Der Junge, der mit Jimi Hendrix tanzte

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Appaz’ Mutter war stolz auf Appaz’ neues Hobby, sie selber war nach dem Krieg mehrmals auf der Wasserkuppe mit einem Segelflugzeug mitgeflogen und beschrieb Appaz begeistert das unglaubliche Gefühl, über den Wolken dahin zu gleiten. Unverzüglich versuchten sich Appaz und Kerschkamp denn auch zu Hause an einem Segelflugmodell, bei dem die Balsaholzgerippe der Tragflächen mit dünnem Papier bezogen und mit einem Speziallack behandelt wurden, wodurch sich eine zum Zerreißen straff gespannte Fläche bildete. Das Modell hieß laut Aufschrift auf dem Bausatz »Sonny« und stürzte bei einem ersten Testflug trudelnd in ein Dornengestrüpp, das die Bespannung unwiderruflich zerfetzte.

Aber zum ersten Mal schien auch Kerschkamps Vater irgendeinen Sinn in dem zu sehen, was sein Sohn in der Schule trieb. Das nächste Modell bauten Appaz und Kerschkamp dann unter seiner Anleitung - und tatsächlich war es deutlich flugtauglicher und ließ die Zuschauer auf der Wiese spontan Beifall klatschen, als es sich in eleganten Kurven mit dem Wind immer höher schraubte.

Noch stolzer aber war Appaz’ Mutter, als er aus dem Deutschunterricht eine Eins mit nach Hause brachte, für eine Kurzgeschichte, die sie bei Dr. Strotzeck geschrieben hatten. Auch Dr. Strotzeck war Oberstudienrat, für Deutsch und Religion. Er war so alt, dass er schon im Ersten Weltkrieg Soldat gewesen war, im Religionsunterricht aber erzählte er vor allem aus dem Zweiten Weltkrieg, den er ebenfalls mitgemacht hatte. Er ließ sie gerne teilhaben an der einen oder anderen Erfahrung »mit dem Russen«, der nach der Besetzung von Berlin zum ersten Mal ein Wasserklosett sah und keine Ahnung hatte, wofür es gedacht war. Weshalb er dann seine Kartoffeln in der Kloschüssel wusch und schließlich entgeistert feststellte, dass nach Betätigen der Spülung die Kartoffeln auf Nimmerwiedersehen verschwunden waren.

Über diese Geschichte konnten sie alle herzlich lachen, es war tatsächlich unglaublich, wie dumm der Russe war. Und nicht nur das, er war auch ein kleines Dreckschwein, »um seine Notdurft zu verrichten, benutzte er einfach den Keller«, wie Dr. Strotzeck zu berichten wusste.

Eigentlich war der Unterricht bei Dr. Strotzeck gar nicht so schlimm. Wenn sie ihn dazu kriegten, die immer gleichen Geschichten vom Krieg zu erzählen, hatten sie für die folgenden fünfundvierzig Minuten meist nichts zu befürchten. Sie hatten auch gehört, dass die älteren Schüler den Oberstudienrat fast liebevoll als »Opa Strotzeck« bezeichneten, trauten sich aber nur hinter vorgehaltener Hand, diesen Spitznamen selber zu benutzen. Denn als Andenken an den Krieg hatte Dr. Strotzeck nach einem Kopfschuss eine »Silberplatte im Gehirn« mitgebracht und neigte in größeren Abständen unvermittelt zu cholerischen Ausfällen, bei denen er wahllos einen vermeintlichen Störenfried aus der Reihe holte, mit sich überschlagender Stimme brüllte: »Du hast wohl Kopfschmerzen, du Schlingel!« und den wimmernden Schüler mit verdrehtem Ohr hinter sich her zum Schulleiter zerrte.

Vor dem Schulleiter zitterten sie alle, allein schon das Schild an seiner Tür, Oberstudiendirektor Dr. Siegfried, machte ohne jeden Zweifel klar, dass er weit über allen Lehrern stand. Und so wagte niemand, auch nur den Mund aufzumachen, wenn Dr. Siegfried sie barsch zum Säubern des Schulhofs verdonnerte oder, schlimmer noch, sie nach Schulschluss für eine zusätzliche Stunde zur Arbeit im Schulgarten abkommandierte, wo sie dann Unkraut jäten, die Wege harken und den modrigen Teich von Schlingpflanzen befreien mussten, während die anderen längst in die nachmittägliche Freiheit entlassen waren.

