Der Junge, der mit Jimi Hendrix tanzte

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Als wieder irgendwo ein Hund bellt, muss er grinsen. Wenn sie sich das nächste Mal sehen, wird er Kerschkamp von dem Mann mit dem Beil in Kopf erzählen. Dagegen ist die Geschichte mit der Gummipuppe gar nichts, das wird auch Kerschkamp zugeben müssen. Von Darleen wird er ihm nichts erzählen. Oder vielleicht doch, das macht die ganze Sache vielleicht glaubwürdiger. Quatsch. Gerade das wahrscheinlich nicht. Du bist immer noch betrunken, denkt er, und guck mal, da vorne ist die Fahrschule, wo Kerschkamp und ich den Führerschein gemacht haben, aber damals haben wir noch auf einem Käfer gelernt und nicht auf einem tiefergelegten Golf mit Regensensoren und solchen Sachen! Wie lange kennt er jetzt Kerschkamp eigentlich schon? Bestimmt fast vierzig Jahre, nein, sie sind ja schon in der Volksschule zusammengewesen, das macht über vierzig Jahre, mindestens.

So viel Zeit, denkt Appaz, aber wir sind immer noch befreundet, und das ist gut.


Zu Anfang mochte Appaz Kerschkamp nicht besonders. Kerschkamp war groß und dick und schwitzte stark, und außerdem war Appaz sich sicher, dass Kerschkamp ihm gleich in der ersten Woche seine Buntstifte geklaut hatte. Aber als er sich endlich traute und Kerschkamp zur Rede stellte, drohte der ihm eine Tracht Prügel an und lauerte ihm dann tatsächlich am nächsten Tag vor der Schule auf, um ihn mit wüsten Schimpfworten und gezielten Schlägen und Tritten bis in die Klasse zu verfolgen. Woraufhin Karin und Trixi Kerschkamp in der Pause vor aller Augen so verdroschen, dass er Appaz schon fast wieder leid tat.

Die Lehrerin hatte dann ausgerechnet die Idee, Ap-paz und Kerschkamp nebeneinander zu setzen, damit sie Freunde würden, wie sie hoffnungsvoll erklärte. Aber Appaz wollte gar nicht mit Kerschkamp befreundet sein. Und Kerschkamp teilte ihren gemeinsamen Tisch kurz entschlossen mit einem Kreidestrich genau in der Mitte und warnte Appaz: »Wenn du über die Linie kommst, gibt es Krieg.«

Damit war die Sache erst mal geklärt. Sie erneuerten jeden Tag den Kreidestrich und taten im Übrigen so, als wäre der andere gar nicht da.

Das hielten sie erstaunlich lange durch. Vor allem im Sportunterricht wandten sie alle möglichen Tricks an, um nur ja nicht in dieselbe Mannschaft zu kommen, und als Trixi sie unerwartet zusammen zu ihrem Geburtstag einlud, gingen sie beide nicht hin. Appaz und Kerschkamp waren unversöhnliche Feinde, so viel stand fest.

Ansonsten gefiel es Appaz in der Volksschule am Rehmer Feld eigentlich recht gut. Der Rektor begrüßte morgens am Eingang jeden Einzelnen von ihnen mit Namen, in Deutscher Schrift bekam Appaz eine Eins mit Sternchen und sein im Religionsunterricht gemaltes Bild von Abraham inmitten seiner Schafherde wurde in der Pausenhalle aufgehängt, mit einem Schild daneben, auf dem in ordentlichen Großbuchstaben für jeden zu lesen stand: Kurt Appaz.

