Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens

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Aller Anfang ist leicht … oder etwa nicht?

Eine erste Brücke insbesondere zwischen dem systemischen Denken und dem Konstruktivismus könnte somit wie folgt geschlagen werden: Wir mögen uns zwar nicht immer sicher sein, wie Systeme genauer beschaffen sind, ob sie immer schon da waren, wie sie am besten zu beschreiben sind und dergleichen mehr. Alle unsere Aussagen über Systeme sind jedoch von genau den Beobachtungen und den Unterscheidungen abhängig, die wir gemacht und somit konstruiert haben. Es könnte auch anders sein (muss es aber nicht). Daher sind alle unsere Aussagen, die wir über Systeme machen, notwendigerweise Konstruktionen.

Des Weiteren wage ich die Vermutung, dass die wirklich interessanten Systeme die eher komplexeren sind; befürchte jedoch zugleich, dass gerade sie es sind, die am ehesten zu einfachen Beschreibungen verleiten. Ein kurzer Blick in die Tagespolitik mag genügen, dies zu illustrieren. Irgendein Staat tut etwas, das uns nicht gefällt, also ist er ein Schurkenstaat. Also darf er – so die zumindest zeitweilige Doktrin der USA – bombardiert werden. Gerade bei derartigen Simplizismen setzt systemisches Denken an, indem es vorhandene Komplexitäten zu begreifen versucht, ohne sich allzu viele theoretische Scheuklappen aufzusetzen.

Damit rückt eine weitere Frage in den Fokus: Denken wir denn tatsächlich auch systemisch? Nun, zumindest auf der neurobiologischen Ebene scheint hier alles klar. Neuronale Netze lassen sich nämlich kaum anders verstehen als eben systemisch. Aber wie verhält es sich mit unserem Bewusstsein? Und was macht es gegebenenfalls aus, wenn wir systemisch denken und so unsere Welt zu begreifen versuchen? Und was folgt aus der angenommenen Stärke systemischer Denkweisen, nämlich mehreres in einem zu denken? Ergänzen sich die verschiedenen entwickelten Perspektiven, oder erweist sich die Vielzahl an »systemischen« bzw. »systemtheoretischen« Ansätzen am Ende doch nur als unnötig kompliziert, als letztlich undurchschaubar oder gar als widersprüchlich? Fragen wie diese werden uns durch dieses Buch begleiten.

Ich versuche im Folgenden, eine Art kleiner Ahnengalerie des systemisch-konstruktivistischen Denkens vorzustellen. Dabei werde ich mir die Freiheit der Auswahl nehmen. Es werden jeweils bloße Aspekte aus deutlich größeren Gedankengebäuden genommen, und dies zuweilen sogar von Autorinnen und Autoren, die ansonsten nicht gerade als systemisch erachtet werden. Ich werde den referierten Personen und Ideen also nicht in dem Sinne »gerecht«, dass ich ihre jeweilige Gesamtaussage nachzuerzählen versuche oder aber ihrer typischen Interpretation nachfolge. Zudem werden so manche von ihnen, die andere als wichtig erachten mögen, bestenfalls gestreift, wenn nicht sogar ignoriert. Und da sich unser Denken immer wieder über das Treffen von Unterscheidungen vollzieht, werden zudem einige prominente gegenläufige intellektuelle Traditionen thematisiert – Autorinnen und Autoren, deren Gedanken in besonderer Weise quer zu dem stehen, was hier als systemisch verstanden wird.

2Ausflug in die Antike

Vorformen dessen, was wir heute als systemisch oder als konstruktivistisch bezeichnen, gibt es, seit wir Menschen über unser Dasein nachdenken. Und es gibt sie nicht nur in der kulturellen Wiege des europäischen Kulturkreises, im antiken Griechenland. Es gibt sie auch fernab, etwa in den asiatischen Kulturkreisen. Dieses Kapitel wird entsprechend unserer eigenen Geistesgeschichte zwar dennoch auf Griechenland fokussieren und dort eine Reihe von mehr oder weniger bekannten Denkern vorstellen: Xenophanes, Heraklit und Protagoras sowie natürlich Sokrates, Platon und Aristoteles. Aus dem außereuropäischen Kulturraum werde ich wenigstens auf zwei Denker näher eingehen, Siddhartha Gautama und Laozi.

