Theorien des Fremden

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6.6. Beiträge zur sozialen KonstruktionKonstruktion des Fremden in der gegenwärtigen SoziologieSoziologie (1): Rudolf StichwehStichweh, Rudolf

Der von Autoren wie SimmelSimmel, Georg, ParkPark, Robert Ezra oder SchützSchütz, Alfred in Gang gesetzte DiskursDiskurs ist in den vergangenen Jahrzehnten in der internationalen wie in der deutschsprachigen SoziologieSoziologie und Anthropologie nicht ohne Bezugnahme auf LuhmannsLuhmann, Niklas SystemtheorieSystemtheorie verallgemeinert worden, die GesellschaftGesellschaft als ein Bündel von Funktionen und Beziehungen fasst, die sich zu einem Zusammenhang zusammenschließen, auch wenn dieser im Fall der modernenmodern Gesellschaft „der Modalform der KontingenzKontingenz“ unterliegt.1 Neben dem Begriff des SystemsSystem – die Gesellschaft besteht aus verschiedenen, weithin autonomenAutonomie aber holistisch funktionierenden Subsystemen, unter denen selbst noch einmal ‚FremdheitFremdheit‘ besteht – spielt dabei auch die ‚KonstruktionKonstruktion‘ eine entscheidende Rolle. Diese LogikLogik wird dabei so sehr mit jener des ‚Fremden‘ enggeführt, dass in der Architektur des Fremden jene des Eigenen, hier mehr im Sinne des Mega-Begriffs ‚Gesellschaft‘ als jenes der KulturKultur, sichtbar wird. Fremdes und Eigenes bilden dabei die Pole, die durch die konstruktivistische Tätigkeit des MenschenMensch hervorgebracht werden.

Bevor wir uns Rudolf StichwehsStichweh, Rudolf Konzepte des Fremden zuwenden, sei kurz und mit Blick auf andere aktuelle Werke und Autorinnen und Autoren das Terrain einer solchen Sozialwissenschaft des Fremden abgesteckt. So steht Elke M. Geenens SoziologieSoziologie des Fremden (2002) ganz offensichtlich in der TraditionTradition von Gründervätern wie SimmelSimmel, Georg und SchützSchütz, Alfred. Darüber hinaus hat der Titel des Buches auch die Nebenbedeutung, dass das, der und die Fremde einen zentralen Schlüssel zum Verständnis der Funktion von GesellschaftGesellschaft liefern und dass sich Gesellschaft ohne die verwirrend vielen Funktionen des Fremden eigentlich gar nicht begreifen lässt.

Auch der von Jörg Baberowski, Hartmut Kaelble und Jürgen Schriewer herausgegebene Band zum Thema SelbstSelbst- und FremdbilderFremdbild ist kein philologisch-kulturwissenschaftliches Buch, sondern vielmehr einem sozialen FunktionalismusFunktionalismus verpflichtet, der den gesellschaftlichen DynamikenDynamik von Bildproduktionen nachgeht. Mit der kulturwissenschaftlichen Sicht hat der darin formulierte Zugang die Auffassung gemein, dass FremdheitFremdheit – entgegen ersten Augenscheins – in all ihren Ausprägungen keine Eigenschaft, keine Essenz ist, der man ein bestimmtes Prädikat zuschreiben könnte. Im Gegensatz dazu wird Fremdheit erzeugt und stellt vornehmlich eine RelationRelation dar, weshalb vom Fremden kaum mehr ohne den Bezug zum (vermeintlich) Eigenen gesprochen werden kann. Alle Prozesse von Deutungen schließen stets die Dyade, den Zweierbezug zwischen Eigenem und Fremdem mit ein: „Deutungen des Eigenen und des Anderen, Selbstbeschreibungen und Fremdbeschreibungen sind FormenForm der RepräsentationRepräsentation.“ Sie sind relevant für die Entscheidungen sozialer Akteure, sie bestimmen die „Befindlichkeit ganzer Kollektive“ und sind darüber hinaus „Imaginationen“, die in Konflikten (KriegKrieg, MigrationMigration, KampfKampf, Versöhnung usw.) eine maßgebliche Rolle spielen.2