Ihre Klassenlehrerin war eine »Hausfrauen-Lehrerin«, die aufgrund akuten Lehrermangels eingestellt worden war und jetzt die ihr anvertrauten Schüler in Lesen und Schreiben, Rechnen und Heimatkunde auf den Ernst des Lebens vorbereiten sollte - eine Aufgabe, der sie eher mit mütterlicher Indifferenz als mit Strenge nachkam. Appaz fand sie nett, vor allem wenn sie ihn wieder mal überschwänglich für das fehlerfreie Auf sagen der Gedichte von Hölty oder Hermann Löns lobte. Zu Weihnachten schenkte er ihr dann auch einen selbst gebastelten Strohstern. Und selbst die Musiklehrerin fand er nett, obwohl sie Appaz beim gemeinsamen Singen stets in die letzte Reihe stellte. Wo allerdings auch Kerschkamp jedes Mal landete. Und da in der letzten Reihe passierte es auch eines Tages, dass Appaz und Kerschkamp sich eher aus Versehen plötzlich zugrinsten und sich in der Folge dann darin zu überbieten versuchten, die Texte der meist einfachen Lieder durch Stegreifreime ein bisschen aufzuwerten. Zunächst nur leise und nur für sich, schließlich und zum nicht geringen Entsetzen der Musiklehrerin zunehmend auch so, dass die anderen in den Genuss der neuen Qualität kamen und der gemeinsame Gesang in haltlosem Gekicher endete.

Kurze Zeit später verzichteten Appaz und Kerschkamp auf die tägliche Erneuerung des Kreidestrichs. Stattdessen legten sie jetzt den Weg von der Schule grundsätzlich zusammen zurück, wenn einer von ihnen sich morgens verspätete, konnte er sich sicher sein, dass der andere auf ihn wartete. Und schließlich verabredeten sie sich auch, um nach der Schule oder am Wochenende irgendetwas zu unternehmen.

Kerschkamp kam aus der »Neuen Heimat«, einer Sozialbausiedlung, von der Appaz’ Eltern wussten, dass die Bewohner »aus den Ostgebieten« stammten und nach Kriegsende in den Baracken am Misburger Mühlenweg untergebracht gewesen waren, was den Umgang mit ihnen - so verstand es zumindest Appaz - nicht unbedingt wünschenswert machte. Zwar waren auch Appaz’ Eltern Flüchtlinge aus dem Osten, aber es schien da irgendeinen wesentlichen Unterschied zu geben, über den Appaz allerdings nicht weiter nachdachte.

Im Zusammenhang mit der Neuen Heimat hörte Appaz auch zum ersten Mal das Wort »Polacken«, ohne sich darunter etwas Konkreteres vorstellen zu können als Kerschkamps Vater, der jeden Samstag in einer alten Wehrmachts-Trainingshose und schon am Vormittag mit einer Flasche Bier in der Hand ein motorgetriebenes Modellflugzeug auf der Wiese vor den Feldern zu starten versuchte. Appaz hatte dieses Geschehen zunächst immer aus sicherer Entfernung von seinem Fahrrad aus beobachtet, bis Kerschkamp ihn dann herüberwinkte und sie das Flugzeug nach jedem Fehlstart abwechselnd zu Kerschkamps Vater zurückbrachten.

Appaz wusste, in welchem Haus Kerschkamp wohnte, doch in die Wohnung kam er nie. Wenn er klingelte, kam Kerschkamp grundsätzlich keine Minute später an die Haustür, war Kerschkamp nicht da, dann riss seine Mutter das Küchenfenster auf und schickte Appaz wieder weg. Umgekehrt war Kerschkamp häufig bei Appaz zu Hause. Appaz’ Mutter schmierte ihnen dann jedes Mal dicke Brotscheiben mit frischer Leberwurst und behandelte Kerschkamp wie jemand, der ihrer besonderen Fürsorge bedurfte. Kerschkamp schien das durchaus zu genießen, und Appaz und er verbrachten lange Nachmittage auf dem Fußboden im Flur damit, mit Appaz’ Sammlung von Siku- und Wiking-Autos zu spielen. Der Geruch nach frischgebohnerten Marley-Fliesen und Leberwurst war für Appaz eng verknüpft mit seiner Freundschaft zu Kerschkamp.

