Czytaj książkę: «Gänseblut», strona 3

Czcionka:

Stinus wirkte nachdenklich, als er sagte: »Als wir diesen Schatzsucher entlassen haben, ist der zu Fuß zurück zum Parkplatz. Dabei hat er mit den Presseleuten gesprochen.«

»Er hat die angesprochen, und dann sind alle gleichzeitig verschwunden«, fügte Swantje hinzu.

»So viel zu seinem Versprechen.« Jan presste die Lippen aufeinander und atmete tief durch. In Gedanken konnte er schon die Schlagzeilen sehen.

Tag 1 nach der Entdeckung des unbekannten Toten
in den Salzwiesen des Dollarts,
Stadt Weener, Redaktionsbüro des Rheiderlandkuriers

Der Rheiderlandkurier war am schnellsten. Im Redaktionsbüro las der Reporter Hilko Cordes noch einmal den Artikel, der morgen erscheinen würde. Überschrift: Sensation – Rheiderländer Ötzi gefunden! Der Artikel füllte eine ganze Seite. Es folgten Bilder der Leiche, Detailaufnahmen der Ausrüstung und vom Fundort. Sogar ein Video wurde in der digitalen Ausgabe der Zeitung angekündigt.

Die sachliche Pressenotiz der Polizei wurde nur kurz erwähnt.

Hilko Cordes sortierte noch einmal die Fotos. Der Schatzsucher hatte ihn am Deich angesprochen. Cordes hatte sich als Erster die Story gesichert. Kowalski wollte als Archäologe in der Zeitung erscheinen und hatte ihm außerdem den Artikel diktieren wollen. Das wäre ja noch schöner, wenn sich ein Rheiderländer unter Druck setzen lassen würde … Also blieb es beim »Schatzsucher« und auch den Artikel hatte Cordes selbst verfasst. Er wusste, dass dieser Fund in den Medien Wellen schlagen würde, zumal es keine anderen aktuellen Themen gab. Das hier war Stoff für mehrere Artikel in den Zeitungen, Berichte in den sozialen Netzwerken und den Fernsehnachrichten, zumindest dem NDR.

Seine Einschätzung sollte sich als zutreffend erweisen. Hilko Cordes konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass der Tote über Jahrzehnte still in seinem Grab gelegen und sein Geheimnis bewahrt hatte. Die Entdeckung und der Medienrummel setzten Ereignisse in Gang und die Büchse der Pandora war geöffnet worden.

Tag 2, vormittags,
Polizeidienstgebäude in der Stadt Leer,
Büro des Fachkommissariatsleiters Jan Broning

Jan Broning saß mit dem Rheiderlandkurier am Schreibtisch. Sie hatten Bilder der skelettierten Leiche, sogar mit Detailaufnahmen der Ausrüstung, abgedruckt. Das verrostete Gewehr, die Uniformknöpfe und das Koppelschloss … Seine Pressemeldung stand am Ende des Artikels.

Es klopfte. Sein Chef Renko Dirksen kam mit rotem Kopf ins Büro, ebenfalls mit dem Rheiderlandkurier in der Hand, und fuchtelte damit in der Luft herum. »Das hättet ihr verhindern müssen! Hast du eine Ahnung, was jetzt hier los ist?!«

»Anrufe, Medieninteresse, Presserummel …« Jan verkniff sich ein Grinsen. »Renko, setz dich doch erst einmal hin. Was hätten wir denn machen sollen mit unserem Schatzsucher? Maulkorb verpassen, nach Fotokameras durchsuchen und Bilder beschlagnahmen?«

»Klingt doch gut!«

»Renko, mit Smartphones kannst du sofort Fotos weiter­leiten. Das konnte er in Ruhe erledigen, lange bevor wir am Fundort waren.«

Dirksen atmete tief durch. »Und wie weit seid ihr mit unserem … Ötzi?«

Broning sah auf seine Notizen. »Im Moment gehen wir davon aus, dass es sich um einen Kriegsteilnehmer aus dem Zweiten Weltkrieg handelt. Dabei müssen wir aber vorsichtig sein.«

»Wieso? Der Fall ist doch klar. Das Gewehr ein Karabiner aus dem Krieg, da war sich unser Albert doch sicher. Der Wehrmachtsmantel mit Uniformknöpfen. Die Reste vom Gürtel mit dem Koppelschloss.«

