Theorien des Fremden

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5.5. AneignungAneignung und EnteignungEnteignung

Das Fremde und Fremdartige werden, wie das UnheimlicheUnheimliche, das Freuds (→ Kapitel 3), als etwas Ambivalentes erfahren. Es ist ebenso bedrohlich wie verlockend und zieht Prozeduren wie Eindämmung, Ausschließung und Einschränkung, aber auch solche der Entgrenzung und Auslieferung nach sich. Diese kulturellen Reaktionen, die er als „Überreaktion und Gegenreaktion“ bezeichnet, nennt der deutschedeutsch Philosoph AneignungAneignung und EnteignungEnteignung. Sie sind Modi der Bändigung von FremdheitFremdheit.

AneignungAneignung wie EnteignungEnteignung setzen WaldenfelsWaldenfels, Bernhard zufolge zwei Momente voraus:

 Das Eigene und das Fremde werden als etwas vollkommen Getrenntes erfahren.

 Die Zersplitterung der physischen und sozialen WeltWelt, der Verlust ihrer (angenommenen) früheren Einheitlichkeit.

AneignungAneignung bedeutet: „Fremdes wird bewältigt, indem es am Eigenen gemessen wird, als Dublette (Alter Ego), als Abwandlung.“ Dieser EgozentrismusEgozentrismus („possessiver IndividualismusIndividualismus“) ist insbesondere in der okzidentalen wissenschaftlichen RationalitätRationalität am Werk, die im Sinne einer klaren cartesianischen Unterscheidung von InnenInnen und AußenAußen operiert, die auch die Methoden und das Maß der EmpathieEmpathie bzw. der Nicht-Empathie bestimmen.1 Die IntegrationIntegration der zersplitterten WeltWelt vollzieht sich in einem „totalen, allumfassenden Denkraum“. Der LogozentrismusLogozentrismus, das Monopol der VernunftVernunft, verbindet sich in dieser zentralen Aneignungsform des Fremden mit der LogozentrikLogozentrik; zusammen entsteht ein Komplex der EthnozentrikEthnozentrik. WaldenfelsWaldenfels, Bernhard teilt also die Kritik an problematischen Aspekten der klassischen okzidentalen EpistemeEpisteme und verbindet diese mit der Praxis des KolonialismusKolonialismus auf der politischen Ebene.2

Die EnteignungEnteignung bedeutet demgegenüber Auslieferung an das Fremde. Für WaldenfelsWaldenfels, Bernhard stellen all jene romantischen Strategien des détachment und depaysement (Lévi-Strauss) nur die Kehrseite der Aneignungs-Strategien dar. Dabei wird das Eigene und Eigenartige durch das Fremde und Fremdartige ersetzt, das nunmehr als eine rettende Alternative zur vertrauten KulturKultur erscheint. Aber auch diese TechnikTechnik der Enteignung basiert demzufolge auf einer statischen und binären Gegenüberstellung von Eigenem und Fremdem. Waldenfels kommentiert das an einer Stelle recht trocken, wenn er meint: „Doch ein europäischer Buddhist bleibt ein Europäer.“3

ErfahrungErfahrung als Auseinandersetzung etabliert eine „Zwischensphäre“ als ein „Zusammenwirken mit Fremdem“. In diesem Prozess kommt es zu „Erfahrungsanordnungen“, die das Fremde strukturieren, normalisieren, filtern und adaptieren. Das Fremde als ein kostbares Gut, das unter unserem Griff gleichsam schmilzt.

AneignungAneignung und EnteignungEnteignung setzen immer schon eine Binarität, eine TrennungTrennung von Fremden und Eigenem voraus, eine Kluft, die durch die Aneignung des Fremden bzw. durch die Selbstaneignung des SelbstSelbst überwunden werden soll. Im phänomenologischen Modell befinden wir uns immer schon in Bezügen, in die FremdheitFremdheit eingelagert ist. Von den drei Elementen der Beziehung der dialogischen Situation (Ich, Du, die Beziehung) wird in dieser Denkwende das unscheinbare Und der Beziehung konstitutiv.

