Theorien des Fremden

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Es ist unübersehbar für den von SimmelSimmel, Georg und SchützSchütz, Alfred initiierten DiskursDiskurs über FremdheitFremdheit als soziale KonstruktionKonstruktion, dass er die Figur des Fremden sehr weit fasst. Das hat mit dem FunktionalismusFunktionalismus der SystemtheorieSystemtheorie aber auch mit der Konzentration auf das Kommunikationsproblem zu tun, das übrigens ein in den Kulturwissenschaften verbreitetes Thema, nämlich Viel- und Mehrsprachigkeit, nahezu völlig ignoriert. Wenn der Fremde der oder die ist, der in einer bestimmten Situation nicht zuletzt wegen seines Kommunikationsverhaltens als fremdfremd wahrgenommen und bezeichnet wird, dann kann jeder und jede von uns in einer bestimmten Situation „fremd“ sein, auch wenn er oder sie keineswegs migrantisch und in diesem Sinne kulturell Fremde sind: eine junge FrauFrau in einer dominantDominanz und programmatisch männlichenmännlich GruppeGruppe, ein Intellektueller an einem Stammtisch, ein Naturwissenschaftler in einer literatur- oder kulturwissenschaftlichen Vorlesung. In all diesen Situationen kommt es unter Umständen zu einem Nicht-VerstehenNicht-Verstehen der InformationInformation, der Mitteilung, zu fehlender „Anschlussfähigkeit“, zu „Erwartungsenttäuschung“, zu „Unvertrautheit“, „Problem“, „KriseKrise“ und womöglich auch zu „AmbivalenzAmbivalenz“. Kritisch gesprochen, ist dieser Ansatz nicht imstande, die spezifische DifferenzDifferenz zwischen dieser uns allen geläufigen Fremdheit und jener sprachlich-religiös-kulturellen herauszustellen. Was die Systemtheorie des Fremden überdies von den Anfängen einer SoziologieSoziologie der Fremdheit unterscheidet, ist ein methodisch vorgegebener Perspektivwechsel. Fremdheit wird als soziale Konstruktion doch vornehmlich aus der Perspektive des ‚SystemsSystem‘ und seiner Repräsentanten gesehen und nicht (mehr) auch aus der Position des durch seine soziale Stellung aber auch durch seine Unvertrautheit marginalisierten MenschenMensch.

7. Ich ist ein Anderer (Rimbaud). Das gespaltene Ich: Jacques LacansLacan, Jacques Theorie des SpiegelstadiumsSpiegelstadium
7.1. Vorbemerkung

Am 3. August 1936 hielt ein junger französischer Psychiater und Psychoanalytiker, Jacques LacanLacan, Jacques (1901–1981), beim 14. Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Marienbad einen mündlichen Vortrag über das SpiegelstadiumSpiegelstadium. Er verließ den Kongress vor dessen Ende, um zu den elften Olympischen Spielen, die in Berlin ausgetragen wurden, zu reisen. Das nationalsozialistische Regime hatte diese internationale Sportveranstaltung zum ersten Mal in der GeschichteGeschichte der neuzeitlichen Olympischen Spiele mit einem gigantischen medialen Aufwand zelebriert. Wie der Psychoanalytiker und Lacan-Schüler Philipp JulienJulien, Philipp meint, besteht zwischen Lacans Theorie des NarzissmusNarzissmus als „einer ontologischenOntologie Struktur der menschlichen WeltWelt“1 und der rassistischen Selbstfeier des nationalsozialistischen DeutschlandDeutschland ein inniger Zusammenhang. Lacan hat, so lautet die TheseThese Juliens, eine Theorie vorgelegt, die die wahre Quelle des modernenmodern RassismusRassismus freilegt.2 Davon wird am Ende des Kapitels noch die Rede sein.