Ihr beider Traum war es, genug Geld zu haben, um sich die deutlich teureren und auf der Hinterachse gefederten Matchbox-Modelle leisten zu können, die sie manchmal durch die Schaufensterscheibe des Spielwarengeschäftes in der Podbielskistraße bewunderten. Was aber Kerschkamp und Appaz vor allem in ihrer Freundschaft bestärkte, war ihre unverrückbare Abneigung, gleichzeitig mit den verschieden großen Modellen von Siku und Viking zu spielen, entweder Siku oder Wiking, darin waren sie sich von Anfang an einig gewesen. Ansonsten war Kerschkamp jetzt derjenige, der Appaz zu solchen Sachen überredete, wie das Stoppelfeld anzuzünden und dann schnell wegzurennen, oder die tote Katze, die sie eines Morgens mit aus dem Bauch quellenden Eingeweiden mitten auf dem Weg gefunden hatten, am Schwanz hinter sich her bis zur Schule zu schleifen. Mit dem Ergebnis, dass sich erst Trixi übergab und dann Karin, und die Klassenlehrerin umgehend einen Brief an Kerschkamps und Appaz’ Eltern schrieb. Aber Kerschkamp und Appaz waren für die nächsten Tage die erklärten Helden der Klasse.

Kerschkamp war es auch, der aus der sicheren Höhe des Garagendachs einer Nachbarin von Appaz’ Eltern zurief: »Du hast doch ’ne Macke, Alte!«, eine weitere Heldentat, für die Appaz seinen Freund einen Moment lang aufrichtig bewunderte. Bis Kerschkamp bei der anschließenden Flucht vom Garagendach sein Glasauge verlor, von dessen Existenz Appaz bis dahin nichts geahnt hatte, wenn ihm auch Kerschkamps Blick manchmal merkwürdig starr vorgekommen war.

Das Glasauge war und blieb verschwunden, egal wie lange sie in dem Dreck hinter der Garagenmauer danach suchten, und Kerschkamp musste mit leerer Augenhöhle nach Hause. Am nächsten Tag kam er nicht zur Schule, aber nachmittags traf Appaz ihn vor dem A&O-Laden, da kam Kerschkamp gerade vom Arzt und präsentierte stolz ein neues Glasauge, das allerdings blau statt braun war. »Braun hatten sie gerade nicht«, erklärte Kerschkamp, und Appaz versuchte, Kerschkamp nicht allzu auffällig anzustarren, er sagte nur irgendetwas wie »Ist ja nicht so schlimm, merkt man kaum.«

Kurz darauf war das Schuljahr zu Ende, und die Klassenlehrerin gab bekannt, wer nach dem Sommer auf eine weiterführende Schule kommen würde. Kerschkamp war nicht dabei, obwohl sein Zeugnis nicht schlecht war und er in Rechnen sogar eine Eins bekommen hatte. Aber sein Vater, der bei VW im Transporter-Werk in Stöcken am Band arbeitete, fand, dass es vollkommen ausreichend war, wenn Kerschkamp die Volksschule abschloss, um dann eine Lehre bei VW anzufangen.

Appaz würde aufs Gottfried-Wilhelm-Gymnasium gehen, ein »mathematisch-naturwissenschaftliches und neusprachliches Gymnasium für Knaben«, wie es auf dem Anmeldeformular stand, das Appaz’ Mutter bereits stolz ausgefüllt hatte.

Karin und Trixi waren auf dem benachbarten Mädchen-Gymnasium angemeldet. Appaz wäre wenigstens gerne mit ihnen zusammengeblieben, wenn er schon auf Kerschkamp verzichten musste. Aber dann kam doch alles ganz anders, die Klassenlehrerin hatte es irgendwie noch geschafft, Kerschkamps Vater davon zu überzeugen, dass er seinem Sohn wenigstens die Chance geben sollte, es auf dem Gymnasium zu versuchen. Und Kerschkamps Vater hatte nach langen Hin und Her tatsächlich zugestimmt. Allerdings war es jetzt Kerschkamp, dem nicht ganz geheuer dabei war und der eindeutig Angst vor dem Gymnasium hatte, auch wenn Appaz ihm immer wieder sagte, dass es bestimmt gut werden würde. Was er aber vor allem tat, um sich selber Mut zu machen.