In diesem Diskursfeld ist die wohl prominenteste Sozialtheorie des Fremden, jene von Rudolf StichwehStichweh, Rudolf, zu verorten. Seine Überlegungen zur Weiterentwicklung einer SoziologieSoziologie des Fremden, die im vorliegenden Kapitel diskutiert werden, finden sich im ersten Kapitel seiner programmatischen Aufsatzsammlung Der Fremde. Studien zu Soziologie und Sozialgeschichte (2010). Dabei greift der Verfasser, wie Geenen, wiederholt auf die klassischen Texte SchützSchütz, Alfred’ und SimmelsSimmel, Georg zurück und verbindet diese mit Fragestellungen der Kulturanthropologie sowie der SystemtheorieSystemtheorie Luhmannscher Prägung. Die „Probleme“ der „klassischen Soziologie des Fremden“ möchte er anhand „einiger Leitunterscheidungen vergegenwärtigen“.3 Damit ist wohl eine Systematisierung und Transformation der klassischen soziologischen Befunde gemeint.

In StichwehsStichweh, Rudolf Überlegungen wird der Tatbestand der Differenzierung und Pluralisierung der Figur des Fremden herausgestellt. Verkürzt gesprochen heißt das: Es gibt die Fremden nur in der Vielzahl von Erscheinungsformen. Die erste wichtige Unterscheidung ist temporärer Art. Es mache, so Stichweh, einen Unterschied zwischen dem Ankömmling und einem Typus des passageren MenschenMensch, der, mit Georg SimmelSimmel, Georg gesprochen, „heute kommt und morgen bleibt“.4 Während Alfred SchützSchütz, Alfred seine Theorie von FremdheitFremdheit aus der Perspektive des „Ankömmlings“ in einer neuen sozialen Lebenswelt skizzierend beschreibt und analysiert, gehen Simmel und dessen Schüler Robert Ezra ParkPark, Robert Ezra (1864–1944) eben von jenem soujourner, dem Pfadfinder, der sich nur temporär an einem OrtOrt aufhält, aus, den sie beide in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen.

Eine zweite wichtige Unterscheidung im Hinblick auf den Fremden trifft StichwehStichweh, Rudolf insofern, als er die Figur bei SimmelSimmel, Georg und ParkPark, Robert Ezra kontrastiert. Wie wir gesehen haben, betont Simmel (und übrigens auch SombartSombart, Werner) die innere DistanzDistanz des Fremden zu seiner neuen (Nicht-)HeimatHeimat, die ihn zu einem produktiven AußenseiterAußenseiter macht. Demgegenüber befindet sich Parks ‚marginal man‘ in der Position des Randständigen, der auf GrundGrund seiner schwachen sozialen IntegrationIntegration durch die Grenzlage charakterisiert ist. Im Gegensatz zu „innerer Distanz“ ist geringe kulturelle Einbindung aber eher ein defizitärer Befund, eine Herausforderung für Sozial- und Gesellschaftspolitik. Park hat den marginalen Fremden in seiner SchriftSchrift aus dem Jahre 1928 als einen kulturell gemischten MenschenMensch, in der heutigen Terminologie als einen ‚Hybriden‘, beschrieben:

[…] ein MenschMensch, der im kulturellen LebenLeben und in den TraditionenTradition zweier KulturenKultur lebt und sie auf intimeintim Weise teilt; der, auch wenn es ihm niemand untersagen könnte, nie bereit wäre, mit seiner VergangenheitVergangenheit und mit seinen Traditionen zu brechen, und der, aus einem rassischen VorurteilVorurteil heraus, in der GesellschaftGesellschaft, in der er jetzt seinen Platz sucht, nie vollständig akzeptiert wurde. Er ist ein Mensch auf der GrenzeGrenze zweier Kulturen und zweier Gesellschaften, die sich nie vollständig fusionieren und miteinander funktionieren.5

‚HybriditätHybridität‘ kann – und darin scheint mir eine analytische Leistung ParksPark, Robert Ezra zu bestehen – demnach je nach sozialem Status eine Chance oder aber auch ein Handicap bedeuten. Es ist nicht nur der unübersehbare Außendruck zur Anpassung, sondern auch der Wunsch, der MarginalisierungMarginalisierung zu entrinnen, der den Fremden dazu bringt, ein heimisches GesichtGesicht zu bekommen und womöglich seine Herkunft im doppelten Sinn des Wortes zu ‚vergessen‘: als non-intentionales Verschwinden eines vergangenen Erlebnisses und als dessen abschätzige Bewertung in der UmgangsspracheUmgangssprache: Das kannst (Du) vergessen.