Die Überlegungen zum SpiegelstadiumSpiegelstadium, die LacanLacan, Jacques dann noch einmal, dreizehn Jahre später und diesmal in schriftlicher FormForm, auf dem 16. Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Zürich 1949 vortragen wird, markieren eine nachhaltige und fortdauernde Wende im psychoanalytischen DiskursDiskurs. Von einem „return“, von einer RückkehrRückkehr also, spricht die Studie von JulienJulien, Philipp, von einer „Ent-Stellung“ der bedeutende Lacan-Kommentator Samuel WeberWeber, Samuel.3 Damit ist eine Doppelbewegung beschrieben, die gegen eine Verwässerung der Freudschen Lehren im US-amerikanischen Diskurs eintritt. Zugleich möchte sie an bestimmten widerständigen Grundprämissen der PsychoanalysePsychoanalyse festhalten und begreift sich als deren Weiterentwicklung. Im Prinzip ist dies bereits mit der Formel von der Rückkehr beschrieben, die ja, wie jede Art der WiederholungWiederholung, niemals eine WiederherstellungWiederherstellung des Gleichen ist, sondern eine innovative Rückwendung darstellen kann. Dabei kommen vier Momente zum Tragen: Das erste ist die Weiterentwicklung von Psychiatrie und Psychoanalyse. Zweitens bringt die mit SaussureSaussure, Ferdinand de und dem StrukturalismusStrukturalismus vollzogene linguistische Wende in den Humanwissenschaften Lacan dazu, das UnbewussteUnbewusste, das sich etwa im TraumTraum manifestiert, als einen sprachlichen SymbolismusSymbolismus zu verstehen. Das dritte Moment knüpft sich an das Entstehen einer post-klassischen Philosophie in FrankreichFrankreich, die mit dem traditionellen Identitätsschemata im philosophischen Diskurs bricht (→ Kapitel 1, 4, 5) und deren gemeinsamer Nenner eben Rimbauds Satz JeJe est un autre/Ich ist ein Anderer4 ist. Und schließlich ist es der SurrealismusSurrealismus, der Nachfahre von Symbolismus und forcierter RomantikRomantik, denn dieser spielt beim KulturtransferKulturtransfer der Psychoanalyse in die Frankophonie eine ganz wesentliche Rolle. Wie Nicolas Langlitz darlegt, brachte der Kreis um Breton den jungen Psychiater Lacan mit den Lehren Freuds in intensive Verbindung.5

All dies führt zu einem neuen Vokabular der PsychoanalysePsychoanalyse, das zuweilen auf die klassischen Termini Freuds zurückgreift, diese aber zugleich überschreibt. So verschwindet in der Lacanschen Theorie weithin die Triade Es, Ich und Über-IchÜber-Ich und wird durch die trinitarische Gedankenfigur des RealenReale, ImaginärenImaginäre und SymbolischenSymbolische überschrieben. LacansLacan, Jacques Grundkategorien sind keineswegs eindeutig und markieren keine strikten linearen TrennungenTrennung zwischen verschiedenen Bereichen. Vielmehr greifen die durch diese Begriffe bezeichneten Prozesse ineinander.

Was die Lektüre von LacansLacan, Jacques Werk so schwierig macht, ist die Komplexität eines post-logischen Denkens und einer SpracheSprache, die sich spielerisch, zuweilen auch poetisch und auf jeden Fall uneindeutig den schwer greifbaren psychischen Phänomenen anzunähern versucht. Hinzu kommt auch, dass sein Denken auf Prämissen aus anderen Theoriekomplexen beruht, die er nicht immer expliziert.

7.2. Vom doppelten Ich zum SpiegelstadiumSpiegelstadium

Ganz wesentlich für die Eigenart des Lacanschen Denkens ist die Unterscheidung zwischen zwei Ich-InstanzenInstanz, die die französische SpracheSprache auf elegante Weise möglich macht, jene zwischen moimoi und je. Diese Differenzierung wurde immer wieder mit der Freudschen Unterscheidung von Es und Ich gleichgesetzt. Achim Perner hat vorgeschlagen, das Lacansche JeJe tendenziell mit dem Freudschen Ich gleichzusetzen und es als jenes SelbstSelbst zu begreifen, das durch die Identifikation mit dem SpiegelbildSpiegelbild überhaupt erst entsteht. Ob das moi demgegenüber dessen unbewussteunbewusst Seite repräsentiert, darüber sind sich die LacanLacan, Jacques-Forscher nicht einig. Vom Freudschen Es unterscheidet es sich schlichtweg dadurch, dass Es einen ungeteilten Zustand markiert, in dem es noch kein Ich geben kann. Meistens wird das moi als imaginäres Ich-BildBild verstanden.1