»Ich weiß«, unterbrach Jan Broning seinen Chef. »Sogar mit der Aufschrift Gott mit uns. Alles ziemlich eindeutig, aber da sind noch einige Ungereimtheiten.«

Dirksen sah zur Zimmerdecke. »Jan, warum wird es bei dir immer so kompliziert?!« Er merkte, dass Broning ihn unterbrechen wollte, und hob abwehrend die Hände. »Ich weiß, du liegst oft richtig mit deiner Einschätzung oder deinem Bauchgefühl. Was stört dich denn an dieser schönen, einfachen und unkomplizierten Geschichte?«

»Erstens haben wir keine militärische Erkennungsmarke gefunden. Zweitens das Koppelschloss. Mir ist aufgefallen, dass da etwas nicht stimmt. Hier …« Broning reichte ihm zwei Fotos. »Das eine da ist das Original so eines Koppelschlosses. Die Überschrift Gott mit uns, der Adler in der Mitte und darunter das Hakenkreuz. Hier …«, Broning zeigte auf die Detailaufnahme vom Fundort, »fehlt das Hakenkreuz. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es damals ein Soldat gewagt hätte, das Symbol der Nazis zu entfernen.«

Renko Dirksen presste die Lippen kurz aufeinander. »Du könntest recht haben, aber können die Rechtsmediziner nicht zweifelsfrei feststellen, wie lange der Tote dort schon gelegen hat?«

»Die Überreste liegen bei dem Bestatter Erdmann. Für die Obduktion brauchen wir eine Anordnung von der Staatsanwaltschaft. Vorab habe ich schon mit dem Gerichtsmediziner Dr. Knoche gesprochen. Dort haben sie alle Hände voll zu tun. Er meldet sich noch bei mir wegen des genauen Termins für die Obduktion.«

»Okay, Jan, ich ruf bei Staatsanwalt Grohlich an.« Dirksen stand auf. »Halt mich auf dem Laufenden. Insbesondere unsere Pressestelle. Da wird heute der Teufel los sein.«

Broning nickte. »Mach ich, Renko. Stefan und ich fahren gleich noch mal zum Fundort der Leiche. Ich möchte die Anwohner befragen und vielleicht hat ja das Medieninteresse auch was Positives. Leute, die sich wieder an damals erinnern. An Ereignisse vom Krieg in dieser Gegend, oder an Ereignisse aus einer ganz anderen Richtung.«

Renko schüttelte leicht den Kopf und verließ das Büro.

Tag 2, vormittags,
Truppenübungsplatz in Süddeutschland

Sven Richter war ein letztes Mal zur Baracke des Übungsplatzes gegangen, um sich von seinem Nachfolger zu verabschieden. Er trug Zivil. Seine Uniform hatte er zusammen mit der anderen Dienstausrüstung bereits bei der Auskleidung abgegeben.

Sein Nachfolger musste kurz raus auf den Platz und nun saß Sven wieder alleine in der alten Baracke. Seine Stimmung war auf dem Nullpunkt. Er konnte sich noch gut an das Gefühl erinnern, als er das erste Mal hier alleine gewesen war. Ausgestoßen, abgeschoben und entsorgt wie menschlicher Abfall. Wie Robinson Crusoe war er hier langsam aber sicher vereinsamt.

Die Entlassungsuntersuchung vor vier Wochen hatte seine Dienstuntauglichkeit amtlich bestätigt. Befund: Diabetes und posttraumatische Belastungsstörung, abgekürzt PTBS. Die Zuckerkrankheit hatte er sich vermutlich bei diesen Pflichtimpfungen vor dem Afghanistaneinsatz zugezogen. Auch als Reservist kam er nun nicht mehr in Frage.

Sven Richter war ausgebildeter Feuerwerker beim Heer, deshalb hatte man ihn hierher abgeschoben. Er hatte bis zum Ende seiner Dienstzeit auf dem Gelände nach Blindgängern suchen und sie möglichst entschärfen sollen. Sven vermisste die Kameradschaft mit den anderen Soldaten schmerzlich. Heute war offiziell sein letzter Tag bei der Bundeswehr. Am Nachmittag war Schluss und er hatte sich von seinem Nachfolger auf dem Übungsplatz persönlich verabschieden wollen. Der teilte sein Schicksal, weil er ebenfalls unter PTBS litt. Diesen Übungsplatz verglich Sven verbittert mit dem Papierkorbsymbol auf dem Computer.