StichwehStichweh, Rudolf führt noch eine weitere Differenzierung vor, bei der es um die IdentifizierungIdentifizierung mit einem sozialen und kulturellen SystemSystem geht. Der Autor unterscheidet dabei vier Optionen:

1 Das detachement.Diese Haltung des Fremden gegenüber seiner neuen kulturellen HeimatHeimat ist mehr oder minder identisch mit der inneren Distanznahme, die SimmelSimmel, Georg für den Fremden als Grunddisposition annimmt und die eigentümliche Mischung aus nah und fern in sich trägt. StichwehStichweh, Rudolf setzt sie von der Gleichgültigkeit ab.

2 Die geteilte Loyalität. Diese ist für den ‚hybridenHybrid‘ MenschMensch charakteristisch, der sich zwei kulturellen Lebenswelten gegenüber verpflichtet fühlt. Solche partikulären IdentitätenIdentität finden sich auch im modernenmodern Berufsleben.

3 Die disaffiliation. Dabei handelt es sich um die Identifikation des Fremden mit einer neuen KulturKultur, die aber von dieser bzw. deren Angehörigen verweigert wird.

4 Die multiple Identifikation. Diese unterscheidet sich von der zweiten Haltung dadurch, dass es hier, wie im Fall vieler amerikanischen JudenJuden, zu einer „konflikt- und reibungsfreien Partizipation an zwei KulturenKultur“6 kommt, während bei der „geteilten Loyalität“ ein Spannungsverhältnis, ja vielleicht sogar Unvereinbarkeit besteht.

Zwei mögliche und auch historisch wirksame Haltungen bleiben in dieser Auflistung ausgespart: Zum einen die vollständige und offene Ablehnung der neuen KulturKultur und die damit verbundenen FormenForm der mehr oder minder freiwilligen Ghetto- bzw. Nischenbildung, zum anderen die vollständige Assimilation, die mit dem intentionalen und non-intentionalen Vergessen der eigenenEigentum Herkunft und auch dem Namenswechsel verbunden ist.

In seiner Rekonstruktion der klassischen SoziologieSoziologie des Fremden greift StichwehStichweh, Rudolf eine weitere Unterscheidung auf, der wir insbesondere schon bei SimmelSimmel, Georg begegnet sind. Es ist jene Differenzierung zwischen ‚HändlerHändler‘ und ‚BodenbesitzerBodenbesitzer‘. Beide Figuren markieren unterschiedliche Eigentumsformen und verschiedene Ausprägungen der Beweglichkeit. Wenn der Fremde – mit Simmel gesprochen –, der händlerischen Tätigkeit zuneigt, dann kann dem Fremden in der Tat eine Modernisierungsfunktion hinsichtlich einer sich durch TauschTausch- und Kommunikationsmedien weitenden WeltWelt zugeschrieben werden.

 

Damit wird aber auch deutlich, dass sich eine globale GesellschaftGesellschaft, in der das Medium GeldGeld eine nicht nur ökonomisch, sondern auch sozial und kulturell wirksame und bestimmende MachtMacht darstellt, immer mehr dahingehend entwickelt, dass sich in ihr Fremde bewegenBewegung und einander begegnen. Denn wie StichwehStichweh, Rudolf betont, ist FremdheitFremdheit immer ein relationales PhänomenPhänomen.7 Eine wachsende Anzahl von MenschenMensch auf diesem Planeten bewegt sich zunehmend in einem sozialen und kulturellen Lebensalltag, in dem die Fremde beinahe etwas Vertrautes geworden ist. Wir haben andauernd mit Menschen zu tun, die wir nicht kennen, selbst wenn sie aus unserem Kulturkreis kommen. Es sind Menschen, von denen wir nicht wissen, ob sie ein ähnliches, gleiches oder verschiedenes kulturelles Programm in sich tragen. Ob das nun gut oder schlecht ist, sei einmal dahingestellt. Tatsache bleibt, dass wir zunächst von der Annahme einer bestimmten Ähnlichkeit ausgehen.8

6.7. Beiträge zur sozialen KonstruktionKonstruktion des Fremden in der gegenwärtigen SoziologieSoziologie (2): Kai-Uwe HellmannHellmann, Kai-Uwe FremdheitFremdheit als soziale Konstruktion