Vom Erkennen (Xenophanes)

Es ist nicht viel, was wir von dem Denken der frühen antiken Philosophen wissen. Nur weniges wurde schriftlich festgehalten und hat die Zeiten überdauert. Etliche antike Texte sind verloren gegangen oder dringen allenfalls vermittelt durch andere zu uns, die ungleich später davon berichteten. Wir haben somit oftmals kaum mehr eine Chance, zu einer wirklich zuverlässigen Einschätzung einzelner antiker Denker vorzudringen. Wohl aber regt einiges zumindest zum Nachdenken an, und dies mag durchaus einen guten Einstieg darstellen.

Ein langes Leben ist offenbar nicht ausschließlich ein Ergebnis moderner Medizin. Der antike Philosoph Xenophanes soll steinalt geworden sein. Etwa 95 Jahre scheint er gelebt zu haben (ca. 570–475 v. Chr.). Geboren in Kolophon, an der Westküste der heutigen Türkei gelegen, soll er aus seiner Heimatstadt vertrieben worden sein und hat danach an verschiedenen Orten gelebt.

Xenophanes eröffnet eine Weise des Denkens, die wir heute zumindest einer Vorform des Konstruktivismus zuordnen würden. Denn er äußert sich reichlich skeptisch in Bezug auf unser Erkenntnisvermögen:

»Klares hat freilich kein Mensch gesehen, und es wird auch keinen geben, der es gesehen hat […]. Bei allen Dingen gibt es nur Annahme.« 4

Schon so früh werden also schon Zweifel geäußert an der Sicherheit unserer Sinneswahrnehmungen bzw. an dem, was unsere Erfahrungswelt angeht. Vermutlich würde ein moderner Konstruktivist einen Satz wie diesen gerne unterschreiben. Mit dieser Skepsis, was »Klares« anbelangt, und der Betonung dessen, dass wir nur von Annahmen ausgehen können, dürfte offensichtlich sein, dass es so etwas wie Wahrheit für Xenophanes demnach gar nicht erst geben kann, zumindest nicht, was unsere Erfahrungswelt anbelangt. Wer weiß, vielleicht war er es sogar, der das jahrtausendealte philosophische Ringen um das kleine, feine Wörtchen »Wahrheit« mit diesen knappen Worten eingeleitet hat? Jedenfalls eröffnet er einen Diskurs, der bis heute nachhallt.

Nun mag man sich vielleicht zunächst noch damit trösten, so strikt habe er dies doch gar nicht gemeint. Doch sehr deutlich ist eine weitere, in ihrem Kern sogar noch weiter gehende Feststellung, die Xenophanes in diesem Zusammenhang bezüglich unseres Urteilsvermögens macht:

»Denn sogar wenn es einem in außerordentlichem Maße gelungen wäre, Vollkommenes zu sagen, würde er [der Mensch] sich dessen trotzdem nicht bewusst sein.«5

Wir können somit zwar das Richtige sagen, aber nie so weit kommen, dies beweisen zu können. Es bleibt immer nur Annahme. Damit erweist sich Xenophanes als konsequent in seiner Skepsis. Am Ende mögen wir recht haben, wir werden es aber niemals wirklich wissen können. Wir können gar nicht genau wissen, was wir wirklich wissen.

Es mag anhand dieser winzigen Textschnipsel (und sehr viel mehr wissen wir leider nicht von Xenophanes) zwar zu weitgehend zu sein, Xenophanes als einen oder gar als den frühesten Konstruktivisten anzuerkennen. Zudem könnte man natürlich sagen, die alten Griechen haben es nun einmal einfach nicht besser gewusst. Doch Xenophanes formuliert Annahmen, welche immer wieder aufgegriffen, neu formuliert und diskutiert werden: so etwa rund 100 Jahre später bei Sokrates oder über 2000 Jahre später bei Immanuel Kant – und schließlich bis heute.