Aber von Opa Strotzecks gelegentlichen Wutanfällen abgesehen, mochte Appaz die Deutschstunden. Es waren vor allem die Geschichten, die sie bei ihm lasen und die Appaz ausnahmslos gut fand. Wolf-Dietrich Schnurres »Veitel und seine Gäste« oder Georg Brittings »Brudermord im Altwasser« eröffneten ihm eine neue Welt, die weit über seine bisherigen Lieblingslektüren »Fury« und »RinTinTin« hinausging. Dr. Strotzeck ermutigte sie auch zu eigenen Schreibversuchen, bei denen sie neue stilistische Mittel ausprobieren sollten. Und so entstand Appaz’ Kurzgeschichte »Der Sprung vom Zehner«, in der er seine Erfahrungen an einem von vielen im Freibad am Mittellandkanal verbrachten Sommernachmittagen verarbeitete, als er mit Kerschkamp und Klaus-Dieter voll ehrfürchtiger Bewunderung beobachtet hatte, wie Buchmann tatsächlich vom Zehner gesprungen war und gleich nach ihm Nurminski und sogar Nölle die Heldentat wiederholt hatten. Appaz traute sich kaum aufs Dreimeterbrett, Klaus-Dieter hielt sich schon beim Sprung vom Beckenrand, mit den Füßen voran, die Nase zu, Kerschkamp kletterte grundsätzlich nur über die Leiter ins Wasser. Und setzte auch seine getönte Brille nicht ab.

»Versucht, mit wenigen und einfachen Worten eine Geschichte aus eurem Alltag zu erzählen«, hatte Dr. Strotzeck sie aufgefordert, und nachdem Appaz erst mal einen Anfang gefunden hatte, reihte er in kurzer Zeit Satz an Satz und hatte Spaß daran zu sehen, wie seine Geschichte sich fast von selbst entwickelte. Aber dann war er doch unsicher, ob man das wirklich so schreiben konnte, wie er es getan hatte. Er las den Text seiner Mutter vor, während sie in der Küche das Abendessen vorbereitete.

»Gut«, sagte seine Mutter nur, und am folgenden Tag lieferte Appaz seine Geschichte bei Dr. Strotzeck ab, obwohl Klaus-Dieter ihm nach einem flüchtigen Blick auf die ersten Zeilen geraten hatte, sie bloß niemand zu zeigen, und schon gar nicht dem Deutschlehrer!

»Bist du doof?«, hatte Klaus-Dieter gesagt. »Das ist doch keine Geschichte! Was soll das überhaupt?«

Klaus-Dieter hatte eine Geschichte über einen Besuch bei seinen Verwandten in der Ostzone geschrieben, die Appaz nicht schlecht fand, nur vielleicht ein bisschen an den Haaren herbeigezogen, vor allem die Stelle, an der Klaus-Dieter den Verwandten seine neue Timex-Uhr zeigte, und Onkel und Tante nicht nur angeblich noch nie zuvor eine Uhr mit Leuchtziffern gesehen hatten, sondern auch noch erzählten, dass ihnen die eigenen Uhren von den Russen weggenommen worden waren.

»Hab ich extra so gemacht«, hatte Klaus-Dieter dazu erklärt, »du weißt doch, dass Opa Strotzeck was gegen die Russen hat, also muss er meine Geschichte gut finden, ist doch klar!«

Ganz abgesehen davon, dass Klaus-Dieter in Wirklichkeit gar keine Timex-Uhr hatte, war sich Appaz auch nicht sicher, ob sein Plan wirklich funktionieren würde. Aber vor der nächsten Deutschstunde wünschte er sich, dass auch er etwas geschrieben hätte, was gegen die Russen ging.

Und dann kam Dr. Strotzeck mit den korrigierten Aufsätzen in den Klassenraum und erklärte mit offenbar echter Enttäuschung: »Was ihr da verbrochen habt, ist durch die Bank Mist. Nur eine einzige Geschichte hat es verdient, dass sie überhaupt vorgelesen wird …«

Er zog die ersten Seiten von dem Stapel auf seinem Tisch.