Der Aufsatz des LuhmannLuhmann, Niklas-Schülers Kai-Uwe HellmannHellmann, Kai-Uwe FremdheitFremdheit als soziale KonstruktionKonstruktion aus dem Jahr 1998 ist im Zusammenhang mit einer umfangreichen, von dem prominenten Politikwissenschaftler Herfried Münkler geleiteten interdisziplinären Arbeitsgruppe Die Herausforderung durch das Fremde entstanden. Ziel dieses Unternehmens war es, dem PhänomenPhänomen des Fremden aus den verschiedensten disziplinären Forschungsperspektiven nachzugehen und dabei den unterschiedlichen „Dimensionen der Fremdheit wie der über sie vermittelten Identitätsbildung“1 nachzugehen. Hellmanns Beitrag, der den programmatischen Untertitel Eine Studie zur SystemtheorieSystemtheorie des Fremden trägt, stellt unübersehbar eine Weiterentwicklung der von Alfred SchützSchütz, Alfred entfalteten Gedanken dar und bettet sie in die Systemtheorie von Niklas Luhmann ein. Zugleich bezieht der Autor aber auch Überlegungen von Rudolf StichwehStichweh, Rudolf, Armin NassehiNassehi, Armin und Alois HahnHahn, Alois, die er als Beiträge zu einer Systemtheorie des Fremden ansieht, in seine Ausführungen mit ein. Dabei formuliert er zwei Leitfragen, eine komparativ-historische und eine allgemein anthropologische:

1 Wie gehen evolutionärEvolution unterschiedliche Gesellschaftsformen wie StammesgesellschaftStammesgesellschaft, HochkulturHochkultur und modernemodern GesellschaftGesellschaft mit FremdheitFremdheit um […]

2 Welche allgemeinen Merkmale weist die KonstruktionKonstruktion von FremdheitFremdheit auf?2

Hellman, der die Ausdrücke ‚der Fremde‘, ‚das Fremde‘ und ‚FremdheitFremdheit‘ weithin synonym fasst, operiert mit einem evolutionistischen Ansatz, der die Varietät historischer und gegenwärtiger Partikularkulturen in ein ‚trinitarisches‘ Schema fasst. Auffällig ist, dass diese Typologie ausschließlich auf der Zeitachse angesiedelt ist. Offensichtlich geht der Verfasser davon aus, dass sämtliche menschlichen Partialkulturen dieser WeltWelt insgesamt mehr oder minder linear drei Stadien durchlaufen: jenes der StammesgesellschaftStammesgesellschaft, jenes der HochkulturHochkultur und jenes der ModerneModerne. Die FrageFrage, ob es aber nicht auch auf der Raumachse bemerkenswerte Unterschiede im Umgang mit Fremdheit gibt, bleibt von Anfang an ausgespart. Hellmans zweite Leitfrage zielt darauf ab, dass es, ungeachtet der verschiedenen Kulturstadien, menschliche Universalien gibt, also gewissermaßen eine Anthropologie der Fremdheit und des Fremd-SeinsSein, die sich in ganz bestimmten Reaktionsbildungen und Konstruktionsformen niederschlägt. Eine solche Position hält sich gegenüber naturwissenschaftlich-biologischen Fragestellungen offen. Mit dem evolutionsgeschichtlichen Schema und der Hypothese einer transkulturellentranskulturell anthropologischen Konstante im Umgang mit dem Fremden geht ein gewisser Reduktionismus einher, der das Spezifische kultureller Möglichkeiten hintanstellt.

Kommen wir auf die drei Stadien menschlicher KulturKultur im Sinne dieses systemtheoretischen Ansatzes zu sprechen, so lässt sich sagen, dass dieser davon ausgeht, dass stammesgeschichtliche GesellschaftenGesellschaft zu extremen Reaktions- und Konstruktionsweisen im Hinblick auf den Fremden neigen. In ihnen gibt es die Möglichkeit, den Fremden zu verherrlichen, ihm göttliche Eigenschaften zuzusprechen oder ihn gar zum Stammeshäuptling zu machen. Eine konträre Option ist die Tötung des Fremden, sein realer und symbolischer Verzehr oder seine soziale EinverleibungEinverleibung (Heirat).3 Diesen Extremismus erklärt Hellman aus dem Umstand, dass diese Gesellschaften auf GrundGrund ihrer Homogenität noch nicht über Sozial- und Kulturtechniken verfügen, Fremde auf eine ganz spezifische Weise im eigenenEigentum Raum zu platzieren.4 Solche frühen Gesellschaftsformen sieht HellmannHellmann, Kai-Uwe dadurch charakterisiert, dass sie segmentär differenziert sind. Das heißt, dass sie „aus füreinander gleichen Teilsystemen wie Familien oder Verwandtschaftsnetzwerken“ bestehen.5