 

Aber erst mal waren ohnehin noch Sommerferien, und das größte Abenteuer dieses Sommers war ohne Frage der goldfarbene Mercedes 600 Pullmann, der eines Tages bei einem Bauern gegenüber von ihrer alten Schule auf dem Hof stand und den Appaz und Kerschkamp wiederholt ehrfürchtig bestaunten. Es hieß, dass der Bauer seine sumpfigen Wiesen, die nicht mal als Kuhweiden taugten, an die Stadt verkauft hatte, die dort ein Krankenhaus bauen wollte - und über Nacht zum Millionär geworden war. Aus Kerschkamps Autoquartett wussten sie, dass der Pullmann 250 PS hatte, 6,24 Meter lang war und 28 Liter Super schluckte, alles Werte, mit denen kein anderes Auto mithalten konnte. Nur bei den jährlichen Produktionszahlen von »ca. 30 Stück« konnte man ihn ohne Mühe stechen, der Käfer war da mit einer Million der absolute Spitzenreiter.

Appaz’ Vater besaß einen Käfer »Standard«, noch älter als der »Export« in Kerschkamps Autoquartett, grau und ohne eine einzige Chromleiste, und mit einem ovalen Rückfenster, aus dem Appaz bei der jährlichen Urlaubsfahrt in die Berge oder ans Meer den nachfolgenden Verkehr beobachtete. Appaz und Kerschkamp rechneten sich aus, wie viele Käfer man für die 63 500 Mark, die der Pullmann kostete, kriegen würde. Oder wie viele Motorroller von Heinkel. Kerschkamps Vater hatte einen solchen Heinkel-Roller, schneeweiß, mit zwei zusätzlichen verchromten Scheinwerfern an der Lenkstange. Einmal, als er noch klein genug war, um zwischen seine Eltern auf den Sitz zu passen, waren sie damit sogar bis zum Gardasee nach Italien gefahren, hatte Kerschkamp erzählt.

Zwei Tage vor Ferienende fuhr Appaz’ Mutter mit Appaz zum Gottfried-Wilhelm-Gymnasium, damit er sich mit dem Schulweg vertraut machen konnte, den er demnächst täglich würde zurücklegen müssen. Am Klingerplatz über die Ampelkreuzung, mit der Linie 7 oder 3 in Richtung Stadt, bis zur Haltestelle Hammersteinstraße. Die Sammelkarten für Schüler kosteten dreißig Pfennig, waren gelb und wurden von einem Schaffner oder vom Fahrer selbst abgestempelt, die Straßenbahn war beige mit dunkelrot abgesetzten Kanten, die geteilte Frontscheibe schon nicht mehr senkrecht, sondern aerodynamisch nach hinten geneigt. Wenn Leute einstiegen, die älter als man selber waren, hatte man grundsätzlich aufzustehen, das wusste Appaz bereits von den Einkaufsfahrten in die Innenstadt.

Manchmal waren auf der Linie 7 auch noch die alten Wagen mit den beidseitigen Holzbänken eingesetzt, bei denen der Schaffner mit einem kurzen Ruck an der Zugleine über den Sitzreihen das Klingelsignal zum Anhalten oder Weiterfahren gab. Appaz gefiel vor allem das rote »Zugluft-Schild« an der Schiebetür am Gangende: »Bitte vordere Wagentür nicht während der Fahrt öffnen«, die einzelnen Buchstaben des Wortes »Zugluft« waren jeweils nach links mit ausfransenden Pinselstrichen versehen, als könnten sie sich nur mit Mühe im Wind halten. Auf einem Emailleschild unter dem Fenster stand: »Bitte nicht in den Wagen spucken!«