Klaus-Dieter nahm die Fingerkuppen aus dem Mund und flüsterte Appaz zu: »Habe ich dir doch gesagt. Das fand der gut, dass ich die Russen schlecht gemacht habe!«

Dr. Strotzeck fing an zu lesen.

Appaz brauchte einen Moment, bis er begriff, dass es die Sätze waren, die er selber geschrieben hatte.

»Der Turm ist hoch. Die Leiter ist rot. Ich habe Angst. Der Bademeister beobachtet mich. Ich höre meine Freunde lachen. Ich gucke nicht nach unten. Ich bin alleine. Ich klettere weiter. Ich hasse die rote Leiter …«

Erst kicherten noch ein paar seiner Mitschüler. Aber als der Ich-Erzähler in Appaz’ Geschichte dann auf dem Zehn-Meter-Brett stand, herrschte atemlose Stille. Und auch als er nicht sprang, sondern über die Leiter wieder nach unten kletterte, lachte niemand.

»Der Turm ist immer noch hoch«, las Dr. Strotzeck die letzten Sätze. »Die Leiter ist immer noch rot. - Sehr gut, Kurt. Schreib weiter!«

Dr. Strotzeck gab ihm seinen Aufsatz zurück. Appaz’ Kopf glühte. Nicht nur, dass seine Geschichte wider Erwarten für »sehr gut« befunden worden war, es war auch das erste Mal, dass ein Lehrer am Gottfried-Wilhelm-Gymnasium ihn mit Vornamen angeredet hatte! Und es machte ihm auch kaum etwas aus, dass Nölle in der Pause zischte: »Streber!« Oder dass Klaus-Dieter sich mit seiner Kakaotüte beleidigt in die hinterste Ecke des Pausenhofs verzog und nicht mehr mit ihm reden wollte.

»Mach dir nichts draus«, sagte Kerschkamp, der wie üblich neben ihm stand. »Die sind nur neidisch. Ich fand deine Geschichte gut. Ich finde nur, du hättest ruhig auch schreiben können, dass da im Nichtschwimmer vom Lister Bad echt fiese Kackwürste rumschwimmen. Das hätte gut gepasst, wenn du das noch geschrieben hättest.«

Appaz’ Hochstimmung hielt nicht an. Schon am nächsten Tag kassierte er eine Ohrfeige von Biologielehrer Gnuschke, weil er die Rampe zum Fahrradkeller hinuntergefahren war und sein Rad nicht, wie es die Schulordnung verlangte, geschoben hatte. Und damit war alles wieder beim Alten. Jeder Schultag war geprägt von der Angst, irgendetwas falsch zu machen, unbeabsichtigt gegen eines der zahllosen Ordnungsgebote zu verstoßen oder auch nur durch »unpassendes Verhalten« wie zu lautes Lachen, zu schnelles Rennen oder zu freches Gucken die Aufmerksamkeit eines Lehrers auf sich zu ziehen: »Ihr seid nicht hier, um Spaß zu haben, sondern um etwas für euer zukünftiges Leben zu lernen«, stellte Dr. Siegfried anlässlich der Weihnachtsfeier in der Aula noch einmal unmissverständlich klar. Wobei sie nicht so recht wussten, was genau das nun war, was sie da für ihre Zukunft lernen sollten. Vielleicht hatte Kerschkamp recht, als er morgens in der Straßenbahn zu Appaz sagte: »Die wollen nur, dass wir keine Scheiß-Hippies werden. Davor haben die echt Angst!«

Zu Hause erzählte Appaz nichts von den diversen Strafmaßnahmen, denen er und die anderen ausgesetzt waren. Unbewusst ging er davon aus, dass seine Eltern, und insbesondere seine Mutter, die Ohrfeigen und Schläge zwar zweifellos empörend finden, es aber gleichzeitig doch niemals wagen würden, sich einzumischen und eine Konfrontation mit den Lehrern zu riskieren. Und irgendwie war sich Appaz auch nicht sicher, ob er nicht manchmal tatsächlich etwas machte, was man nun halt mal nicht tat. Womöglich waren die Lehrer tatsächlich im Recht, wenn sie solches Fehlverhalten mit Strafen belegten - wenn auch die Strafen häufig in keinem Verhältnis zu den Vergehen standen und Appaz sie oft ungerecht fand.