Sein Nachfolger war immer noch unterwegs. Sven schaltete aus Langeweile sein Smartphone ein und koppelte es mit seinem Tablet-Computer. Nun konnte er – wenn auch langsam – im Internet surfen. Auf seiner Lieblingsseite las er die neuesten Nachrichten. Heute sogar mit einer Schlagzeile aus seiner alten Heimat, dem Rheiderland: Sensation! Rheiderländer Ötzi gefunden.

Er vergaß fast zu atmen, als er sich die Bilder der Leiche ansah. Ein großer Kloß bildete sich in seinem Hals, als er die Detailaufnahmen der Ausrüstung betrachtete, das verrostete Gewehr, die Uniformknöpfe und das Koppelschloss. Konnte es sein …? Er vergrößerte die Aufnahme des Koppelschlosses und war wie elektrisiert.

Vor seinem geistigen Auge erschien sein Opa Trinus in dem alten Wehrmachtsmantel, unter dem er bei seinen speziellen Jagden den Karabiner versteckt hatte. Der Gürtel in Opas Hose hatte sich damals in Svens Augenhöhe befunden, wenn er vor ihm gestanden hatte. Der Schriftzug Gott mit uns und der Adler hatten ihn fasziniert. Sein kleiner Finger hatte oft über eine raue Stelle im Metall unter dem Adler gestrichen und Opa Trinus hatte das Interesse seines Enkels bemerkt. »Dieses Symbol unter dem Adler, das so vielen Menschen unendliches Leid gebracht hat, das habe ich abgefeilt. Damit wollte ich nicht mehr rumlaufen.«

Später hatte Sven verstanden, was er damit gemeint hatte. Aber sein Opa war damals spurlos verschwunden. Was hatte sein Vater mit bitterer Stimme gesagt? »Entweder ist er beim Wildern im Dollart ersoffen, oder die Jäger haben ihn erwischt.«

Danach war alles schnell gegangen. Sein Vater hatte sich den goldenen Schuss gesetzt, eine Überdosis. Svens Mutter hatte zu dieser Zeit schon in Süddeutschland bei ihrem neuen Freund gelebt. Sie war ins Rheiderland zurückgefahren, hatte sich um die Beerdigung gekümmert und ihren Sohn Sven mit nach Süddeutschland genommen.

Sven wusste sofort, wen man dort in den Salzwiesen vergraben hatte. Sein heiß geliebter Opa war verscharrt worden wie ein totes Tier. Svens Tränen tropften auf das Display des Tablets. Seit diesem Schicksalstag in Afghanistan hatte er nicht mehr geweint. Seine Schultern zuckten und er vergrub sein Gesicht in den Handflächen.

Wut verdrängte langsam seine Trauer. Svens Gesicht verhärtete sich. Der Wut folgte etwas Neues: der Wunsch nach Rache.

Sven war es gewohnt, seine Gefühle zu kontrollieren. Angst lässt die Hände zittern und lähmt den Verstand, das hatte er bei den Entschärfungsaktionen sehr schnell lernen müssen. Kälte breitete sich in ihm aus.

Er betrachtete noch einmal die Bilder. Schaute sich an, wie sein Opa mit dem Mantel über dem Gesicht abgedeckt worden war. Wer seinen Opa vergraben hatte, hatte dabei nicht ins Gesicht des Toten sehen wollen. Opa Trinus war entweder ertrunken oder ein Jäger hatte ihn erwischt. Sven wusste sofort, dass die zweite Möglichkeit die Zutreffende war.

Es konnte kein Zufall sein, dass er diesen Artikel gelesen hatte, und das ausgerechnet an seinem letzten Tag bei der Bundeswehr. Das Schicksal hatte seine Weichen gestellt.

Nun gut, es war sowieso Zeit für einen Tapetenwechsel. Zeit für einen Besuch bei den Jägern im Rheiderland. Es gab sogar einen Kontakt. Sein Kamerad Kuno Hortema war ihm noch einen großen Gefallen schuldig. Kunos Vater war Jäger im Rheiderland und hatte einen großen Bauernhof. Dort gab es bestimmt genug Arbeit für Sven. Bei diesem Gedanken presste er die Lippen fest zusammen. Arbeit für ihn … eine doppelsinnige Formulierung aus dem Unterbewusstsein.

»Opa«, flüsterte er, »ich erwisch das Schwein, kannst dich drauf verlassen.«

Tag 2, vormittags,
Gelände der Firma Lohnunternehmen Böltjer
im Rheiderland (Karte Nr. 10).