Appaz fand es peinlich, dass seine Mutter, kaum dass sie auf ihren Plätzen saßen, einem wildfremden Mann erzählte, dass sie zum Gottfried-Wilhelm-Gymnasium fuhren, wo Appaz in Kürze in die 5. Klasse käme. Der Mann nickte freundlich in Appaz’ Richtung, bevor er sich zu Appaz’ Mutter beugte und ihr vertraulich - aber für Appaz deutlich hörbar - zuflüsterte, er sei mit seinem Sohn auf dem Weg zum Arzt. Er zeigte auf den jungen Mann neben sich, der so tat, als würde er nicht dazugehören. Er war vielleicht Anfang zwanzig, hatte blonde Haare, die ihm bis über die Augen fielen, und eine auffällig karierte Hose an. Und er veränderte immer wieder seine Sitzhaltung, als hätte er Schmerzen.

»Hodenbruch«, erklärte sein Vater.

»Oje«, sagte Appaz’ Mutter mitfühlend.

Appaz war froh, dass er an der nächsten Haltestelle aufstehen konnte, um einer älteren Frau seinen Platz anzubieten. Er hatte keine Ahnung, was genau ein Hodenbruch war, geschweige denn, wie man einen bekam.

Das Gottfried-Wilhelm-Gymnasium war in der Röntgenstraße, Appaz’ Mutter erklärte ihm, ein Wilhelm Conrad Röntgen habe 1895 die nach ihm benannten Strahlen entdeckt und dafür den Nobelpreis für Physik erhalten - falls man Appaz in der Schule danach fragen sollte. Für Appaz waren die Röntgenstrahlen ungefähr so schwer vorstellbar wie Hodenbrüche.

Gottfried Wilhelm war ein Philosoph gewesen, darüber hatten sie schon zu Hause gesprochen, und der blonde Typ mit der karierten Hose studierte Philosophie, wie sein Vater Appaz’ Mutter erzählt haben musste, während Appaz noch über die Sache mit dem Hodenbruch grübelte. Vielleicht würde Appaz ja später auch mal Philosophie studieren, meinte seine Mutter und legte ihm aufmunternd den Arm um die Schultern, bevor sie am Eingang zum Gymnasium wieder kehrtmachten und in einem kleinen Café mit vom Zigarettenqualm vergilbten Gardinen jeder ein Stück Käsekuchen aßen, der Appaz aber nicht so gut schmeckte wie der, den seine Mutter selber backte.

Auf dem Weg zurück zur Straßenbahn roch es nach frischem Spekulatius, zwei Straßen weiter war die Bahlsen-Keksfabrik. Eine Nachbarin arbeitete bei Bahlsen, sie hatte eine Einkaufskarte, mit der man für wenige Pfennige bei der Produktion beschädigte Kekse in großen, gelblich-weißen Papiertüten bekommen konnte. Diese Einkaufskarte machte reihum die Runde unter den Nachbarsfrauen, auch Appaz’ Mutter hatte schon mehrmals »Bruch« geholt. Am liebsten mochte Appaz die Bruchstücke von »Russisch Brot«, die er dann auf dem Küchentisch wieder zu vollständigen Buchstaben zusammenzusetzen versuchte.

Am Abend vor seinem ersten Schultag auf dem Gottfried-Wilhelm-Gymnasium klagte Appaz über Bauchweh, bis seine Mutter sich zu ihm setzte und ihm ein Kapitel aus Marie Hamsuns »Die Langerud-Kinder« vorlas. Die Geschichte spielte in Norwegen, wo Appaz’ Vater im Krieg gewesen war. Appaz’ Mutter erzählte, dass die Bauernhäuser in Norwegen in der gleichen dunkelroten Farbe gestrichen waren, die auch sein Vater für die Laube in ihrem Schrebergarten ausgewählt hatte. Appaz stellte sich vor, wie er und Kerschkamp mit Einar und Ola am Fluss hinter der dunkelroten Scheune spielten und zusammen die große Birke aus dem Wasser fischten, um genug Feuerholz für den Winter zu haben. Und er und Kerschkamp waren es dann auch, die Einar mutig vor dem Ertrinken retteten, während Ola nur dastand und vor Angst die Hosen voll hatte. Appaz fand Ola ziemlich blöd.