 

Aber seine Mutter würde wahrscheinlich nur sagen: »Du musst da durch« und einmal mehr darauf hinweisen, dass es nie gut sei, aufzufallen und »aus der Reihe zu tanzen«. Dieses Grundprinzip hatte sie sich zu eigen gemacht, nachdem sie als ehemalige BDM-Führerin mit aller Konsequenz hatte lernen müssen, dass das, was sie über Jahre für gut und erstrebenswert gehalten hatte, mit einem Male nichtig und falsch gewesen sein sollte.

Bei Appaz’ Vater war es anders, ihm ging es vor allem darum, gegenüber den Nachbarn und Arbeitskollegen nicht aufzufallen, um bloß beim freitäglichen Kegeln keine hämischen Kommentare zu ernten. Die er im Übrigen selber gelegentlich von sich gab. Appaz sollte sich noch lange daran erinnern, wie seine Eltern ihn eines Nachmittags aufgeregt auf den Balkon riefen, um dann in einträchtigem Entsetzen den ältesten Sohn eines Nachbarn zu beobachten, wie er am Straßenrand mit einem Freund seine BMW Isetta reparierte.

»Furchtbar«, stellte Appaz’ Vater fest und zündete sich eine neue Lord Extra an, »so läuft man doch nicht rum!«

»Was muss das vor allem für seine Eltern bedeuten?«, fügte Appaz’ Mutter kopfschüttelnd hinzu und legte schützend den Arm um Appaz. »Guck dir das an, Kurt! Das wird aus jemand, der die Schule nicht zu Ende macht!«

Der Nachbarssohn hatte tatsächlich die Schule abgebrochen. Und seine Eltern wurden jetzt »nicht mehr fertig« mit ihm, wie Appaz’ Vater erzählte. Nicht nur, dass der Junge eine ausgefranste Jeans und ein bunt bedrucktes Batikhemd trug, sondern er lief auch barfuß und hatte Haare, die ihm weit über den Rücken fielen.

»Wie ein Mädchen«, sagte Appaz’ Vater. »Schlimm!«

Später erfuhr Appaz, dass dieser erste Hippie ihrer Siedlung mit dem Freund und der Isetta über Nacht verschwunden war und nie wieder auf tauchte. Von dem Freund - ebenfalls ein Nachbarssohn, aber zumindest mit adrettem Haarschnitt und vernünftigem Schuhwerk - erhielten die Eltern Wochen danach eine Postkarte aus Südfrankreich. Ihr Sohn hatte in Hannover ein Mädchen geschwängert und sich deshalb freiwillig zur Fremdenlegion gemeldet. Er bat seine Eltern, ihn nicht zu suchen. Von dem Hippie hörte nie wieder jemand ein Wort. Sein kleiner Bruder, der in die Oberstufe des Gottfried-Wilhelm-Gymnasiums ging, brachte sich kurz vor dem Abitur um.

»Das musste ja so kommen«, war der einzige Kommentar von Appaz’ Vater, der zunehmend Schwierigkeiten hatte mit einer Welt, die offensichtlich alle bislang gültigen Werte und Normen auf den Kopf stellte.

»Das musste ja so kommen«, war dann auch sein Kommentar, als kurz hintereinander Martin Luther King ermordet und Rudi Dutschke angeschossen wurden. Und auch die Studentenunruhen in Berlin und Paris, die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den »Krawallmachern« und die daraus resultierende Verabschiedung der Notstandsgesetze durch Bundeskanzler Kiesinger folgten nach Meinung von Appaz’ Vater nur zwangsläufig einer vorhersehbaren Entwicklung. Worum es eigentlich ging, wurde nicht besprochen, weder zu Hause noch in der Schule, und blieb für Appaz nahezu vollständig im Dunkeln.

Da sie, wie die meisten von Appaz’ Mitschülern, noch keinen Fernsehapparat hatten, waren die einzigen Informationen, die er aufschnappen konnte, die Fotos und Schlagzeilen aus der Tageszeitung. Und da erschien es ihm allemal interessanter, die Meldungen über die erste Herzverpflanzung des südafrikanischen Arztes Barnard zu verfolgen, und jeden Tag zu zählen, den der Patient überlebte. Diese medizinische Pioniertat begeisterte auch Appaz’ Mutter, sie war vor allem weit weg von jeder Politik, aus der man sich besser raushielt.