Unsere Spurensuche nach systemischen Ideen beginnt somit gar nicht mit einer klassisch »systemischen« Einsicht, sondern mit einem Vorbehalt bezüglich unseres Erkenntnisvermögens. Um dies kurz anhand des vorigen Beispiels mit dem Stuhl auszuführen: Wir können uns niemals wirklich sicher sein, dass der Stuhl, auf dem wir gestern gesessen haben, uns heute noch trägt. Es bleibt uns jedoch wohl trotzdem nichts anderes übrig, als daran zu glauben und insbesondere darauf zu vertrauen, wollen wir uns nicht völlig dem Zweifel und der Verzweiflung ausliefern. Es wird im weiteren Verlauf noch deutlicher werden, wie sehr sich systemische und konstruktivistische Annahmen miteinander verzahnen.

Vom bedingten Entstehen (Siddhartha Gautama)

Unsere Ideengeschichte bleibt bis heute weitgehend eurozentrisch. Deswegen sei ein wenigstens kursorischer Blick über die eigenen kulturhistorischen Grenzen hinweg gewagt. Nicht viel später als Xenophanes hat nämlich der welthistorisch ungleich bekanntere Siddhartha Gautama (ca. 563–483 v. Chr.), bekannt geworden vor allem unter dem Namen »Buddha«, gelebt.

Siddharta wurde in Lumbini, im heutigen Nepal nahe der Grenze zu Indien gelegen, geboren. Gestorben ist er in Kushinga, in Indien, nahe der Grenze zu Nepal. Mit 29 soll er das Haus seiner Eltern und seine Frau verlassen haben, um das Leben eines Asketen und Wanderers und später eines Weisheitslehrers zu führen. »Buddha« steht für den »Erwachten«.

An dieser Stelle seien meinerseits jedoch keine umfangreicheren Kenntnisse des buddhistischen Denkens beansprucht. Im Gegensatz zu den kleinen Textfragmenten, die wir von den frühen Griechen kennen, scheint von Siddhartha selbst gar nichts überliefert zu sein. Es gibt also nur Schriften, die über ihn bzw. in seinem Sinne entstanden sind.

Aus einer dieser Schriften, der Mahāvagga, dringt jedoch eine insbesondere in systemischer Sicht sehr eindrückliche Verknüpfung von Ideen durch. Es handelt sich hierbei um Buddhas zwölfgliedrige Kette des »bedingten Entstehens«, die »vorwärts und rückwärts« zu durchdenken sei:

»Es entsteht aufgrund von Unwissen Gestalten, aufgrund des Gestaltens Bewusstsein, aufgrund von Bewusstsein Körper und Geist, aufgrund von Körper und Geist die sechsfache (Sinnen-)Grundlage, aufgrund sechsfacher (Sinnen-)Grundlagen Berührungen, aufgrund von Berührungen Gefühl, aufgrund von Gefühl Verlangen, aufgrund von Verlangen Anhaften, aufgrund von Anhaften Werden, aufgrund von Werden Geburt, aufgrund von Geburt Alter, Tod, Kummer, Sorge, Leid, Trübsinn und Verzweiflung. Auf diese Weise entsteht die Gesamtheit von Unzulänglichkeiten. Durch völlige Aufgabe und Auflösung von Unwissenheit löst sich Gestalten auf, durch Auflösung …« 6

 

Diese zwölfgliedrige Kette folgt auf den ersten Blick vielleicht zwar nicht unbedingt unserem typischen kausal orientierten Verstehen und Verketten von derartigen Prozessen und Phänomenen; als eine bloße »Kette« verstanden wäre sie zudem natürlich kein Zeichen für ein frühes systemisches Denken. Aber es lohnt sich vielleicht, kurz innezuhalten und jenes »vorwärts und rückwärts« zu Denkende ernst zu nehmen. So führt ja Werden beispielsweise zu Geburt, aber genau umgekehrt wiederum Geburt zum Werden. Zudem entsteht Gefühl nicht nur durch Berührungen, sondern auch aufgrund von Verlangen – und dann vielleicht wiederum als Gefühl zu Berührungen.

Es lässt sich somit mit all diesen Kettengliedern hin und her spielen und sich hierbei vergegenwärtigen, wie sehr diese Glieder miteinander verbunden sind. Dies zumindest sollte Grund genug dafür sein, Siddharta in die Reihe systemischer Vor-Denker einzureihen.

