erkenntnis? Es zeigt sich aber auch, dass konstruktivistische und systemische Denkweisen so langsam an Fahrt aufnehmen. Die Neuzeit bereitet zudem den intellektuellen Boden für eine grundlegende Revision wissenschaftlichen Denkens, die mit Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgt.

*Ryle, Der Begriff des Geistes, S. 13 ff. Besonders anschaulich beschreibt Gregory Bateson diese Form des Kategorienfehlers. Solche Denk- oder Sprechweisen entsprächen derjenigen, »die Speisekarte anstelle der Mahlzeit zu essen« (Ökologie des Geistes, S. 363).

*Soweit Manfred Geier, Eine Revolution der Denkart, in: Pörksen: Schlüsselwerke des Konstruktivismus, S. 31. Geier referiert hierbei nicht nur ausführlich Kant als Konstruktivisten, sondern reflektiert insbesondere dessen Verhältnis zu Vico. (Man beachte im Übrigen die teils divergierende »Ahnenreihe« in Pörksens Schlüsselwerken.)

*Hierzu später ausführlicher bei Gregory Batesons Theorie der Kommunikation.