Am nächsten Morgen war Appaz fast schlecht vor Aufregung. Nur mit Mühe schaffte er es, seinen üblichen Brei aus Haferflocken und heißer Milch - mit einer in dicke Scheiben geschnittenen Banane - wenigstens zur Hälfte zu essen, dann half ihm seine Mutter in die Träger des neuen Schulranzens und brachte ihn bis zur Haltestelle. Kerschkamp stand schon da und hob kläglich grinsend die Hand, als er Appaz kommen sah. Er trug jetzt eine Brille mit schwarzem Gestell, hinter deren getönten Gläsern das Glasauge kaum noch als solches zu erkennen war.

Auf der Fahrt blieben sie dicht nebeneinander im Gang stehen, obwohl genug Sitzplätze frei waren. Eine Frau schimpfte über ihre Schulranzen, die den Weg versperren würden. An der Haltestelle des Mädchen-Gymnasiums sahen sie Karin und Trixi, die aus dem hinteren Wagen stiegen und kichernd Hand in Hand zum Zebrastreifen liefen.

»Die haben es gut«, sagte Kerschkamp unvermittelt. »Mädchen-Gymnasium ist bestimmt einfacher als bei uns.«

Appaz nickte.

Auf dem Weg zur Röntgenstraße überlegte er, wer von den anderen Schülern, die mit ihnen unterwegs waren, wohl in ihrer Klasse sein würde. Er war froh, dass Kerschkamp bei ihm war. Kerschkamp war so groß, dass man sie ganz bestimmt in Ruhe lassen würde, trotz der Brille, die mit Sicherheit Anlass zu hämischen Kommentaren geben würde. Dieser Gedanke musste auch Kerschkamp schon gekommen sein, kurz vor der Schule hielt er Appaz am Arm fest und erklärte: »Wenn einer was wegen meiner Brille sagt, haue ich ihm einfach eine. Der Brillenträger hat immer den ersten Schlag, das weißt du ja.«

In der Pausenhalle wurden sie von einem Mann mit einer schwarzen Hornbrille in Empfang genommen, die Kerschkamps Brille zum Verwechseln ähnlich sah. Sie mussten sich in Zweierreihen aufstellen, ein paar der älteren Schüler, die vorbeikamen, lachten sie aus und riefen: »Fünfte Klasse, Nuckelflasche!«

Von weitem sah Appaz eine Gruppe Oberstufenschüler, die Haare bis auf den Hemdkragen hatten. Einer trug eine Hose, die aussah wie eine vollgekleckste Malerhose, als Schultasche hatte er einen Lederbeutel mit langen Fransen über der Schulter.

»Hippies«, sagte Kerschkamp. Seine Stimme klang verächtlich.

Appaz wusste, dass Hippies so etwas waren wie die Gammler. Sein Vater hatte von den Gammlern erzählt, die auf dem Georgsplatz, wo er und seine Kollegen im Sommer ihre Mittagspausen verbrachten, die Bänke blockiert und für allgemeinen Unmut gesorgt hatten. Mehrmals waren sogar Angestellte der Stadt dagewesen und hatten den gesamten Platz mit scharf riechenden Desinfektionsmitteln eingesprüht, aber kaum waren die Bänke abgetrocknet, waren auch die Gammler zurückgekehrt. »Gammler lassen sich trotz Säuberungsaktion nicht vertreiben«, hatte in der Zeitung gestanden, und Bundeskanzler Ludwig Erhard hatte versprochen »Solange ich regiere, werde ich alles tun, um dieses Unwesen zu zerstören«. Appaz’ Mutter hatte erzählt, wie schnell man sich irgendwo »Läuse holen« konnte. Allein die Vorstellung, dass ihr Mann womöglich seinen Mittagskaffee auf einer zuvor von Gammlern besetzten Bank getrunken hatte, schien bei ihr nachhaltiges Entsetzen hervorzurufen.