Das SpiegelstadiumSpiegelstadium ist jene Phase, in der das Ich sich durch die Begegnung mit einem äußeren Ebenbild konstituiert und etabliert. Das JeJe verkörpert dabei den integralen Aspekt (‚Das bin ich‘), während das moimoi den imaginären Aspekt verkörpert. Die DualitätDualität von moi und je betont auch die im Grunde unaufhebbare GespaltenheitGespaltenheit des menschlichen SubjektsSubjekt sehr plastisch. Das sich betrachtende Subjekt wird niemals mit seinem imaginären BildBild identisch. Was ‚ich‘ ist, das ist stets eine ProjektionProjektion. Es gibt kein Jenseits des SpiegelsSpiegel. Das Bild ist keine Reproduktion, sondern eine RepräsentationRepräsentation.2 Mit diesem Begriff verweist LacansLacan, Jacques Vortrag von 1949 auf bestimmte Befunde der vergleichenden PsychologiePsychologie seiner Tage. Zugleich aber sieht er in ihnen eine Bestätigung seiner eigenenEigentum theoretischen Bemühungen „die Funktion des Ich (je), wie wir sie in der PsychoanalysePsychoanalyse erfahren, zu verdeutlichen“.

Schon im ersten Abschnitt lässt LacanLacan, Jacques keinen Zweifel an der theoretischen Tragweite seiner Interpretation des frühkindlichen SpiegelstadiumsSpiegelstadium, wenn er meint, dass diese „spezielle ErfahrungErfahrung […] jeder Philosophie“ diametral entgegensteht, „die sich unmittelbar vom cogito ableitet“.3 In der Philosophie ist das sich durch den mentalen Zweifel konstituierende Ich als ein autonomesAutonomie und rationales SubjektSubjekt gedacht. Das Subjekt Lacans hingegen ist heteronomHeteronomie und an einen verzweifelten, unendlichen Akt der Selbstidentifikation geknüpft. Wie es am Ende des Vortragstexts heißen wird, befindet es sich im Zustand einer „imaginären KnechtschaftKnechtschaft“.4 Das ist philosophiegeschichtlich betrachtet nicht der erste theoretische Bruch mit der von René DescartesDescartes, René begründeten, neuzeitlich-okzidentalen Subjekt-Philosophie (zu denken ist hier zum Beispiel an die deutschedeutsch Frühromantik und an die Philosophie SchellingsSchelling, Friedrich Wilhelm Joseph). Es ist aber vielleicht der erste, der eine außerphilosophische Argumentation liefert und überdies, im Unterschied zur deutschen Frühromantik, einen zutiefst pessimistischen Grundzug in sich trägt. Lacan beruft sich auf die Befunde der vergleichenden PsychologiePsychologie seiner ZeitZeit, die etwa MenschenMensch und SchimpansenSchimpanse in ihrem Verhalten erforscht. Zum einen tut er dies um den Bruch mit der philosophischen TraditionTradition und mit der herrschenden Freud-Deutung zu vollziehen und zum anderen, um einen Diskursaspekt Freuds zu vertiefen: Ähnlich wie der ÖdipusÖdipus-KomplexÖdipus-Komplex ist dieser Aspekt mit einem MythosMythos verbunden, der dem psychischen PhänomenPhänomen auch den Namen gegeben hat: NarzissmusNarzissmus. 1914 hat Freud den Narzissmus folgendermaßen bestimmt:

 

Der Terminus Narzißmus entstammt der klinischen Deskription und ist […] zur Bezeichnung jenes Verhaltens gewählt worden, bei welchem ein IndividuumIndividuum den eigenenEigentum Leib in ähnlicher Weise behandelt wie sonst den eines Sexualobjekts, ihn also mit sexuellem Wohlgefallen beschaut, streichelt, liebkost, bis es durch diese Vornahmen zur vollen Befriedigung gelangt.5

Bekanntlich handelt die GeschichteGeschichte davon, dass sich NarzissNarziss in das SpiegelbildSpiegelbild verliebt, das er auf der Oberfläche des Wassers sieht. In dem BegehrenBegierde, sich mit diesem zu vereinigen, kommt er zu TodeTod. ManMan, Paul de kann die beiden Mythen, die die PsychoanalysePsychoanalyse so sorgfältig und intensiv bearbeitet hat, als komplementär begreifen. Es geht in beiden nämlich um eine höchst widerspruchsvolle Identifikation – das eine Mal mit dem VaterVater (ÖdipusÖdipus), das andere Mal mit sich selbst (Narziss). Weniger poetisch aber erhellend ist jene Geschichte aus dem Bereich der vergleichenden PsychologiePsychologie, die LacanLacan, Jacques zu Eingang des Textes erzählend referiert:

Das ‚Menschenjunge‘ erkennt auf einer Altersstufe von kurzer, aber durchaus merklicher Dauer, während der es vom ‚Schimpansenjungen‘ an motorischer Intelligenz übertroffen wird, im SpiegelSpiegel bereits sein eigenesEigentum BildBild als solches. Dieses ErkennenErkennen wird signalisiert durch die illuminative Mimik des ‚Aha-Erlebnisses‘, in dem – als einem wichtigen Augenblick des Intelligenzaktes – sich […] die Wahrnehmung der Situation ausdrückt. Dieser Akt erschöpft sich nicht, wie beim Affen, im ein für allemal erlernten Wissen von der Nichtigkeit des Bildes, sondern löst beim KindKind sofort eine Reihe von GestenGeste aus, mit deren Hilfe es spielerisch die Beziehung der vom Bild aufgenommenen BewegungenBewegung zur gespiegelten Umgebung und das Verhältnis dieses ganzen virtuellen Komplexes zur RealitätRealität untersucht, die es verdoppelt, bestehe sie nun im eigenen KörperKörper oder in den Personen oder sogar in Objekten, die sich neben ihm befinden.6

Soweit also die Befunde frühkindlicher Verhaltensweisen zwischen dem 6. und dem 18. Lebensmonat, auf die sich LacanLacan, Jacques beruft, die er in ‚seiner‘ SpracheSprache wiedergibt und die zugleich zur theoretischen Deutung hinführen. Die FrageFrage liegt nahe, wie es sich mit menschlichen KulturenKultur verhält, in denen es keine manifesten SpiegelSpiegel gibt und in der sich die MenschenMensch seltener in ihrer Körperlichkeit zu GesichtGesicht bekommen.

Der Vergleich mit dem Schimpansenjungen macht deutlich, dass LacanLacan, Jacques zumindest an dieser Stelle auf einer anthropologischen Ebene argumentiert. Gegenüber jenem ist das Menschenjunge hilflos und von vergleichsweise geringer praktischer Intelligenz. Das Besondere des MenschenMensch sei es, so Lacan, dass er generell zu früh auf die WeltWelt kommt und deshalb eine Nachreife durchläuft, während andere Säugetiere viel realitätstüchtiger auf die Welt kommen.7 Ein Charakteristikum des KleinkindesKleinkind ist, dass es auf eine spezifische Weise auf sein SpiegelbildSpiegelbild reagiert und sich – im Gegensatz zur mythologischen Figur des NarzissNarziss – in ihm erkennt. Das sechs bis acht Monate alte Kleinkind kommuniziert mit dem Abbild im SpiegelSpiegel und entfaltet einen rudimentären körpersprachlichen SymbolismusSymbolismus, der im Aha gipfelt. Entscheidend ist dabei, dass es zu einer VerdopplungVerdopplung kommt, die den Ausgangspunkt der paradoxen Auto-KommunikationKommunikation bildet. Zwei Begriffe, die miteinander verschränkt werden, sind dabei festzuhalten: das Virtuelle und die RealitätRealität. Aber es geht, wie wir noch sehen werden, nicht darum, die beiden Begriffe einander gegenüberzustellen. Vielmehr generiert das virtuelle Moment des Spiegels erst recht die ‚Realität‘ des menschlichen SubjektsSubjekt. Lacan erwähnt auch die Möglichkeit, dass das ‚Menschenjunge‘ auch noch Anderes wie ObjekteObjekt oder Personen im Spiegel erblickt und identifiziert. In diesem Zusammenhang ist fraglich, ob nicht die AnwesenheitAnwesenheit eines Dritten, etwa der MutterMutter, für das ErkennenErkennen als ‚Ich‘ eine wesentliche Rolle spielt.

Nun nimmt LacanLacan, Jacques eine erste theoretische Sichtung des SpiegelstadiumsSpiegelstadium vor. Der SpiegelSpiegel bildet, so lautet die zentrale TheseThese, nicht etwas Vorhandenes ab, sondern er konstituiert das, was man als gespaltene Ich-Funktion bezeichnen könnte. Dabei greifen Momente ineinander, die Lacan folgendermaßen benennt:

1 Ein „libidinöser Dynamismuslibidinöser Dynamismus“8: Dieser untermauert Freuds Annahme einer frühkindlichen LibidoLibido, die als ein BegehrenBegierde und Verlangen nach etwas bzw. nach jemandem beinhaltet.