Jakobus Böltjer saß in dem schmuddeligen kleinen Büro und fluchte. Es war Saison zum Grasschneiden und diese Trottel von Angestellten hatten die Maschinen immer noch nicht fertig. Siefko Specker und Wirtje Hummers, auch Max und Moritz genannt, standen kleinlaut vor ihrem Chef. Der war inzwischen rot angelaufen und brüllte die zwei an. »Was heißt hier ›Die Teile sind noch nicht da‹? Draußen ist Hauptsaison und meine Maschinen stehen kaputt in der Halle.«

Das Donnerwetter nahm kein Ende. Siefko biss sich auf die Unterlippe, wagte kein Wort zu sagen und sah hilfe­suchend zu seinem Freund Wirtje. Der knautschte verkrampft die Schirmmütze in seinen Händen. Endlich warf ihr Chef sie aus dem Büro.

Böltjer hatte ordentlich Dampf abgelassen und griff etwas erleichtert erst einmal nach dem Rheiderlandkurier­, der vor ihm auf dem Tisch lag. Er stutzte, als er die Überschrift las: Sensation! Rheiderländer Ötzi gefunden. Während er den Artikel las, gingen seine Gedanken zurück zu dem Tag, an dem er mit seinem Kumpel den Wilderer im Dollart gesucht hatte. Ein gemeines Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Die Schüsse, die er damals gehört hatte … Das merkwürdige Verhalten seines Kollegen, der damals angeblich nichts gesehen hatte … Der Wilderer war seit diesem Tag nicht wieder im Dollart gesehen oder gehört worden.

Jetzt wusste er mit Sicherheit, dass sein Kollege den Mann umgebracht und später in den Salzwiesen vergraben hatte. Das war doch einmal eine gute Nachricht. Nun hatte er seinen Jagdkumpel in der Hand. Böltjer rieb sich erfreut die Hände. Endlich gab es eine Möglichkeit, gewisse Ziele zu erreichen. Sein Kumpel wollte doch sicher nicht, dass er der Polizei oder der Presse diese Geschichte von damals erzählte.

Siefko Specker und Wirtje Hummers standen neben der Erntemaschine und fluchten. Siefko Speckers Daumen bewegte sich über seinen Hals, von einem Ohr zum anderen. Wirtje nickte und sagte mit Wut in der Stimme: »Genau, Siefko – eines Tages, ich schwör es dir, ist Böltjer fällig. Dann hängen wir ihn tot wie eine Schlachtsau an die Leiter.«

Siefko sah zur Firmeneinfahrt, als ein Auto vor dem Büro hielt. Der Fahrer stieg aus und knallte die Tür zu. Mit gerötetem Gesicht stürmte der Mann ins Büro. »Scheint so, als wären wir beide nicht die Einzigen, die mit Böltjer noch ein Hühnchen zu rupfen hätten«, sagte er zu Wirtje.

»Das war doch unser Gänseschützer Alting, der scheint ja ganz mies drauf zu sein«, stellte Wirtje fest. Die Bürotür stand noch offen und sie konnten den lauten Streit zwischen Alting und Böltjer hören. Dann wurde Alting aus dem Büro gestoßen und der Streit ging auf dem Hof weiter.

»Du hast meine Mühle gesprengt!«, schrie Alting.

»Scheiß auf deine Mühle, du tickst doch nicht richtig!«, brüllte Böltjer.

Die Sache eskalierte zu einer Schlägerei. Siefko und Wirtje genossen das Schauspiel, bis die Stimme von Böltjers Frau Jani aus dem Bürofenster schrillte. »Max, Moritz – steht da nicht rum, sondern trennt die beiden!«

»Schade«, murmelte Siefko.

Nur mit Mühe gelang es ihnen, die Kontrahenten festzuhalten. Alting riss sich los und lief zu seinem Wagen. Bevor er einstieg, drehte er sich noch einmal um und schrie: »Dafür wirst du büßen, Böltjer! Ich erwisch dich noch und dann dreh ich dir den Hals um, so wie du es mit den Gänsen machst!«

»Verpiss dich, du Arschloch!«, rief Böltjer zurück. Dann drehte er sich zu seinen Angestellten um. »Und ihr, habt ihr nicht anderes zu tun?! Seht zu, dass die Maschinen fertig werden!«

Tag 2, vormittags,
ein Bauernhof im Rheiderland.