Dieser programmatische Blickwechsel hat drei Dimensionen. Sie beziehen sich allesamt auf einen Modus von ErfahrungErfahrung, der ohne „AndersheitAndersheit“ nicht denkbar ist. Sie unterscheiden sich darin, dass ihr Ausgangspunkt verschieden ist, sie gehören letztendlich zusammen:

Die AndersheitAndersheit des Anderen. Hierbei kommt das LacanLacan, Jacques-Theorem zum Tragen, das folgendes besagt: SpracheSprache ist immer etwas für jemanden, bevor sie etwas bezeichnet. DialogDialog ist und bedeutet Verflochten-SeinSein im Wechselspiel, PolylogPolylog und Vielstimmigkeit (BachtinBachtin, Michail).

Die AndersheitAndersheit des Ich: Es gibt keine StimmeStimme, die für sich spricht. Aus uns spricht immer ein Anderer, eine Andere. Hier bekommt die AntwortAntwort noch eine ganz andere Dimension als die des Schließens. Sie meint Bezugnahme auf eine andere Person: „Das Ich findet nie ganz und gar seinen OrtOrt und ist somit nie völlig es selbst, sondern immer auch ein anderes.“4 WaldenfelsWaldenfels, Bernhard spricht vom „Spalt, der das ich und somit das SubjektSubjekt durchzieht“.

Die AndersheitAndersheit der fremdenfremd OrdnungOrdnung will WaldenfelsWaldenfels, Bernhard als ein „Grenzspiel“ verstanden wissen. IntersubjektivitätIntersubjektivität, IntrasubjektivitätIntrasubjektivität und InterdiskursivitätInterdiskursivität: das sind jene neuen Kulturtechniken und Momente, die fremde Ordnung „zu erreichen“, sie aber niemals anzueignen oder zu annektieren.

Zum Schluss des Kapitels erinnert der Autor mit Seitenblick auf die fortdauernden philosophischen Debatten seit den 1990er Jahren daran, dass das modernemodern SubjektSubjekt eine Doppelbedeutung hat, als selbstverantwortliches Subjekt und als hypokeimenon, als ein Unterworfenes.

In seinen Reflexionen für und wider das „SubjektSubjekt“ erwähnt er die Verteidiger einer „harten“ Subjekt-Konzeption: Diese kritisieren etwa im Gefolge von Jürgen HabermasHabermas, Jürgen den „TodTod des Subjekts“ als einen Verzicht auf Verantwortung, als eine Auslieferung an fremdefremd Mächte, als eine AuflösungAuflösung errungener FormenForm, als RegressionRegression und ÄsthetizismusÄsthetizismus. Verteidigt werden dabei IdeenIdee wie AutopraxisAutopraxis und AutonomieAutonomie. WaldenfelsWaldenfels, Bernhard löst diesen Widerstreit nicht auf, sondern liefert nur einen indirekten Hinweis, wenn er IntersubjektivitätIntersubjektivität nicht als ein Vis-à-vis autonomer Subjekte, sondern als eine Zwischensphäre, als ein Wechselspiel von Anspruch und AntwortAntwort begreift und damit versucht, diese OppositionOpposition von Autonomie und HeteronomieHeteronomie zu unterlaufen.5

Das Fremde wirft, so ließe sich WaldenfelsWaldenfels, Bernhard’ Ansatz resümieren, FragenFrage auf, die sich nicht im klassischen Sinn eindeutig beantworten lassen. Die Frage konstituiert einen DialogDialog, der zeigt, dass es AntwortenAntwort gibt, die insofern die Struktur einer Frage haben, insofern sie etwa offen lassen oder halten. Waldenfels weiß aber auch, dass es Antworten auf den Fremden und das Fremde geben muss, wenn die Selbstverantwortung des MenschenMensch nicht beseitigt werden soll. Die HeteronomieHeteronomie, die AbhängigkeitAbhängigkeit von Anderem, setzt nicht die Verantwortung außer Kraft, die Fähigkeit zu handeln und zu denken. Aber diese relationale FreiheitFreiheit vollzieht sich stets im Horizont des Alteritären.