2 „Eine ontologischeOntologie Struktur der menschlichen WeltWelt:9: ManMan, Paul de kann das SpiegelstadiumSpiegelstadium als eine Identifikation im Sinne der PsychoanalysePsychoanalyse verstehen. In diesem Sinne ist es eine „VerwandlungVerwandlung“, die durch ein BildBild ausgelöst wird, in dem sich das KleinkindKleinkind mit seiner imaginären RepräsentationRepräsentation identifiziert und damit ein Ich hervorbringt, das stets auf einer Identifikation mit einem scheinbar Anderen beruht. Diese Struktur versteht LacanLacan, Jacques als „paranoisch“.10 Damit wird der Begriff der ParanoiaParanoia, der eine bestimmte psychische Störung bezeichnet, normalisiert und neutralisiert. Das menschliche Lebewesen, das im SpiegelbildSpiegelbild zu sich kommt und sich zugleich verfehlt, ist strukturell paranoid.

3 Durch die „exemplarische Situation“, die „jubilatorische Aufnahme“ des Spiegelbildes, entsteht eine vorsprachliche „symbolische MatrixMatrix“, in der das Ich (JeJe) seinen Niederschlag findet, noch bevor die „DialektikDialektik der Identifikation mit dem andern“ einsetzt und ihm der sprachliche SymbolismusSymbolismus den Status eines SubjektsSubjekt verleiht. LacanLacan, Jacques vergleicht dieses Ich mit dem „Ideal-Ich“.11

4 Diese FormForm wiederum „situiert“ nicht nur das SelbstSelbst (JeJe), das eine integrierende Funktion besitzt, sondern zugleich auch die „InstanzInstanz des Ich (moimoi)“, und zwar auf einer „fiktiven Linie“.12 Weder das Je noch das moi sind also vor dem SpiegelstadiumSpiegelstadium vorhanden, sondern sind dessen Resultat. Auch sind die beiden „Ichs“ nicht im Sinne einer binären OppositionOpposition zu verstehen. Sie sind nämlich in ihrer GespaltenheitGespaltenheit miteinander verflochten und entsprechen jener RelationRelation, die durch den Satz Rimbauds beschrieben ist: Ich ist ein Anderer. Eine Relation besteht bekanntlich stets aus zwei Momenten. In der durch den SpiegelSpiegel bewirkten Verdoppelung manifestiert sich die Situation des in seine beiden Funktionen bzw. Aspekte gespaltenen Ichs.

5 Der eigeneEigentum, visuelle KörperKörper ist dem SubjektSubjekt stets nur in einer fremdenfremd, objekthaften ‚Gestalt‘ sichtbar gegeben. Es kann seinen Körper immer nur in einem „AußerhalbAußerhalb“, in einem Zustand der EntfremdungEntfremdung und als „Standbild“ seiner selbst wahrnehmen.13

LacanLacan, Jacques sieht das frühkindliche SpiegelstadiumSpiegelstadium als charakteristisch für die ontologischeOntologie Struktur des MenschenMensch an. Er macht auf dramatische Weise deutlich, dass sich das Ich stets nur als ein Anderes, sich selbst immer wieder Entgleitendes, niemals vollständig Beherrschbares gegenübertritt. Es ist, wie Lacan schreibt, einer Symmetrie unterworfen, „die ihre Seiten verkehrt“, und zwar so, dass das ImaginäreImaginäre als das RealeReale und das Reale als das Imaginäre erscheint. Lacan expliziert diese Begriffe an dieser Stelle nicht, aber er macht deutlich, dass in seinem Konzept ‚real‘ und ‚imaginär‘ nicht im Sinne der üblichen OppositionOpposition funktionieren. Es entsteht, wie schon oben vermerkt, die ‚RealitätRealität‘ der Ich-Funktion erst durch den virtuellen Akt, den der Blick im SpiegelSpiegel versinnbildlicht. An einer Stelle spricht Lacan davon, dass „die totale FormForm des KörpersKörper, kraft der das SubjektSubjekt in einer Fata MorganaFata Morgana die Reifung seiner MachtMacht vorwegnimmt, […] ihm nur als ‚Gestalt‘ gegeben“14 ist. Von der ‚klassischen‘ „Fata Morgana“ unterscheidet sich die Spiegelsituation darin, dass sie eine unentrinnbare psychische Realität darstellt, die Lacan zufolge – und das ließe sich kritisch hinterfragen – vorgesellschaftlich und vorkulturell sei.15