Von der Einheit (Laozi)

Ein weiterer prominenter Vordenker entstammt dem chinesischen Kulturkreis. Von dem Philosophen Laozi* (auch: »Laotse«) sind zwar keine genaueren Lebensdaten bekannt, er soll jedoch ebenfalls im 6. Jahrhundert v. Chr. gelebt haben. Genaueres weiß man allerdings nicht. Vielleicht hat er sogar erst im 3. Jahrhundert gelebt. Nimmt man den früheren Termin, so können wir ihn uns jedenfalls als einen ungefähren Zeitgenossen von Xenophanes und Siddhartha Gautama Buddha vorstellen.

Gelebt haben soll Laozi in einem Landstrich, der heute zu der chinesischen Provinz Henan gehört. Laozi gilt als der Begründer des Taoismus. Und im Gegensatz zu Buddha ist immerhin eine Schrift überliefert, die ihm zugerechnet wird, das Daodejing – bzw. in anderer Schreibweise Tao-te-king.

Im Daodejing zeigt Laozi mithilfe verschiedenster Beispiele, ganz ähnlich wie Siddharta, die wechselseitige Bedingtheit von Phänomenen auf. Schon zu Beginn formuliert er:

»Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen,

so ist dadurch schon das Hässliche gesetzt.

Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen,

so ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt.

Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander« (Laotse 1978, S. 42).7

Damit nimmt er eine sichtbar relativistische Perspektive ein. Es gibt eine grundsätzliche Verbundenheit von eigentlich als komplementär erachteten Dingen. Es kann nicht einfach alles nur – so wie in manchen Kindheitsträumen vielleicht – gut und schön sein. Vielmehr sind dies jeweils notwendigerweise Gegensatzpaare. Nichts Schönes ohne das Hässliche, so einfach ist das.

Laozi formuliert darüber hinaus eine kritische und wiederum relativistische Feststellung, was das Wissen selbst anbelangt: »Die Nichtwissenheit wissen ist das Höchste« (ebd., S. 114). Ähnliches wird später Sokrates formulieren. Alles in allem offenbaren sich damit bei Laozi deutliche prä-konstruktivistische sowie systemische Gedanken.

Im europäisch geprägten Kulturraum sind Buddha und Laozi vor allem seit dem 19. Jahrhundert breiter rezipiert worden. In inhaltlicher Hinsicht unterscheiden sich ihre frühen Gedanken jedenfalls nicht sehr von dem, was zur gleichen Zeit auch in unserem Kulturkreis anzutreffen ist: An sehr unterschiedlichen Orten finden sich Spuren und frühe Einsichten in die systemisch-konstruktivistische Struktur unserer Welt. Damit nun wieder zurück zu den Griechen.

Vom Fließen (Heraklit)

Heraklit (ca. 520–460 v. Chr.) ist ein weiterer der frühen, vorsokratischen griechischen Philosophen. Von ihm werden eine Reihe von auf den ersten Blick reichlich merkwürdig anmutender Sprüche überliefert.

Berühmt geworden ist seine Behauptung: »Es ist unmöglich, zweimal in denselben Fluss hineinzusteigen.«8 Warum? Beim nächsten Mal ist der Fluss bereits ein anderer, es fließt anderes Wasser durch ein anderes Flussbett. Heraklit verdeutlicht damit, dass alles in Veränderung befindlich ist. Daraus aber, so könnten wir folgern, sind auch unsere Beobachtungen als zeitgebunden anzusehen und deshalb nicht als absolut zu setzen. Gelebt hat Heraklit in Ephesos, an der Westküste der heutigen Türkei gelegen.

Heraklit belässt es jedoch nicht bei dieser bloßen und vielleicht sogar etwas banalen Beobachtung, dass sich unsere Umwelt in stetiger Veränderung befindet. Sein Argument geht einen wesentlichen Schritt weiter: »In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind, und wir sind nicht.« Für Heraklit ist somit das Werden, die Veränderung, eine ganz zentrale philosophische Frage.

Ein menschliches Sein im Sinne eines fixen inneren Zustands ist in dieser Perspektive eine Fiktion. Wir selbst befinden uns ebenfalls in stetiger Veränderung, sind uns niemals gleich. Es ist nicht nur der Fluss, der sich ständig verändert, wir selbst verändern uns ebenfalls.