Die Kuba-Krise war ebenso wenig vergessen wie der Einsatz der Rosinenbomber in Berlin, und die Angst vor dem, was die Sowjetunion der freien Welt noch alles antun könnte, reichte vollkommen, um jetzt auch die Warnungen vor allen umstürzlerischen Ideen ernst zu nehmen - der Einmarsch russischer Panzer in Prag bestätigte das erneut, und auch die Fotos der nackten Mitglieder der Kommune 1 passten in dieses Bild. Das verbindende Glied war die »rote Gefahr«, die hinter allem lauerte, auch Langhans und Teufel waren natürlich »von drüben« bezahlt.

Appaz’ Eltern schickten also weiterhin regelmäßig Kukident und Kaffeepulver in die Ostzone, stellten Weihnachten zum Gedenken an die Brüder und Schwestern im Osten eine Kerze ins Wohnzimmerfenster und hofften im Übrigen, dass der Sohn noch möglichst lange damit beschäftigt wäre, Fotos von Autorennfahrern in seinem Zimmer aufzuhängen. Was Appaz auch begeistert tat. Und als Jim Clark, Bruce McLaren, Gerhard Mitter und Jochen Rindt kurz nacheinander tödlich verunglückten, malte er schweren Herzens hinter jeden Namen ein Kreuz und das Todesdatum.

Abends saß er manchmal mit seinem Vater auf dem Sofa neben dem großen Philips-Radio, über den eingebauten Plattenspieler hörten sie einträchtig die Werbe-Single von Esso, die der Tankwart dem Vater als treuem Kunden überreicht hatte: Ralf Bendix sang »Pack den Tiger in den Tank«. Appaz konnte den Text von der ersten bis zur letzten Zeile auswendig hersagen: »Pack den Tiger in den Tank, und dein Auto weiß dir Dank, gleich wird seine Leistung steigen! Hei, wie läuft der Wagen zügig, wie geschmeidig ist die Kraft, die das gute Esso-Extra schon vom Start weg ihm verschafft …« Appaz’ Eltern waren glücklich, dass bei ihnen zu Hause alles so gut lief.

Und dann kam der Tag, an dem Appaz’ Vater unerwartet - und, hätte er darüber nachgedacht, wahrscheinlich auch zu seiner eigenen Verblüffung - selber zum revolutionären Kämpfer wurde. Die ÜSTRA, die städtischen Verkehrsbetriebe in Hannover, hatten zum wiederholten Mal die Fahrpreise erhöht, und jetzt sollte der Einzelfahrschein 80 Pfennig kosten. Umgehend blockierten Hunderte von Demonstranten in der Innenstadt die Straßenbahnschienen und skandierten ein vielstimmiges »Üstra, Üstra, Ungeheuer, erstens Scheiße, zweitens teuer!«

Appaz und Kerschkamp warteten an diesem Morgen vergeblich auf ihre Bahn und fuhren schließlich mit dem Fahrrad zur Schule, Appaz’ Mutter schrieb ihm eine Entschuldigung für die Verspätung. Nach Schulschluss wagten sie sich dann bis zum Klagesmarkt in der Innenstadt, und beobachteten aus sicherer Entfernung, wie die Polizei vergeblich versuchte, die Schienen zu räumen, bis ein Polizist auf seinem BMW-Motorrad sie noch nicht mal unfreundlich mit den Worten »Macht, dass ihr hier wegkommt, Jungs! Ihr habt hier nichts zu suchen«, wieder nach Hause schickte.