Der Jäger saß kreidebleich am Küchentisch und hielt den Rheiderlandkurier in den zitternden Händen. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie hatten den Wilderer gefunden, den er erschossen und vergraben hatte …

Tag 2, nachmittags,
am Dollartweg in der Nähe des Fundortes der Leiche

Jan Broning und Stefan Gastmann hatten den Zivilwagen vor dem Deich geparkt, hinter dem in den Salzwiesen das Skelett gefunden worden war. Eine lange Reihe von Häusern, der Dollartweg, lief parallel zum Deich bis zu einer Kreuzung. Rechts ging es über den Deich zur Bohrinsel Dyksterhusen. Links verlief die hoch gelegte schmale Straße über ein historisches Sieltor weiter in Richtung Ditzumerhammrich.

Die beiden hatten sich die Arbeit aufgeteilt und trafen sich zwischendurch immer wieder an dieser einzigen Straße, nur um festzustellen, dass der andere auch niemanden angetroffen hatte. Die Ausstrahlung der Häuser lag irgendwo zwischen einsam und trist. Der verhangene Himmel, der Nieselregen und die heruntergelassenen Rollos versetzten Jan Broning in düstere Stimmung. Die Nähe zum Dollart brachte wieder mal Erinnerungen, die er sonst verdrängte.

Er ging gerade an einem eingefallenen alten Arbeiterhaus vorbei. Die Büsche und Sträucher wuchsen ungehindert zwischen den Mauern. Man konnte noch erkennen, dass es sich einmal um ein kleines Wohnhaus mit einem angesetzten Stall gehandelt hatte. Die Ruine sah verwunschen aus, Kinder würden es als Hexenhaus bezeichnen.

Daneben stand ein noch bewohntes Haus. Keine herunter­gelassenen Rollos, und das davor geparkte Auto mit dem Leeraner Kennzeichen ließ hoffen.

Als er klingelte, öffnete eine Frau misstrauisch die Tür einen Spalt breit. Die Kette war vorgelegt. Früher hatte hier keiner sein Haus abgeschlossen, aber die zunehmende Kriminalität hatte auch die Menschen in dieser einsamen Gegend vorsichtiger gemacht.

»Moin, entschuldigen Sie bitte die Störung.« Er zeigte ihr die Dienstmarke. »Mein Name ist Jan Broning von der Kriminalpolizei Leer. Nichts passiert, es handelt sich nur um eine Befragung.«

»Sicher wegen dem Ötzi.« Sie entfernte die Kette und öffnete die Tür. »Hab schon davon gelesen.«

»Genau, Frau …?«

»Gretchen Driever.« Sie wurde rot. »Oh, wie unhöflich von mir, kommen Sie doch bitte herein.«

Sie ging voraus, Broning schätzte ihr Alter auf fünfundsechzig bis siebzig Jahre, sie war etwas übergewichtig. Ihre Haare trug sie in einem dicken Knoten. Ständig wischte sie sich ihre abgearbeiteten Hände an der altmodischen Schürze ab. Sie erinnerte ihn an die Bronzefigur der alten Fischerin vor dem Ditzumer Sieltor. Im Flur roch es nach Tabak – Pfeifentabak, da war er sich sicher, sein Vater hatte auch immer diese Marke geraucht. Irgendetwas mit einem Grafen hatte auf der Packung gestanden. »Ist Ihr Mann auch zu Hause, Frau Driever?«

Er erhielt keine Antwort. Frau Driever stand vor dem Elektroherd und schaute auf den glimmenden Ascherest auf einer Herdplatte. »Herr Kommissar, mein Mann ist schon vor Jahren gestorben.« Sie lief schon wieder rot an. »Ich hab immer geschimpft, wenn er im Haus geraucht hatte. Wegen der Gardinen und so.« In ihren Augenwinkeln bildeten sich Tränen. »Ist doch verrückt … jetzt streue ich seinen Lieblingstabak auf die heiße Herdplatte. Ich schließe die Augen, rieche den Tabak und denke, er sitzt neben mir.« Sie räusperte sich. »Nehmen Sie doch Platz.« Frau Driever zeigte auf das Sofa, das zusammen mit einem großen Rattanstuhl vor dem Küchentisch stand. »Ich wollte mir gerade einen Tee machen, sie trinken doch sicher auch gerne eine Tasse.«