Heinz von Foerster hat diese Aussage später übrigens nochmals weiter verdichtet: »Man kann nicht einmal einmal in denselben Fluss steigen.«9 Denn schon das Hineinsteigen selbst benötigt Zeit. Aber mehr noch, das Hineinsteigen verändert seinerseits sowohl den Fluss als auch uns selbst. So verändert sich die Temperatur unserer Haut im Kontakt mit dem Wasser, ebenso wie das Wasser rund um unsere Haut sich ein wenig erwärmt; vielleicht werden unsere Füße nass. Aber nicht zuletzt verändert sich unsere Perspektive von »außerhalb des Flusses« auf »im Fluss«, und es vergeht Zeit: Erfahrungszeit, Lebenszeit.

Doch mit Beobachtungen wie diesen wären wir bereits inmitten dessen, was später durch von Foerster als »Kybernetik zweiter Ordnung« bezeichnet wird, und somit in Diskussionen, die erst rund 2500 Jahre später erfolgen … und mittendrin im systemischen Denken.

Das menschliche Maß (Protagoras)

Protagoras (ca. 490–411 v. Chr.), der letzte des hier vorgestellten Trios früher griechischer Philosophen, war bereits ein Zeitgenosse dessen, der uns heute als Inbegriff des Philosophen schlechthin gilt: Sokrates. Im Gegensatz zu Sokrates jedoch, dessen Lebensdaten man recht genau kennt, wissen wir von Protagoras einmal mehr nur ungefähr, wann er gelebt hat. Mit Protagoras rücken wir endlich zudem näher an den zentralen Ort der griechischen Philosophie: Athen. Geboren in Abdera, ganz im Nordosten des heutigen Griechenlands, soll er einen großen Teil seines Lebens in Athen verbracht haben.

Protagoras folgt zunächst Annahmen, die bereits Xenophanes entwickelt hat. Dann geht er jedoch ein wesentliches Stück weiter. Für Protagoras ist nämlich der Mensch das »Maß aller Dinge«.10 Was meint das? Auf einen ersten Blick könnte man meinen, Protagoras plädiert für eine entschieden anthropozentrische Weltsicht im Sinne dessen, dass eben wir im Mittelpunkt der Welt stünden und dass das von uns angelegte Maß somit für alles und jedes gültig sei, also ganz anders als das eher krude wirkende »Macht euch die Erde untertan!« der biblischen Schöpfungsgeschichte.

Aber ganz so einfach ist es bei Protagoras nicht. Weitere überlieferte Fragmente seines Denkens klären hierzu weiter auf. Er erweist sich hierbei nämlich als ein entschieden reflexiver Denker, was sich insbesondere in seinem Verständnis wiederum von der Idee der Wahrheit offenbart. Versuchte Xenophanes noch, »Wahrheit« auf bloße »Annahme« zu reduzieren, argumentiert Protagoras durchaus moderner, dass »Wahrheit Relationalität« sei. Damit aber entwickelt er eine bereits dezidiert systemische Perspektive: Die Vorstellung einer Wahrheit steht bei ihm in Relation zu einem Beobachter. Als Grund für diese Position führt Protagoras genau dies auch an: »[…] weil jedes Erscheinende oder Vermeinte auf jenen hin (dem es erscheint oder deucht) vorliege.«11

Das »menschliche Maß aller Dinge« beinhaltet bei Protagoras damit eben nicht die Vorstellung eines primär menschfokussierten Weltbildes, sondern betont die Relativität einer Aussage zu ihrem Sprecher. Damit wird dies alles eher zu einem Akt konstruktiver Verzweiflung anstelle dogmatischer Weltsicht: Uns bleibt schlichtweg nichts anderes übrig, als uns zum Maß aller Dinge zu nehmen. Aber damit haben wir am Ende gar nicht so viel gewonnen – außer eben der Erfahrung der Relationalität vom Menschen und seiner Um-Welt.

Bei Protagoras kommen damit jedenfalls – vielleicht zum ersten Mal in der griechisch-alteuropäischen Geistesgeschichte – elaboriertere konstruktivistische und relativistisch-systemische Denkweisen zusammen. Wahrheit ist relativ zum Beobachtenden und in dieser Weise nicht absolut. Das menschliche Maß aller Dinge steht somit für das Eingeständnis dessen, dass wir über die Grenzen unserer Reflexivität und Relativität nur schwer hinauszugelangen vermögen. Ob daraus ebenjene Beliebigkeit folgt, die all die befürchten, die um einen festen Wahrheitsbegriff bemüht sind? Das mag sich zeigen.