»Guck mal«, sagte Kerschkamp plötzlich und rammte Appaz seinen Ellbogen in die Seite. Er zeigte auf ein Schwarzweiß-Foto, das als Vergrößerung an der Wand neben ihnen hing. Auf dem Foto war das Kollegium des Gottfried-Wilhelm-Gymnasiums abgebildet, eine Gruppe von älteren Herren in dunklen Anzügen, die, auf der Treppe vor dem Schulgebäude aufgereiht, starr und ohne ein Lächeln in die Kamera blickten, als müssten sie irgendeiner unklaren Bedrohung standhalten. Ganz vorne erkannte Appaz den Mann mit der schwarzen Hornbrille, offensichtlich der Schulleiter, links und rechts von ihm standen die beiden einzigen Frauen des Kollegiums, beide in grauen Kostümen mit weit über die Knie reichenden Röcken und nahezu identisch ondulierten Haaren.

Der Schulleiter hieß Dr. Siegfried, wie Appaz auf der Namensliste sah.

Hinter Dr. Siegfried her marschierten sie jetzt in die Aula und verteilten sich auf die Stuhlreihen, ihre Schulranzen stellten sie zwischen ihre Beine. Kerschkamp schwitzte stark, rechts von Appaz setzte sich ein Junge hin, dessen Fingernägel bis aufs Blut abgekaut waren.

Dr. Siegfried betrat das Podium, auf dem ein Rednerpult stand, links vor den Fenstern versammelte sich die Gruppe der Klassenlehrer, die sie bekommen würden. Auch eine der beiden Frauen war dabei und ein kleiner, dicker Lehrer, der über seinem Anzug einen weißen, bis zum Hals durchgeknöpften Kittel trug. Genau vor dem Bauch fehlte ein Knopf, und der Kittel klaffte weit auseinander.

Der Junge neben Appaz kicherte und schob seine Finger in den Mund.

Dr. Siegfried begrüßte sie. Sie seien jetzt auf einer Schule mit einer langen Tradition, er könne nur hoffen, dass sie dem Namen Gottfried Wilhelm alle Ehre machen würden, es läge jetzt an jedem Einzelnen von ihnen, was er mit den ihm gebotenen Chancen anfing. Und: Die Schüler des Gottfried-Wilhelm-Gymnasiums hätten es nicht nötig, arrogant zu sein, sie seien »privilegiert« allein durch die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der »Gottfried-Wilhelmer«, das sei gerade in Zeiten wie diesen wichtiger denn je, »wenn humanistische Werte und Bildungsideale plötzlich nichts mehr gelten sollen …«

»Was?«, fragte Kerschkamp laut, wurde aber sofort von der Lehrerin niedergezischt und suchte mit rotem Kopf Deckung hinter den Schultern seines Vordermannes.

Dr. Siegfried verlas nun eine Liste mit Namen, nach der sie in die einzelnen Klassen aufgeteilt wurden. Appaz und Kerschkamp kamen beide in die 5d, der Klassenlehrer war der Dicke mit dem weißen Kittel, er hieß Löffler. Oberstudienrat Löffler.

Auch Buchmann kam in ihre Klasse. Buchmann wohnte zwei Eingänge neben Appaz, sein Vater arbeitete in der gleichen Versicherung wie Appaz’ Vater. Sie waren auch im gleichen Kegelverein, der sich jeden Freitagabend im »Gasthaus zur Eiche« in der Silberstraße zusammenfand. Buchmann hatte Appaz mal im Winter mit einer Wäscheleine an einen Laternenpfahl gebunden und mit Schneebällen beworfen. Und Appaz hatte sich gerächt, indem er ihm - Wochen später - aufgelauert und ihn dann von hinten vom Fahrrad gestoßen und seinen Kopf in eine Pfütze gedrückt hatte, bevor er schnell weggelaufen war.

 

Jetzt nickte Buchmann ihm mit einem unsicheren Lächeln zu.

Appaz nickte zurück.