Die KonstitutionKonstitution stabiler kultureller SystemeSystem gelingt auch im Falle von HochkulturenHochkultur, die ähnlich wie die Stammesgesellschaften RitualeRitual im Umgang mit dem Fremden entwickeln. Ein solcher Brauch ist etwa die GastfreundschaftGastfreundschaft, die aber unversehens in Fremdenfeindlichkeit umkippen kann. In den Hochkulturen ist es möglich, dass Fremden im neuen sozialen und kulturellen Umfeld bestimmte Sonderrollen zugewiesen bekommen. In diesem Zusammenhang lässt sich auch auf SimmelSimmel, Georg verweisen, der als erster auf die Funktionen der Schlichtung (SchiedsrichterSchiedsrichter) oder Vermittlung zwischen Binnenwelt und Außenwelt (der reisende HändlerHändler) hingewiesen hat.6

Im Gegensatz zu rezenten GesellschaftenGesellschaft sind HochkulturenHochkultur aber primär stratifiziert differenziert, sie bestehen aus „füreinander ungleichen Teilsystemen“ (Ober- und Unterschicht, Stadt/Land).7 Die ErfahrungErfahrung von Ungleichheit und HeterogenitätHeterogenität ist hier, im Gegensatz zu Stammesgesellschaften, gegeben. Dies ermöglicht es, MenschenMensch aus anderen Herkunftskulturen dem Ungleichheitsgebot entsprechend – oben oder unten – zu positionieren.

In der ModerneModerne wiederum kehrt sich das Verhältnis von Einheimischen und Fremden, von Vertrauten und Unvertrauten dramatisch um. Während der Fremde in rezenten und hochkulturellen GesellschaftenGesellschaft eher die Ausnahme darstellt, so wird er, dem Typenschema der kulturellen Evolutionstheorie folgend, nunmehr in einem urban geprägten Lebensalltag zur RegelRegel.

ModerneModerne GesellschaftenGesellschaft beruhen auf „funktioneller Differenzierung“. Das ist eine zentrale Kategorie in LuhmannsLuhmann, Niklas SystemtheorieSystemtheorie. Hier beruht die Gesellschaft „aus füreinander gleichen wie ungleichen Teilsystemen“. Gleich sind diese Teilsysteme, weil sie alle eine „gesellschaftlich relevante Funktion“ besitzenBesitzen, ungleich sind diese Teilsysteme, weil diese Funktionen völlig verschieden sind. Dabei verliert die Familie gegenüber den beiden anderen Gesellschaftstypen zunehmend ihre identitätsstiftende Rolle.

In den modernenmodern anonymen GesellschaftenGesellschaft, in der die Teilsysteme weithin voneinander entkoppelt sind, wird die ErfahrungErfahrung von FremdheitFremdheit und Fremd-SeinSein zu einer „erwartbaren NormalitätNormalität“ (StichwehStichweh, Rudolf). Die Beunruhigung durch das Fremde löst sich in einer Gesellschaft, in der alle einander fremdfremd sind, tendenziell auf und büßt ihren Schrecken ein – so die überaus optimistische Diagnose einer konstruktivistischen SoziologieSoziologie des Fremden.8

Nicht erst die weltweit grassierende XenophobieXenophobie, sondern schon die nationalennational Homogenisierungsbestrebungen (Nationsbildung) machen sichtbar, dass das hier vorgelegte Modell viel zu einfach und linear konzipiert ist. Will man diese PhänomenePhänomen nicht kulturgeschichtlich als Rückzugsgefechte früherer und überkommener Konstruktionsformen des Eigenen und des Fremden ansehen, dann wird deutlich, dass die kulturellen Homogenisierungstendenzen, die überall, etwa im europäischen Kontext zur symbolischen Vereinheitlichung in den Bereichen von KulturKultur, MedienMedien und Öffentlichkeit nationaler GesellschaftenGesellschaft führen, quer zu jener von der soziologischen SystemtheorieSystemtheorie konstatierten funktionellen Differenzierung stehen. An dieser Stelle wird übrigens ein Kontrast zwischen sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven unübersehbar. Beschäftigt sich etwa die SoziologieSoziologie mit der Funktion des Fremden in verschiedenen Typen von Gesellschaften, rückt mit der KulturanalyseKulturanalyse jener Aspekt des SymbolismusSymbolismus ins ZentrumZentrum, der sich womöglich nicht so leicht dem funktionalistischen Denken, wie es die Sozialwissenschaften grosso modo bestimmt, zuordnen lässt. Der Fremde unserer Tage, der Migrant, wird, über die ökonomischen Existenzängste hinaus, als „beunruhigendes Moment“ wahrgenommen, weil er die eigeneEigentum traditionelle IdentitätIdentität bedroht. Er wird als Agent einer kulturellen EnteignungEnteignung wahrgenommen, als einer ‚EntfremdungEntfremdung‘ in einem freilich non-marxistischen Sinne. Eben weil alles und alle fremdfremd geworden sind, erhält die SehnsuchtSehnsucht nach ‚HeimatHeimat‘ einen kräftigen Schub.9 Während vormoderne Kulturen über Mechanismen verfügen, FremdheitFremdheit im eigenen Kontext sozial und kulturell zu neutralisieren und zu kanalisieren, besteht in modernenmodern, post-nationalen Gesellschaften Bedarf an neuen Techniken, mit der eigenen und der fremden Fremdheit umgehen zu lernen.