Jan Broning glaubte die Einsamkeit in diesem Haus mit den Händen greifen zu können. Deshalb nahm er das Angebot an. Als Frau Driever Tassen auf den Tisch stellte, klingelte sein Handy. Er drückte auf die grüne Taste. »Stefan, was gibt’s?«

»Jan, hier scheint alles ausgestorben zu sein. Entweder stehen die Häuser leer, oder die Leute wollen nicht mit mir sprechen. Jedenfalls geht hier keiner an die Tür.«

»Du, ich bin hier gerade bei Frau Driever in der Küche.«

»Ihr Kollege möchte doch sicher auch einen Tee«, unterbrach sie ihn. »Er soll ruhig zu uns kommen.«

Broning nickte. »Danke, Frau Driever. Stefan, du bist zum Tee eingeladen. Das Haus neben der Ruine.«

Kurz darauf saßen die Polizisten auf dem Ostfriesensofa und Frau Driever neben ihnen auf dem Stuhl. Auf der Wachstuchtischdecke standen drei dampfende Tassen. Als Stefan den Tee mit dem Löffel umrührte, traf ihn ein strafender Blick von Frau Driever.

Sie erklärte, dass es sich bei den meisten anderen Häusern in der Straße um Ferienhäuser handelte. Deshalb hätten sie niemanden angetroffen. »Ja, meine Herren, verdammt einsam hier und kein Ort zum Altwerden. Früher hatten wir hier eine gute Nachbarschaft, jeder kannte jeden und heute …« Frau Driever sah verzweifelt aus. »Ich glaube, ich werde auch verkaufen und wegziehen. Keine Verwandtschaft mehr und wenn ich erst nicht mehr mit dem Auto fahren kann …«

Broning befragte sie zu dem aufgefundenen Toten. Sie hob bedauernd die Hände. »Da weiß ich gar nichts von, ich hab mir auch schon den Kopf darüber zerbrochen.« Sie bemerkte die Enttäuschung in den Gesichtern der Polizisten. »Aber …« Jetzt lächelte sie zum ersten Mal. »Mein verstorbener Opa war ein berüchtigter Ahnenforscher und hat sich auch für das Kriegsende interessiert. Moment bitte!«

Sie verließ die Küche und kam kurz darauf mit einem altmodischen Schulheft zurück. »Opas Kriegserinnerungen als Volkssturmmann!« Sie wedelte mit dem Heft. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir die noch einmal in die Hand nehmen.« Eine Weile blätterte sie konzentriert darin herum. »Haben Sie bei dem Toten eine Erkennungsmarke gefunden?« Sie sah die Polizisten fragend an. Jan Broning verneinte. »Das hätte Ihnen sicher weitergeholfen, oder?« Frau Driever lächelte wieder, gab jeweils einen Kluntje in die leeren Tassen und schenkte nach.

»Allerdings, Frau Driever.« Broning lächelte respektvoll. »Sie scheinen sich ja auch schon Ihre Gedanken gemacht zu haben.«

»Wenn Sie wüssten, wie viel Zeit ich habe … – Bei Kriegsende war hier richtig was los. Der Volkssturm, das letzte Aufgebot, war eilig organisiert worden. Es fehlte an allem, Waffen, Uniformen und Soldbüchern. Mein Opa gehörte auch zum Volkssturm und hatte große Angst, als Partisan behandelt zu werden, weil er weder ein Soldbuch noch eine Erkennungsmarke hatte.« Gretchen Driever suchte eine bestimmte Stelle in dem Heft. »Hier, Kanadier im südlichen, deutsche Marinestellungen im nördlichen Rheiderland. Im Rheiderland dauerten die Rückzugsgefechte mit versprengten deutschen Einheiten noch bis Ende April 1945.«

»Hier herrschte also bei Kriegsende Chaos«, stellte Broning fest.

»Ich glaube, bei dem armen Schwein, das sie in den Salzwiesen gefunden haben, handelte es sich auch um einen Volkssturmmann.« Gretchen Drievers Stimme klang traurig. »Alte Männer und halbe Kinder, schlecht bewaffnet, gegen Panzer und Tiefflieger.«

Für einen Moment schwiegen alle.

»Frau Driever«, Broning unterbrach die gedrückte Stille, »das Heft von Ihrem Opa, können wir uns das ausleihen?«

»Sicher, Herr Kommissar. Können Sie Sütterlinschrift lesen?« Frau Driever drehte das Heft so, dass die Polizisten das Schriftbild sehen konnten. Jan und Stefan wechselten einen skeptischen Blick.