In einem nächsten Schritt beschäftigt sich LacanLacan, Jacques mit dem Begriff der Imagines, die er mit der Metapher „verschleierter GesichterGesicht“ erklärt und von denen er höchst hellsichtig meint, dass sie „in unserer alltäglichen ErfahrungErfahrung und im Halbschatten der symbolischen Wirksamkeit Konturen gewinnen“.16 In dem obigen Zitat führt Lacan en passant auch den Begriff des SymbolischenSymbolische ein, wenn er davon spricht, dass die BilderBild „symbolische Wirksamkeit“ entfalten. Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass sich alle drei Momente der später ausgearbeiteten Theorie – das RealeReale, das Symbolische und das ImaginäreImaginäre – wie beim Borromäischen KnotenBorromäischer Knoten überlagern und überkreuzen. Es gibt aber auch andere Interpretationsmöglichkeiten, so zum Beispiel jene, die das Reale, das unfassbare seelische Geschehen, und das Imaginäre, als die nicht zuletzt durch das BegehrenBegierde initiierte PhantasiePhantasie, als Horizontbegriffe verstehen, die vom bedeutungsstiftenden Symbolischen erfasst werden. Auf keinen Fall stellen sie drei getrennte Bereiche oder Felder dar.

Abb. 3

Borromäischer KnotenBorromäischer Knoten

Die entscheidende Triade bei LacanLacan, Jacques, zu der es bei Freud kein Gegenstück gibt, besteht aus drei Momenten. Das SymbolischeSymbolische bezieht sich auf die SpracheSprache, aber auch, und hier gibt es Anknüpfungspunkte an Freuds Über-IchÜber-Ich, auf die bestehende OrdnungOrdnung, die traditionellerweise vom GesetzGesetze des VatersVater bestimmt wird. Das RealeReale ist negativ bestimmt, es ist das UnfassbareUnfassbare, das im ImaginärenImaginäre und Symbolischen nicht aufgeht. Es macht sich durch den Einbruch des Vaters in die symbiotische Dyade von MutterMutter und KindKind geltend.17 Das Imaginäre, dessen Bedeutung wir schon in SpiegelstadiumSpiegelstadium kennengelernt haben, bezieht sich darauf, dass das Reale immer nur über den Umweg über ein Anderes, das Imaginäre, zur Verfügung steht. Beide bedürfen indes des Symbolischen als eines ordnenden Prinzips.

Das Problem an LacansLacan, Jacques Terminologie ist, dass sie nicht einer strikten Denotation folgt, sondern viele KonnotationenKonnotation, also einen Bedeutungsüberhang, besitzt. So lässt sich zum Beispiel die triadische Figurenkonstellation mit der Trinität von Lacans Begriffssystem analogAnalogie führen: das SymbolischeSymbolische mit der (traditionellen) Figur des VatersVater, das ImaginäreImaginäre mit der des KindesKind (das sich im SpiegelSpiegel als ein Anderes seiner selbst erkennt) und das RealeReale mit der der MutterMutter. Aber zugleich besitzenBesitzen alle drei Figuren alle drei Dimensionen. Vater, Mutter und Kind können unter gewissen Voraussetzungen das Attribut des Realen, des Symbolischen und des Imaginären besitzen.

Philippe JulienJulien, Philipp zufolge hat der Begriff des ImaginärenImaginäre bei LacanLacan, Jacques drei Bedeutungen. Das Imaginäre wird im Einklang mit der philosophischen TraditionTradition von PlatonPlaton bis SpinozaSpinoza, Baruch de im Sinne von Täuschung und Illusion, also als Gegensatz zu ‚Wahrheit‘ und ‚RealitätRealität‘ verstanden.18 Es wird zweitens positiv als eine zentrale Funktion und Operation begriffen, als ein privilegierter Zugang der Kunst zur WeltWelt. Dank des Imaginären ist die menschliche EinbildungskraftEinbildungskraft, wie Julien unter Berufung auf Gaston BachelardBachelard, Gaston betont, prinzipiell offen für die wahre ErfahrungErfahrung des Neuen. Drittens verfügt jede KulturKultur über RepräsentationenRepräsentation ihres eigenenEigentum kollektiven Imaginären, also über ein Ensemble von Phantasmen, die weder gut oder schlecht sind.19 Der griechischgriechisch-französische Philosoph und Psychoanalytiker Cornelius CastoriadisCastoriadis, Cornelius hat in diesem Sinne eine Theorie der GesellschaftGesellschaft entworfen, die eben jene imaginären Schichten in die Untersuchung von Kultur und Gesellschaft einbezieht. Er geht davon aus, dass das Imaginäre, das er auch mit der Einbildungskraft engführt, und das SymbolischeSymbolische einander bedürfen. So setzt der SymbolismusSymbolismus stets die Einbildungskraft voraus, deren Fähigkeit darin besteht, „in einem Ding ein anderes – oder: ein Ding andersAndersheit als es ist – zu sehen“.20 Im ZentrumZentrum des kollektiven Imaginären ortet der griechisch-französische Philosoph und Psychoanalytiker den gesamten religiösen und ideologischen Komplex.21 Das kollektive Imaginäre einer Kultur ist doppelt bedeutsam, im Hinblick auf deren Symbolismus, aber auch als jenes Moment, das in der eher funktionalen LogikLogik des Symbolischen nicht aufgeht.