In jedem Fall ist FremdheitFremdheit nicht im Sinne fester Attribute fixierbar. Fremdheit ist, sozial- wie kulturwissenschaftlich, kontextuell: „Fremd ist, wer als fremdfremd bezeichnet wird.“10 Jede DifferenzDifferenz trägt das symbolische Potential in sich, Fremdheit und damit potentiell Feindschaft und Konflikt zu konstruieren.11 Solche dramatischen Beispiele sind uns aus der Zeitgeschichte bekannt: So wurden etwa die europäischen JudenJuden in Zentraleuropa durch Mechanismen der Ausgrenzung und VerfolgungVerfolgung als andere, fremde „Rasse“ stigmatisiert. Ein weiteres Beispiel ist die Transformierung religiöser Unterschiede in unvereinbare Fremdheit, die Kroaten, Serben und bosnische Muslime im Zuge der post-jugoslawischen KriegeKrieg zu erbitterten Feinden gemacht hat. Im Prinzip basiert die Nationsbildung seit dem 19. Jahrhundert auf der ProduktionProduktion von Fremdheit: Die Fremden sind MenschenMensch, die nicht in das BildBild einer sprachlich und kulturell homogenen Nationalkultur passen; sie sind die FeindeFeind im eigenenEigentum Haus, die fünfte Kolonne, die es gegebenenfalls sogar handgreiflich auszuschalten gilt.

Die SystemtheorieSystemtheorie des Fremden versucht demgegenüber, die FremdheitFremdheit kommunikations- und informationstheoretisch zu fassen. In diesem Sinne schließt HellmannsHellmann, Kai-Uwe Aufsatz an Alfred SchützSchütz, Alfred an, der die Situation des Fremden dadurch charakterisiert sieht, dass er mit der neuen kulturellen Lebenswelt, in die er als Migrant eintritt, unvertraut ist. In der KonstruktionKonstruktion von Fremdheit spielt demnach das „Verstehensproblem“ eine fundamentale Rolle.12 Im Unterschied zu Schütz, der die Unvertrautheit aus der Sicht des Fremden beschreibt, lenkt die Systemtheorie ihr Hauptaugenmerk auf die Perspektive der Mehrheitsgesellschaft.

HellmannHellmann, Kai-Uwe betrachtet KulturKultur und KommunikationKommunikation teilweise synonymisch. Er interessiert sich nicht zuletzt deshalb für ‚Kultur‘ unter ihrem kommunikativen Aspekt, weil sich dadurch der Großbegriff ‚GesellschaftGesellschaft‘ mit dem der ‚Kultur‘ verschränken lässt.

Kulturelle Prozesse in diesem Sinne generieren insofern eine Stabilität, als die Mitglieder einer soziokulturellen Entität davon ausgehen, dass InformationInformation und KommunikationKommunikation funktionieren. Sie unterliegen einem Automatismus, der den Beteiligten oft gar nicht bewusst ist und auch nicht bewusst zu sein braucht. In diesem Sinn gibt es so etwas wie symbolische und kommunikative Selbstverständlichkeit. Der Fremde ist nun jene Konfiguration, die dieses Selbstverständnis irritiert. Für den Einwandernden sind sprachliche Bezüge zunächst ein Problem, weil er oder sie den neuen kulturellen Kontext und die damit einhergehenden sozialen Spielregeln noch nicht kennt. Für das bestehende ‚SystemSystem‘ kann FremdheitFremdheit zum Stein des Anstoßes werden, weil – so das Modell der SystemtheorieSystemtheorie – die gewohnte Kommunikation ins Stocken gerät, was zu „Störungen von Routineabläufen und Krisenkommunikation“13 führt. Zugleich eröffnet diese Fremdheit die Möglichkeit der Innovation und der Veränderung, weshalb der Autor die Figur der AmbivalenzAmbivalenz ins SpielSpiel bringt. Diese ist ähnlich wie die asymmetrischeAsymmetrie Situation des Fremden und die ErfahrungErfahrung der Unvertrautheit eine universale, auch wenn die drei gesellschaftlichen Idealtypen der Systemtheorie (StammesgesellschaftStammesgesellschaft, HochkulturHochkultur, ModerneModerne) unterschiedlich damit umgehen mögen.