Auf der Suche nach der Weisheit (Sokrates und Platon)

Mit Sokrates (469–399 v. Chr.) erreicht die eurozentristische Philosophiegeschichte ihren ersten großen Höhepunkt. Er soll der Erste gewesen sein, der sich selbst als einen »Philosophen« bezeichnet hat. Ein Philosoph ist – aus dem Griechischen übersetzt – ein »Freund der Weisheit«. Mit dieser Selbstbezeichnung hatte sich Sokrates vor allem gegen andere Denker seiner Zeit abgesetzt, die er als bloße »Sophisten« schmähte. Diese nämlich würden Wissen in Anspruch nehmen, das ihnen gar nicht zukommen könne. Gelebt hat Sokrates in Athen, sein ganzes Leben lang.

Sokrates folgt zunächst den wahrheitskritischen Positionen, die vor ihm bereits Xenophanes und Protagoras entwickelt hatten. Er hatte sich offenbar jedoch unter anderem daran gestört, dass sich die »Sophisten« für die Vermittlung ihres Wissens bezahlen ließen. Sokrates’ Philosophie hingegen war gratis. Und seine Idee, dass ein Philosoph ein Freund der Weisheit sei, beinhaltet bereits eine weitere konstruktivistische Wendung, distanziert er sich damit doch von absoluten Wissensansprüchen.

Unser heutiges Wissen über Sokrates verdanken wir vor allem seinem berühmtesten Schüler: Platon (427–347 v. Chr.). Während Sokrates selbst nämlich kein einziges schriftliches Werk hinterlassen hat und sogar die schriftliche Niederlegung seines Denkens Platon verboten haben soll, hat Platon später dennoch damit begonnen, das Denken seines philosophischen Meisters in der Gestalt von Dialogen wiederzugeben. Die antike Philosophie von Sokrates begegnet uns somit vor allem in der Form des Gesprächs.

Dem Vernehmen nach hat Sokrates seinen eigentlichen Beruf – er war vermutlich Bildhauer – reichlich vernachlässigt. Stattdessen trieb er sich lieber auf den öffentlichen Plätzen Athens umher und verwickelte andere ins Gespräch. Dabei konfrontierte er sie insbesondere mit ihrem je eigenen Denken.

Dieses sokratische Gespräch speist sich durch zwei Elemente: zum einen durch die gemeinsame Suche nach Erkenntnis und nach Weisheit, zum anderen durch die Konfrontation seiner Gesprächspartner mit ihren eigenen Aussagen: Sind sie mit ihren eigenen Annahmen überhaupt konsistent, und wie verhalten sie sich zu einem auch von ihnen selbst behaupteten größeren Ganzen?

Sokrates hat diese Weise, wie er im Gespräch nach Erkenntnis sucht, als eine »Hebammenkunst« bezeichnet. In Platons Theaitetos erklärt er, diese seine Hebammenkunst helfe beim Gebären von Seelen.12 Seine Gesprächspartner seien gewissermaßen mit all dem Wissen bereits schwanger, das sie im Gespräch erst offenbarten.

Platon lässt etliche seiner Dialoge in einer »Aporie«, in einer Situation der scheinbaren Ratlosigkeit, enden. Denn schließlich sollten diese Dialoge zur Lehre des philosophischen Denkens dienen und nicht zur bloßen reinen Erbauung. Zum Selberdenken sollten sie anregen. Der Leser ist aufgefordert, seine eigenen Schlüsse zu ziehen und nicht bloß Wissen nachzubeten. Aufgrund dieser besonderen Weise des Fragens ist Sokrates als der »erste Systemiker des Abendlandes«13 bezeichnet worden.