6. Georg SimmelSimmel, Georg und Alfred SchützSchütz, Alfred: FremdheitFremdheit in soziokulturellen Bezügen und in der Lebenswelt. Mit einem Exkurs zu Carl SchmittSchmitt, Carl und Werner SombartSombart, Werner sowie zu gegenwärtigen Ansätzen in der SoziologieSoziologie
6.1. Vorbemerkung

Im folgenden Kapitel kommen sozialwissenschaftliche DiskurseDiskurs zur SpracheSprache, die historisch betrachtet bis in die Anfänge der modernenmodern SoziologieSoziologie zurückreichen und die ihre Fortsetzungen in den 1920er und 1930er Jahren gefunden haben. Behandelt werden Autoren wie Georg SimmelSimmel, Georg und Alfred SchützSchütz, Alfred. Diskutiert werden aber auch zwei Autoren, die zu Recht als politisch problematisch gelten, deren Texte kritisch zu sichten aber doch sinnvoll ist, zumal beide seit den 1980er Jahren auch in politisch ganz andersAndersheit orientierten Diskursen wieder aufgegriffen wurden. Ihre Namen tauchen in fast allen gegenwärtigen sozialtheoretischen Abhandlungen zum Thema des Fremden auf. Die Rede ist von Carl SchmittSchmitt, Carl und Werner SombartSombart, Werner. Mit Rudolf StichwehStichweh, Rudolf und Kai-Uwe HellmannHellmann, Kai-Uwe kommen zwei deutschedeutsch Theoretiker zu Wort, die unübersehbar von der Luhmannschen SystemtheorieLuhmannsche Systemtheorie und ihrem radikalen HolismusHolismus beeinflusst sind. In ihr erscheint der Fremde hauptsächlich als eine bloße Systemgröße. Damit ist er eine mitunter überaus gewichtige Figur, die zum einen durch die StigmatisierungStigmatisierung deplatziert ist, zum andern aber gerade deshalb eine maßgebliche Funktion in der Schaffung und Erhaltung sozialer Gefüge innehat.

6.2. EinschlussEinschluss im AusschlussAusschluss: Die Figur des Fremden bei Georg SimmelSimmel, Georg

Wie der Luzerner SoziologeSoziologe Rudolf StichwehStichweh, Rudolf anmerkt, sind in den Jahren zwischen 1890 und 1945 eine Reihe von Texten publiziert worden, „für die sich heute der Name einer SoziologieSoziologie des Fremden anbietet“.1 In diesem Zusammenhang fallen unter anderen auch die Namen von Georg SimmelSimmel, Georg (1858–1918),2 Robert Ezra ParkPark, Robert Ezra (1864–1944), Werner SombartSombart, Werner (1863–1941) und Alfred SchützSchütz, Alfred (1899–1959). Sie gelten als zentrale Stichwortgeber in einer Disziplin, für die das Thema nicht nur wie geschaffen schien, sondern auch durch die die Figur eine bedeutsame kulturanthropologische Weitung erfuhr.

Der Text von Georg SimmelSimmel, Georg, der neben Karl MarxMarx, Karl und Alfred WeberWeber, Samuel als einer der Mitbegründer der deutschendeutsch SoziologieSoziologie gilt, steht dabei zeitlich am Anfang, erschien er doch bereits im Jahre 1908. Mit der Figur des Fremden hat sich Simmel, der nicht zuletzt auch als Theoretiker des Geldes, der Mode und der GeschlechterGeschlecht hervorgetreten ist, Horst StengerStenger, Horst zufolge „immer wieder beschäftigt, mit Fremdheitserfahrungen kaum, jedenfalls nicht mit einem deutlich konturierten systematischen Interesse“.3 Diese Ansicht ist weit verbreitet und zugleich erstaunlich, schon deshalb, weil sie die systematische Absicht hinter der essayistischen FormForm übersieht. Mit Simmels kultursoziologischem ‚Gründungstext‘ über den Fremden liegt nämlich eine schwergewichtige und äußerst verdichtete Abhandlung vor, die sowohl die Figur und Funktion des Fremden als auch dessen ErfahrungenErfahrung in Augenschein nimmt. Woran sich die aktuelle Soziologie reibt, ist womöglich jene unsystematische, ‚essayistische‘ Verfahrensweise eines ihrer Gründungsväter. Dabei bleibt außer Acht, welche reflexive, analytische Leistung und welche Plastizität durch diese kreisende und assoziative Denkbewegung möglich sind. Gerade im Hinblick auf ein überaus komplexes und paradoxes PhänomenPhänomen wie FremdheitFremdheit kann dieses Verfahren neue Bedeutungskontexte eröffnen.