 

An einer Stelle bedient sich LacanLacan, Jacques, und das wäre wohl eine vierte Bedeutung des ImaginärenImaginäre, des Freudschen Terminus der ProjektionProjektion, in der etwas Inneres, das nicht selbst darstellbar ist, auf einer Außenfläche abgebildet wird.22 Der Autor des SpiegelstadiumsSpiegelstadium spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die „entfremdende Bestimmung“ der spiegelbildlichen Situation „mit den Entsprechungen“ „schwanger geht, die das Ich (je) mit dem „Standbild“, auf das hin sich der MenschMensch projiziert, „vereinigen“.23 Das verfestigte „Standbild“ wird dabei mit dem Ich auf eine untrennbare, eben imaginäre Weise verwoben. So erweist sich das Imaginäre als unvermeidliche SelbsttäuschungSelbsttäuschung, als poetisches Verfahren der EinbildungskraftEinbildungskraft, als RepräsentationRepräsentation von KulturenKultur bzw. GesellschaftenGesellschaft sowie als ein Darstellungsmechanismus des eigentlich Unsichtbaren.

LacanLacan, Jacques erwähnt in seiner verknappten Erörterung zu den Imagines Bildräume wie TraumTraum, Tagtraum und Halluzination. Aus heutiger Sicht lässt sich auf jene „RückkehrRückkehr der BilderBild“24 verweisen, wie sie heute nach der digitalen Medienrevolution zur kulturellen Selbstverständlichkeit geworden sind. Wie vor allem die Arbeiten Slavoj ŽižeksŽižek, Slavoj zum FilmFilm gezeigt haben, lassen sich diese virtuellen Bilder im Rekurs auf die narzisstische ‚Urszene‘ des SpiegelstadiumsSpiegelstadium als eine Verkoppelung des ImaginärenImaginäre mit dem Medialen lesbar machen. Insofern lebt die MenschheitMenschheit strukturell in jener imaginären Höhle, die PlatonPlaton in seinem berühmten Höhlengleichnis beschrieben hat, allerdings ohne dass die Schattenbilder auf einen Kosmos metaphysischer IdeenIdee verweisen würden. Die SchattenSchatten, die die MenschenMensch in der Höhle sehen, wären in Lacans Version, analogAnalogie zum Spiegelstadium, sie selbst als andere. In diesem Sinne lässt sich übrigens auch das Geschehen auf einer LeinwandLeinwand nicht nur als eine virtuelle WeltWelt, die auf ein Draußen verweist, sondern auch als ein SpiegelSpiegel lesen. Die modernemodern Filmtheorie hat vom Lacanschen Spiegelstadium ausgiebig Gebrauch gemacht.25

Spätestens an dieser Stelle wird sichtbar, dass das „SpiegelstadiumSpiegelstadium“ nur ein anschauliches Beispiel für den Zustand einer in einem Bildergefängnis befangenen MenschheitMenschheit ist, die sich nur über das ImaginäreImaginäre Zugang zu „jenem bißchen RealitätRealität“26 verschaffen kann. Die Funktion des Spiegelstadiums, führt LacanLacan, Jacques aus, sei nur ein „Spezialfall der Funktion der ImagoImago“.27 Aber was ist nun deren Funktion? Das BildBild stiftet eine RelationRelation „zwischen dem Organismus und seiner Realität“; es vermittelt „zwischen der Innenwelt und der Umwelt“.28 Aber diese Beziehung ist – und das macht die Besonderheit von Lacans Theorie etwa im Vergleich zu Ernst CassirersCassirer, Ernst Philosophie der symbolischen FormenForm aus – indes gestört. In Cassirers Philosophie kommt dem SymbolischenSymbolische, dem, was er ‚symbolische Formen‘ nennt, die entscheidende Aufgabe zu, „dem schlichten Dasein“ eine „Bedeutung“ zu verleihen und damit die WeltWelt bewohnbar zu machen.29 Ganz andersAndersheit bei Lacan. Von einer „ursprünglichen Zwietracht“ ist in dem Schlüsseltext die Rede und von einem „gewissen Aufspringen (dehiscence)“ des Organismus in seinem Innern.30 Etwas von einer doppelsinnigen negativen Anthropologie kommt in dieser andeutungshaften Passage ins SpielSpiel. Das menschliche Lebewesen ist mit dem Makel auf die Welt gekommen, zu früh geboren zu sein. Es ist strukturell mit sich im Unreinen, uneins. Es hat negative Anteile und es lässt sich nicht im Sinne einer positiven Bestimmung fassen.31