 

Dieser stetige Aufruf, nicht nur zu denken, sondern auch zu reflektieren und damit scheinbar Selbstverständliches zu hinterfragen, ist schon in Athen nicht nur auf Begeisterung gestoßen. Sokrates wurde mit dem Vorwurf vor Gericht gestellt, dass er mit seinen Reden die Jugend verderbe. In seiner Verteidigungsrede vor Gericht rechtfertigt er seine philosophische Haltung des berühmten Wissens über sein Nichtwissen:

»Ich dagegen weiß zwar auch nichts, glaube aber auch nicht, etwas zu wissen. Um diesen kleinen Unterschied bin ich also offenbar weiser, dass ich ebendas, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen vermeine.«14

Des Weiteren erklärt Sokrates:

»Offenbar finden sich dann eine Menge Leute, die zwar meinen, etwas zu wissen, in Wirklichkeit aber wenig oder nichts wissen.«15

Dieser Kampf, den Sokrates gegen überbordende Wissensansprüche führte, ist von uns heute vielleicht gar nicht so weit weg. Machtinteressen werden allerorten in Gestalt von »Wahrheits-«Aussagen umkodiert (mit dem unseligen Beispiel des US-Präsidenten Trump). Weiterhin werden fröhlich Wissensansprüche der verschiedensten Art geäußert, und teilweise scheint es sogar, je fantastischer und einfacher sie sind, desto besser. Oder aber – besonders schlau – es wird aus der scheinbaren Relativität von jeglichem Wissen dann zuerst eine scheinbare Beliebigkeit diagnostiziert, und dann werden doch wieder die eigenen, besonders bequemen oder (wahlweise) perfiden Wahrheiten verkündet.

Aber bei aller Relativität und bei allem Wissen übers Nichtwissen: Ich glaube, wir dürfen weiterhin davon ausgehen, dass es ausgesprochen dumme oder auch falsche Aussagen gibt. Und in Vorwegnahme späterer Gedanken: Der Verzicht auf den Begriff der Wahrheit führt nicht notwendig auch zur Aufgabe vom Falschen – es ist alles nur nicht ganz so einfach und so bequem, wie wir es vielleicht gerne hätten.

Rund 2400 Jahre nach Sokrates wird seine Perspektive radikalisiert. Heinz von Foerster erklärt in ebendieser intellektuellen Tradition: »Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners.«16 Warum? Zunächst einmal kurz und knapp: »Wer von Wahrheit spricht, macht den anderen direkt oder indirekt zu einem Lügner.«17 Für von Foerster kann die Inanspruchnahme von Wahrheit letztendlich zu katastrophalen Folgen bis hin zu Kriegen führen – so wie in der Menschheitsgeschichte bereits vielfach durchlitten. Aber was bleibt, wenn man auf die Inanspruchnahme von Wahrheit verzichtet? Dann erst zeigt sich die eigentliche, für von Foerster »fundamentale« Relation: Vertrauen18.

Alles in allem erweist sich die Suche nach Wahrheit, Erkenntnis und verlässlichem Wissen als ausgesprochen schwierig. Der Philosoph Sokrates fordert eine fundamentale Einsicht in das notwendige Nichtwissen, der Kybernetiker von Foerster ächtet den Wahrheitsbegriff an sich. Sokrates scheint letztendlich an das Gute und insbesondere die Frage nach dem Guten geglaubt zu haben, von Foerster stellt ebenfalls die Ethik in den Mittelpunkt seines Denkens. Wird das genügen?

Aber was ist aus Sokrates letztendlich geworden? Die Athener haben ihn schließlich für schuldig erklärt, dass er tatsächlich die Jugend verdorben habe. Vor die Wahl gestellt, im Alter von rund 70 Jahren Athen zu verlassen und ins Exil zu gehen oder einen Schierlingsbecher zu leeren und damit sich selbst zu töten, wählte er das Letztere. Seine Philosophie hat jedoch bis heute überdauert. Mit ihm bleibt die Erkenntnis, dass es durchaus lebensgefährlich werden kann, frei zu denken und zu sprechen. Aufgrund der großen Bedeutung von Sokrates in unserer Geistesgeschichte darf er zudem den ersten Platz in unserer kleinen Ahnengalerie einnehmen – wobei sein großes Standbild umringt gedacht sein darf von den Standbildern von Xenophanes, Heraklit und Protagoras sowie Siddharta Gautama und Laozi.