»Per aspera ad astra«, schloss Dr. Siegfried seine Begrüßung, »durch Mühen zu den Sternen, denkt immer daran, dass ihr hier für euer späteres Leben lernt, ich wünsche euch viel Erfolg für die vor euch liegende Schulzeit.«

Er schob seine Zettel zusammen. Im gleichen Augenblick meldete sich der Junge rechts neben Appaz, seine Hand mit den blutigen Fingerkuppen streckte sich zitternd nach oben und blieb auf halber Höhe unentschlossen hängen.

Dr. Siegfried guckte irritiert und erteilte mit einem Nicken die Erlaubnis zum Sprechen.

»Ich … mein Name …«, stotterte der Junge hilflos.

»Lauter«, forderte ihn Dr. Siegfried auf.

»Ich bin nicht drangekommen. Mein Name war nicht dabei.«

»Wie heißt du?«

»Klaus-Dieter …«

»Nachname!«

»Brennecke. Klaus-Dieter Brennecke.«

Dr. Siegfried überflog erneut die Namensliste.

»5d«,erklärte er mit einem Gesichtsausdruck, als wäre es die Schuld des Jungen, dass er ihn vergessen hatte.

»Dann bin ich bei euch«, flüsterte Klaus-Dieter und wirkte deutlich erleichtert.

Appaz versuchte, so was wie ein Grinsen zustandezubringen, obwohl ihm nicht nach Grinsen zumute war und er Klaus-Dieter mit seinen abgebissenen Fingernägeln auch nicht unbedingt mochte, geschweige denn zum Freund haben wollte.

Oberstudienrat Löffler trat vor und hielt die Hände wie einen Trichter vor seinen Mund: »Fünfte Dora, antreten!«, brüllte er über die Sitzreihen hinweg.

»Das sind wir«, sagte Kerschkamp.

Sie nahmen ihre Schulranzen und drängten sich aus der Reihe.

»Fünfte Dora, Abmarsch!«, brüllte Löffler, als sie vollzählig waren, und sie folgten ihm - wiederum in ordentlicher Zweierreihe - aus der Aula hinaus und quer über den Pausenhof. Appaz und Kerschkamp bildeten das Schlusslicht, Klaus-Dieter war ein Stück weiter vorn gelandet.

Unter dem einzigen Baum auf der geteerten Fläche stand ein Denkmal, ein einfacher Stein mit der Aufschrift: »Unseren Toten«. Davor lagen zwei Kränze, deren Blumen lange schon verwelkt waren.

Als sie den Seitenflügel betraten, in dem sich ihr Klassenraum befand, merkte Appaz, dass er seine Jacke in der Aula vergessen hatte. Ohne zu überlegen, scherte er aus der Reihe aus und rannte zurück, gerade noch, dass er Kerschkamp zurief: »Ich hab meine Jacke vergessen, bin gleich wieder da!« In der Pausenhalle kam ihm die nächste Klasse entgegen, sie wurde von der Lehrerin angeführt, die Appaz mit einem raschen Schritt zur Seite stoppte und ihm zwei schallende Ohrfeigen verpasste: »Hier wird nicht gerannt! Das Rennen ist im gesamten Schulgebäude verboten!«

»Aber …«, stotterte Appaz entgeistert und hielt sich die brennende Wange, »ich wollte doch nur … ich habe meine Jacke in der Aula vergessen, tut mir leid.«

»Merk es dir einfach«, sagte die Lehrerin, ohne auf Appaz’ Erklärung zu reagieren, »beim nächsten Mal schreibst du die Hausordnung ab und meldest dich beim Direktor!«

Appaz’ Jacke lag noch auf seinem Stuhl, aber natürlich kam er zu spät in die Klasse, alle anderen saßen schon. Oberstudienrat Löffler zeigte wortlos auf den freien Platz neben Klaus-Dieter. Gleich in der ersten Reihe ganz links außen. Die Sitzordnung folgte der alphabetischen Abfolge ihrer Namen, Appaz war der einzige Schüler, dessen Name mit A begann, nach Brennecke kam Buchmann.