 

Zentrale TheseThese bei SimmelSimmel, Georg ist, dass sich FremdheitFremdheit als eine soziale Beziehung und Position begreifen lässt. Dieses Alteritätskategorie ist demzufolge keine substanzielle Eigenschaft, sondern relational und darüber hinaus kontextabhängig. Ähnlich wie in den Texten von Alfred SchützSchütz, Alfred und Robert Ezra ParkPark, Robert Ezra4 kommt dabei auch die Binnenperspektive des Fremden, also die FremdheitserfahrungFremdheitserfahrung zur SpracheSprache. Wie wir gesehen haben, macht es in Hinblick auf das Thema dieses Buches einen erheblichen Unterschied, ob man diese aus der subjektiven Perspektive des- und derjenigen, der/die die ErfahrungErfahrung von Fremdheit und die damit verbundene Zuschreibung von außenAußen erfährt, erlebt, oder ob man diese aus einer Außenperspektive darstellt.

SimmelsSimmel, Georg zentraler Text über den Fremden findet sich in einem Werk, das auf GrundGrund seines Titels ein systematisches Vorgehen suggeriert: SoziologieSoziologie. Untersuchungen über die FormenForm der VergesellschaftungVergesellschaftung. Bei genauerem Hinsehen erweist sich dieses Werk aber als überaus heterogenHeterogenität und enthält viele Themen, die Simmel in knappen, essayistisch behandelten Texten behandelt hat: Streit und Geheimnis, Raum und Erbamt (Vererbung eines herrscherlichen Amtes), Schmuck und Adel, Treue und Dankbarkeit, soziale Stratifikation, IndividualismusIndividualismus und GruppeGruppe. Zusammengehalten wird das Buch durch eine systematische methodische Fragestellung, in der die Soziologie als eine Wissenschaft von der Vergesellschaftung begriffen wird. Dieser prozessual gedachte Vorgang wird dabei sowohl im Lichte der SozialisationSozialisation wie auch der KulturalisationKulturalisation definiert. Was Simmel thematisiert und ihn für die gegenwärtige KulturanalyseKulturanalyse attraktiv macht, ist der Umstand, dass soziale und kulturelle PhänomenePhänomen hier immer im Zusammenhang mit Beziehungen und Positionierungen untersucht werden.

Der knappe, überaus dichte Text über den Fremden findet sich im neunten und vorletzten Kapitel des Buches. Es ist der dritte Exkurs im RahmenRahmen von SimmelsSimmel, Georg Überlegungen zu Raum und Räumlichkeit. Raum versteht Simmel dabei nicht in einem vornehmlich physischen oder territorialen Sinn, sondern als ein soziokulturelles Gestaltungsprinzip. Der Raum ist nur dann ein menschlicher Raum, wenn er bestimmte soziale und kulturelle Funktionen erfüllt, wenn er von MenschenMensch nach ganz bestimmten Regeln bewohnt und benutzt wird. Der Raum ist ein wesentlicher Faktor dessen, was menschliche KulturKultur und GesellschaftGesellschaft möglich macht und plastisch verdichtet.