Zwei Tage später stellte die ÜSTRA endgültig ihren Betrieb ein, und der Oberstadtdirektor forderte Hannovers Bürger in einer Zeitungsanzeige vorsorglich auf: »Folgen Sie den Anordnungen der Polizei!« Gleichzeitig tauchten überall im Stadtgebiet handtellergroße rote Punkte auf, zunächst noch selbst gemalt, kurz darauf von den Tageszeitungen in hoher Auflage gedruckt und verteilt - Autofahrer klebten sich diese roten Punkte an die Windschutzscheiben und zeigten damit an, dass sie unentgeltlich Fahrgäste mitnehmen würden. Freiwillige Helfer organisierten den improvisierten Nahverkehr, wiesen Autos zu den Haltepunkten und riefen Fahrziele aus. Selbst Oberstudienrat Löffler hatte einen roten Punkt an seinem NSU, und Appaz war nicht wenig stolz darauf, dass auch sein eigener Vater sich offen zu dieser Selbsthilfeaktion von Bürgern bekannte, die nicht länger alles mit sich machen ließen. Wobei ihm durchaus auffiel, dass sein Vater ohnehin schon länger eine Fahrgemeinschaft mit vier seiner Kollegen gegründet hatte, und der Käfer somit trotz rotem Punkt im Fenster gar keine solidarischen Sitzplätze für autolose Mitfahrer mehr frei hatte.

Natürlich befestigten auch Appaz und Kerschkamp an ihren Fahrrädern rote Punkte, und Klaus-Dieter nahm tatsächlich einmal einen Schüler der benachbarten Mittelschule auf dem Gepäckträger mit. Der Fahrgast wackelte allerdings so hin und her, dass Klaus-Dieter im Stadtwald dann vom Radweg abkam und sie beide mitten in den Brennnesseln landeten.

Nach zwei Wochen beschloss der Rat der Stadt die Kommunalisierung der ÜSTRA und die Einführung eines Einheitstarifes von 50 Pfennig. Busse und Bahnen fuhren wieder - wer beim »roten Punkt« mitgemacht hatte, gehörte zu den Gewinnern, gemeinsam hatten sie ihr Ziel erreicht und die hannoverschen Verkehrsbetriebe in die Knie gezwungen! Und Appaz hatte zum ersten Mal eine Idee davon bekommen, dass gemeinsames Handeln tatsächlich Macht bedeutete …

Noch im gleichen Sommer landete der erste Mensch auf dem Mond, auch dies schien nur möglich geworden zu sein durch eine gemeinsame Kraftanstrengung, und Appaz’ Mutter wusste stolz zu berichten, dass aller Anfang des Raketenflugs Wernher von Braun zu verdanken war, einem Deutschen, der noch dazu in der Lüneburger Heide und damit gar nicht weit weg von Hannover seine ersten Triebwerke gezündet hatte.

Zur Mondlandung kaufte Appaz’ Vater dann auch den ersten Fernseher, Appaz durfte aufbleiben, bis Neil Armstrong seinen Fuß in den grauen Mondstaub setzte und von Knistern und Knattern bis zur nahezu vollkommenen Unverständlichkeit verzerrt verkündete: »Das ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Sprung für die Menschheit.«

In der Folge durfte Appaz dann gemeinsam mit seinen Eltern erst Kulenkampffs »Einer wird gewinnen« angucken, später auch »Aktenzeichen XY ungelöst«, noch später »Bonanza« und »Der Kommissar«. Und »Percy Stuart« schließlich avancierte zur absoluten Lieblingssendung der ganzen Familie, Appaz’ Eltern konnten herzlich über den typisch britischen Butler lachen, Appaz träumte davon, irgendwann selber mal eine weiße Schafspelz] acke wie die von Claus Wilcke zu besitzen. Kerschkamp war es, der Appaz den Tipp gab, unbedingt mal »Wünsch dir was« anzusehen: »Die Frau da ist toll«, schwärmte er Appaz vor, »die sieht total gut aus und ist echt witzig!« Bei Appaz’ Eltern allerdings stieß Vivi Bach auf wenig Gegenliebe, was zweifellos nicht nur mit ihrem gelispelten »sch« zu tun hatte.

Noch eine andere Frau sollte Appaz kurz nach der Mondlandung für eine ganze Weile beschäftigen. In Amerika war Sharon Täte ermordet worden. Nach den Zeitungsberichten war Täte in ihren Filmen immer äußerst »freizügig« gewesen, und der Mörder war, zumindest nach den abgebildeten Fotos, ein unrasierter, langhaariger »Hippie« - für Appaz’ Eltern passte beides nur zu gut zusammen. Aber Appaz empfand eine unklare Wut auf Charles Manson, der seiner Meinung nach die ganze Hippie-Bewegung, die Appaz - genauso wie Kerschkamp und die meisten anderen - gerade erst anfing, gut zu finden, in Verruf gebracht hatte.