Der Philosoph Platon selbst ist zwar einerseits unsere wichtigste Quelle, was das sokratische Denken anbelangt, andererseits steht er auch stellvertretend dafür, dass einige der hier referierten Autoren durchaus durch eine ganz anders geartete – antisystemische – Brille betrachtet werden können. Platon macht es uns hierbei besonders einfach, denn sein Denken in seinen früheren Schriften (vermutlich noch recht nahe an Sokrates orientiert) unterscheidet sich in doch recht hohem Maße von seinem späteren (im Bemühen um eine Staatsphilosophie).

Platon, der zweifellos berühmteste Schüler von Sokrates, entstammte einer eher wohlhabenden Familie. Er gründete zudem die erste Philosophenschule Griechenlands (oder gar weltweit?), die Akademie, und versuchte, wenn auch erfolglos, den tyrannischen Herrscher von Sizilien, Dionysios, zu einer umfassenden Staatsreform zu bewegen.

Insbesondere in seiner Schrift über den Staat offenbart Platon ein Wahrheitskonstrukt, das den klassischen sokratischen Vorstellungen komplett widerspricht. Suchte Sokrates noch nach dem Guten, Schönen und Wahren, so interessiert sich Platon hier vielmehr primär für den wohlgeordneten Staat. Und für die anderen Aspekte gilt es nun, sich diesem neuen höheren Prinzip unterzuordnen. Eigentlich möchte man meinen: willkommen in der Moderne!

Aus heutiger Perspektive entwickelt Platon jedenfalls Vorstellungen von einem idealen Staat, die für uns eher als von totalitärer Natur erscheinen. So stellt sich Platon zunächst einmal einen Staat vor, der streng hierarchisch zu gliedern sei. Unten stehen die Stände der Erwerbstätigen, darüber die der Wächter und wiederum darüber die der Herrscher. Zur Legitimation dieses Konstrukts bedient sich Platon der Lüge und stilisiert sie zur »edlen Täuschung«19: Dem Volk sollen irgendwelche Mythen erzählt werden, welche ihren jeweiligen Stand als notwendig etikettieren, damit sie sich in ihr Schicksal fügen. Platon stellt sich dabei beispielsweise vor, dazu müsse die Fortpflanzung reguliert werden, und zwar so, dass

»die besten Männer den besten Frauen möglichst oft beiwohnen müssen, dagegen die schlechtesten Männer den schlechtesten Frauen möglichst selten«20.

Doch wie soll das gehen? Platon schlägt vor, dass dies durch »geschickte Verlosungen« geschehen solle, d. h., die Herrscher (wer auch sonst!) bestimmen aus eugenischen Gründen, wer mit wem zusammenkommt, und manipulieren die Verlosung.

Damit verbiegt sich ein erstes Mal in der Philosophiegeschichte ein klassisch konstruktivistisches Argument: Aus der Erkenntnis, dass Wahrheit eine bloße Annahme sei (Xenophanes) bzw. relativ zum Beobachter (Protagoras) oder dass sogar eine grundsätzliche Haltung des reflexiven Nichtwissens (Sokrates) einzunehmen wäre, reklamiert Platon hier schlichtweg eine höhere Wahrheit für sich, der sich alle anderen unterzuordnen hätten. Dafür genügt ihm das vage Versprechen eines »idealen« Staats. Ideal für wen? Für die vielen, die als »schlecht« wahrgenommen werden? Es lohnt sich somit durchaus – siehe nochmals Heinz von Foerster –, sich in kritischer Hinsicht zu Wahrheitsanmaßungen zu verhalten.

Schlussendlich: Ist Ihnen schon einmal etwas aufgefallen? Nämlich: Warum wird Wahrheit gemeinhin für den eigenen Standpunkt beansprucht und nicht etwa für den eines anderen? Komisch eigentlich, oder? Ich hätte ja wenig Probleme, andere als stärker, geschickter oder klüger zu bezeichnen. Aber näher an der Wahrheit dran? Manche von uns tun dies, aber nur, weil sie ihr Gewissen und ihr Denken in die Hände eines Führers oder Gurus oder irgendeiner Gottesvorstellung legen wollen.

So verdanken wir Platon zwar, dass wir Sokrates einen prominenten Platz in unserer systemischen Ahnengalerie zusichern konnten – er selbst wird wohl eher draußen bleiben dürfen.