 

Im zweiten Teil der Abhandlung kommt der Aufsatz nun eingehender auf die soziale KonstruktionKonstruktion jener FremdheitFremdheit als Unvertrautheit zu sprechen. VertrautheitVertrautheit und das eher weniger gebräuchliche Gegenstück Unvertrautheit enthalten KonnotationenKonnotation, die etwa über Bekanntheit bzw. UnbekanntheitUnbekanntheit hinausreichen.14 Denn bei der Unvertrautheit geht es nicht um das bloße Fehlen bestimmter Kenntnisse und InformationenInformation, sondern auch darum, dass sie mir nicht selbstverständlich sind und dass ich mit bestimmten Symbolismen, Kulturtechniken und Spielregeln nicht umzugehen gelernt habe. Ferner steckt in der Un/Vertrautheit eine andere Nebenbedeutung, nämlich das (Nicht-)VertrauenVertrauen, das hier ein doppeltes ist: das (Nicht-)Vertrauen in die zunächst ungewohnten Verfahren, Regeln und Lebensformen der neuen KulturKultur, in die ich geraten bin, und das Nicht-Vertrauen in jene MenschenMensch, die diese Kultur repräsentieren. Das gilt im Sinne der asymmetrischenAsymmetrie ReziprozitätReziprozität selbstredend auch für den Einheimischen, der durch die Unvertrautheit des Fremden mit seiner Kultur verunsichert wird. Die Existenz des kulturell Fremden stellt strukturell eine Infragestellung meiner kulturellen Selbstverständlichkeit dar.

HellmannHellmann, Kai-Uwe formuliert demgegenüber das Problem des Fremden und der mit ihm einhergehenden PhänomenePhänomen durchaus formaler, nämlich als Nichtverstehen, Unvertrautheit, Problem, KriseKrise und AmbivalenzAmbivalenz. Für ihn setzt sich KommunikationKommunikation „als Operation aus drei Selektionen“ zusammen, wobei das aus dem Darwinismus bekannte Wort ‚Selektion‘ Auswahl und Präferenz meint, zugleich aber auch auf den evolutionstheoretischen Ansatz des Verfassers verweist. Bei den drei FormenForm der Selektion beruft er sich auf LuhmannLuhmann, Niklas:

1 InformationInformation: Bei der Information geht es um die Auswahl eines „möglichen Sachverhalts“ aus der Vielfalt möglicher Aussagen über die WeltWelt. („Worüber sprichst Du?“)

2 Mitteilung: Bei der Mitteilung steht die „Auswahl eines möglichen Mitteilungsverhaltens“ aus der Vielfalt der möglichen Aussagemodi. („Meinst Du das ernst?“)

3 VerstehenVerstehen: Beim Verstehen geht es darum, den Unterschied zwischen InformationInformation und Mitteilung verstanden zu haben. Erst durch das Verstehen kommt KommunikationKommunikation zustande. Das Verstehen wird in diesem Zusammenhang gleichfalls als eine Selektion verstanden, nämlich als eine zwischen Kommunikation und Nicht-Kommunikation.15

HellmannHellmann, Kai-Uwe unterscheidet im Hinblick auf das (Nicht-)VerstehenVerstehen drei Möglichkeiten: das kommunikative Rauschen (Nicht-KommunikationKommunikation), das operative Begreifen und das strukturelle Verstehen. Im Fall des operativen Begreifens funktioniert der Kommunikationsablauf formal, während er beim strukturellen Verstehen auf den ‚inhaltlichen Gehalt‘ zielt:

Wenn man die KonstruktionKonstruktion von FremdheitFremdheit systemtheoretisch als eine KommunikationKommunikation begreift, dann war der Verstehensversuch zumindest auf der operativen Ebene erfolgreich: Es wurde eine DifferenzDifferenz von InformationInformation und Mitteilung beobachtet, die Kommunikation kam als Operation zustande. Anders auf der Ebene der Beobachtung, dem strukturellen VerstehenVerstehen, wo es darum geht zu deuten, was und wie jemand etwas mitteilt, also Information und Mitteilung von ihrem inhaltlichen Gehalt her zu verstehen.16

Das Nicht-VerstehenNicht-Verstehen, das mit FremdheitFremdheit einhergeht, kann nun alle drei FormenForm der Selektion betreffen, die InformationInformation, die Mitteilung und das VerstehenVerstehen als solches.