Das Gefühl von IdentitätIdentität und RealitätRealität birgt Samuel WeberWeber, Samuel zufolge „Irrealität, Täuschung und Nichtidentität“ in sich. Sie sei, so LacansLacan, Jacques prominenter Kommentator, „eine nicht so sehr entfremdete als entfremdende Identität“. Dieses Ich, das dem SubjektSubjekt „das Gefühl seiner Selbstidentität“ gibt, sei in der „unerschöpflichen Quadratur der Ich-Bestätigungen, intrasubjektiv durch die Beziehung des Subjekts zu Sich und zu seinem Ich“ gefangen.32 Dieser illusionäre Selbstbezug, die imaginäre Identifikation mit sich selbst als eines Anderen geht der Identifikation mit dem fremdenfremd Anderen, etwa dem VaterVater, voraus. Das Drama des NarzissNarziss geht jenem des ÖdipusÖdipus voraus.

Die IntegrationIntegration des KörpersKörper vollzieht sich vorerst allein im SpiegelbildSpiegelbild, während der Organismus sich im hilflosen Zustand einer schwachen Koordination seiner Teile befindet:

[…] das SpiegelstadiumSpiegelstadium ist ein Drama, dessen innere Spannung von der Unzulänglichkeit auf die Antizipation überspringt und für das an der lockenden Täuschung der räumlichen Identifikation festgehaltene SubjektSubjekt die Phantasmen ausheckt, die ausgehend von einem zerstückelten BildBild des KörpersKörper, in einer FormForm enden, die wir in ihrer Ganzheit eine orthopädische nennen könnten, und in einem Panzer, der aufgenommen wird von einer wahnhaften IdentitätIdentität, deren starre Strukturen die ganze mentale Entwicklung des Subjekts bestimmen werden.33

An keiner Stelle wird der PessimismusPessimismus und SkeptizismusSkeptizismus klarer formuliert als in dieser Textpassage. Zunächst einmal ist das Wort ‚Drama‘ hier wörtlich zu nehmen, beinahe in jenem Sinn, dass das menschliche Lebewesen traumatisiert auf die WeltWelt kommt.34 Der zweite Gedanken, den LacanLacan, Jacques in dieser Passage formuliert, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Kompensationstheorie,35 wird hier doch ein bestimmter MangelMangel, eine „Unzulänglichkeit“ durch die Spiegelsituation kompensiert. Aber bei dieser überspringenden Antizipation handelt es sich um eine Täuschung und um Phantasmen, die „das zerstückelte BildBild des KörpersKörper“, das Hieronymus BoschBosch, Hieronymus in seiner Malerei festgehalten hat, in das Bild eines scheinbar perfekten, starren, strikt abgrenzbaren und wehrhaften Körper verwandelt – nichts anderes meinen nämlich die Metaphern des „Orthopädischen“ und des „Panzers“. So wie in den Bildern Boschs kommt in den Träumen sowie in bestimmten psychischen Symptomen der zerstückelte menschliche Körper ebenso zum Vorschein wie der wahnhafte Aspekt, der auf dem SpiegelstadiumSpiegelstadium als dem ‚Gründungsakt‘ einer imaginär gewonnen IdentitätIdentität beruht. Zu ihr gehört auch das, was Lacan als eine „Befestigungsanlage“ bezeichnet. Mentale Gegenstücke hierzu seien InversionInversion, IsolationIsolation, VerdopplungVerdopplung, Annullierung und VerschiebungVerschiebung.36 Diese Dispositionen sind, wie Lacan später im Anschluss an Anna FreudFreud, Anna darlegen wird, mit diversen Störungen wie HysterieHysterie und ZwangsneuroseZwangsneurose in Zusammenhang zu bringen. Das Spiegelstadium, das die organische Entwicklung des MenschenMensch überspringt, schafft einen Spalt, der den Menschen psychisch ‚störanfällig‘ macht.