»Jedenfalls, wenn Sie gar nicht klarkommen«, Frau Driever lächelte beide an, »hier gibt es immer eine Tasse Tee und eine Übersetzung.«

Sie beantwortete noch einige Fragen zu den Nachbarn. Ihr wurde dabei selbst deutlich, wie wenig sie von diesen Leuten wusste. Schließlich wollte sie die Polizisten gar nicht mehr gehen lassen, so sehr freute sie sich über etwas Gesellschaft. Inzwischen kannten die zwei ihren gesamten Lebenslauf.

»So, Frau Driever, wir müssen weiter, danke für den Tee und Ihre Zeit.« Broning legte seine Visitenkarte auf den Tisch. »Sollte Ihnen oder Ihren Nachbarn noch etwas einfallen zu unserem unbekannten Toten, dann rufen Sie uns bitte an! Ihre Idee mit dem Umzug finde ich übrigens gut. Ich weiß, wie die Nachkriegsgeneration an ihren Häusern hängt, aber letztlich ist es doch nur ein Steinhaufen und manchmal sogar ein Riesenklotz, der einen behindert. Tabak kann man auch auf andere Herde streuen.«

Die Polizisten verabschiedeten sich und gingen zurück zum Dienstwagen.

»Also doch ein Kriegsteilnehmer«, sagte Stefan im Auto. »Das letzte Aufgebot, ein Volkssturmmann.«

Broning nickte. »Das würde erklären, warum wir kein Soldbuch und keine Erkennungsmarke gefunden haben. Die Ausrüstung war auch dürftig, passt alles schön zusammen. Vielleicht finden wir noch etwas im Notizheft, das uns weiterhilft.«

Bronings Handy klingelte. Die Verbindung war schlecht. Die nette Dame von der Gerichtsmedizin Oldenburg stellte das Gespräch zu Dr. Knoche durch.

»Moin, Herr Broning, ich sollte mich doch noch einmal bei Ihnen melden, es handelt sich um Ihren Ötzi. Der Termin für die Obduktion wurde jetzt noch weiter nach hinten verlegt. Tut mir leid, wir haben hier sehr viel zu tun und vermutlich handelt es sich bei dem aufgefundenen Skelett, sagen wir es einmal salopp, um eine Altlast. Die aktuellen Fälle haben Vorrang.«

»Okay, Dr. Knoche.« Broning wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit dem Gerichtsmediziner zu verhandeln. »Was meinen Sie, wie lange wird es dauern bis zur Obduktion?«

»Frühestens in einer Woche, ich kann es nicht ändern, Herr Broning!« Dr. Knoche legte auf.

Während der Fahrt zur Dienststelle dachte Broning ständig an Frau Driever. Gleichzeitig ärgerte er sich über seine gedrückte Stimmung. Im Gegensatz zu ihr konnte er noch seinen liebsten Menschen in den Arm nehmen. Eine Idee bildete sich langsam, und als er den Dienstwagen in der Polizeigarage parkte, lächelte er vergnügt. »Stefan, ich hab ein Attentat auf dich vor. Ich möchte Maike in Spanien besuchen. Die Sachlage bei unserem Ötzi scheint klar zu sein. Die restlichen Ermittlungen, könntest du die für eine Woche übernehmen?«

»Ich komme eine Woche auch ohne dich aus!« Stefan klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Fahr zu deiner Maike.«

Kurz darauf befand sich Broning im Büro seines Chefs und erstattete Bericht.

»Wie ich schon sagte, Jan: klarer Fall!« Dirksen lehnte sich gut gelaunt zurück.

Broning eierte nicht lange herum. »Renko, ich möchte eine Woche raus aus der Mühle!«

Dirksen grinste. »Maike besuchen?«

»Du hast es erfasst. Stefan kommt klar und die Gerichtsmedizin meldet sich auch vorerst nicht. Morgen früh steht eigentlich nur die Leichenschau beim Bestatter Erdmann auf dem Programm, danach könnte ich dann …«

»Fahr zu deiner Maike«, Dirksen lachte, »und grüß sie schön von mir.«

Als Nächstes bestellte sich Broning telefonisch ein Wohnmobil für eine Woche. Seine Laune wurde immer besser. Morgen Nachmittag konnte er das Fahrzeug abholen.

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