1 Das Nicht-VerstehenNicht-Verstehen der InformationInformation: „ManMan, Paul de kennt die WeltWelt des Fremden nicht und weiß nicht, worüber er spricht.“

2 Das Nicht-VerstehenNicht-Verstehen der Mitteilung: ManMan, Paul de versteht zwar die InformationInformation, nicht aber die FormForm der Mitteilung, weil mir die Person fremdfremd erscheint.

3 Das Nicht-VerstehenNicht-Verstehen des VerstehensVerstehen: Hier wird weder die InformationInformation noch die Mitteilung verstanden, weil mir das Wissen über die WeltWelt ebenso fremdfremd ist wie der Modus der Mitteilung. Das erzeugt eine radikale FremdheitFremdheit und Unvertrautheit. Der Fremde erscheint hier als ein uneinholbares Wesen, das nicht unsresgleichen ist. HellmannHellmann, Kai-Uwe zitiert in diesem Zusammenhang einen Satz Wittgensteins: „Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen.“17

In einer – gemeinsamen – WeltWelt im Status einer bestimmten Gewissheit zu leben, das könnte unter Rückgriff auf Alfred SchützSchütz, Alfred eine Umschreibung von VertrautheitVertrautheit darstellen. Diese ist latent und befindet sich im Zustand des für selbstverständlich Gehaltenen. Weil sie unhinterfragt ist, verbindet sie MenschenMensch zu einer GemeinschaftGemeinschaft. In der Gemeinschaft besteht ein bestimmter Grad von Einvernehmlichkeit: „Systemtheoretisch betrachtet ist es entscheidend, daß Vertrautheit im Kommunikationsprozeß Anschlußfähigkeit absichert.“18

Der hier verwendete Begriff ist eigentümlich sperrig und beinhaltet zwei Momente: Einerseits meint Anschluss den Vollzug der ZugehörigkeitZugehörigkeit zu einer GruppeGruppe, mit der ich ein mehr oder minder strukturiertes Bündel von Gewissheiten teile. Andererseits wird mit dem zweiten Teil des Kompositums auf meine Möglichkeit angesprochen, den Akt der IntegrationIntegration zu vollziehen. Diese kann ich gegenüber einem Fremden, dessen Lebenswelt und oft auch SpracheSprache ich nicht kenne, nicht realisieren, sie ist im höchsten Maße eingeschränkt. Aber auch der oder die Fremde befindet sich, womöglich noch auf eine ungleich prekärere Weise, in der Situation, sich nicht anschließen zu können. Das führt zu einer „Erwartungsenttäuschung“19, denn jede KommunikationKommunikation basiert, der SystemtheorieSystemtheorie zufolge, wie sie HellmannHellmann, Kai-Uwe uns hier exemplarisch vorführt, auf der Erwartung ihres Gelingens. Das Vertraute wird problematisiert. „Die ErfahrungErfahrung des Fremden konfrontiert die Gewißheit des Vertrauten gewissermaßen mit einer Situation, in der sich diese Gewissheit als Illusion erweist […].“20 Daraus entstehen drei weitere PhänomenePhänomen, die mit FremdheitFremdheit als sozialer KonstruktionKonstruktion einhergehen: Problem, KriseKrise und AmbivalenzAmbivalenz. Diese drei Momente bedingen einander, denn das strukturelle Nicht-VerstehenNicht-Verstehen in der Kommunikation führt zu Erwartungsenttäuschung und Vertrauensverlust. Diese wiederum lösen eine Krise über die Gewissheiten aus, die eine sozio-kulturelle Entität ausmachen und charakterisieren. Diese Krise wiederum trägt das Merkmal der Ambivalenz in sich, insofern sie nicht nur einen Verlust alter Gewissheiten, sondern neue Möglichkeiten eröffnet. Ambivalenz bedeutet stets auch die unaufhebbare DualitätDualität von AngstAngst und Neugierde.21