Der Fremde wird dabei nicht durch bestimmte ‚essentialistischeessentialistisch‘ Eigenschaften, sondern durch seine PositionierungPositionierung in einem gegebenen soziokulturellen Raum bestimmt. Jede Veränderung dieses Raumes kann die jeweilige Position von MenschenMensch verändern. Wenn sich ein sprachlich, ethnischEthnie oder religiös zunächst heterogenerHeterogenität Raum tendenziell homogenisiert (wie das im Fall der europäischen Nationsbildungen der Fall war und ist), dann werden Menschen, ohne dass sie sich selbst geändert haben, plötzlich Fremde, zumindest aber Marginalisierte, die sich am RandRand einer symbolischen RaumRaum (symbolisch)ordnung oder gar außerhalbAußerhalb von ihr befinden. Umgekehrt ist es natürlich ebenfalls denkbar, dass Menschen in einem gegebenen Raum ihre deplatzierte Position aufgeben und sich plötzlich in einer anderen, günstigeren sozialen Position befinden.

SimmelsSimmel, Georg Ausführungen über den Fremden sind also von vornherein in eine Theorie des Spatialen eingebettet. Diese geht davon aus, dass sich, systemtheoretisch gesprochen, in modernenmodern GesellschaftenGesellschaft verschiedene Dimensionen des Räumlichen ausdifferenzieren. Er unterscheidet zwischen physischen, sozialen, symbolischen und imaginären Räumen. Darüber hinaus betont Simmel den engen Zusammenhang zwischen dem Raum und seinen Beschränkungen: Konstitutives Bestimmungsmerkmal des Raumes ist seine GrenzeGrenze. Fremde sind MenschenMensch, die sich außerhalbAußerhalb oder an den Rändern eines gegebenen sozialen und symbolischen Feldes befinden. Nicht zuletzt denkt Simmel dieses Makrophänomen raumzeitlich, das heißt als einen bewegten modus vivendi. Dieser Punkt ist für sein Verständnis des Fremden ganz entscheidend. Denn ähnlich wie bei Chamisso (→ Kapitel 3.3.) sind Fremde für ihn Menschen, die nicht in verfestigte Raumordnungen passen.

SimmelsSimmel, Georg Text akzentuiert in seinem Konzept des Fremden das Moment der BewegungBewegung: Fremde MenschenMensch sind dadurch charakterisiert, dass sie wandern: Sie zeichnen sich durch eine „Gelöstheit von jedem gegebenen RaumpunktRaumpunkt“ aus und stehen damit im Gegensatz zu jenen Fixierungen, die für das PhänomenPhänomen des Raumes charakteristisch sind.

Der und die Fremde verkörpern also die EinheitEinheit beider Bestimmungen. Er und sie sind nicht im Raum fixiert und befinden sich zugleich im Status innerer wie äußerer Beweglichkeit. Generell gesprochen ist das Verhältnis zum Raum zum einen die notwendige Bedingung, zum anderen aber das „SymbolSymbol“ des „Verhältnisses zu MenschenMensch“. Auf die Figur des und der Fremden umgelegt, bedeutet dies, dass fremdefremd Menschen ihr Verhältnis zu den Räumen, in die sie einwandern, ex negativo bestimmen. Dies geschieht durchaus unfreiwillig: Flucht vor gewaltpolitischer VerfolgungVerfolgung, KriegKrieg oder Vertreibung sind klassische FormenForm von krasser Fremdbestimmung. In dem Raum, den sie neu betreten, sind sie oft durch den Abstand zu den von anderen, den Einheimischen, bewohnten Gefilden bestimmt und befinden sich auch symbolisch außerhalbAußerhalb dieser. Ihnen wird von den Lokalen ein Platz zumeist am RandeRand zugewiesen.

Bisher haben wir das Fremde unter anderem aus kognitiver Perspektive (das Unbekannte), als Kategorie der DifferenzDifferenz, als ProduktProdukt systematischer psychisch-affektiver Verdrängung, als Gegensatz zur ‚HeimatHeimat‘ und in vielen weiteren Konstellationen kennengelernt. SimmelSimmel, Georg thematisiert das Fremde indes als eine höchst widerspruchsvolle Erscheinung, in der Kategorien wie NäheNähe und Ferne eine zentrale Rolle spielen.

Der SoziologeSoziologe unterscheidet in seinem Essay die permanenten von den potenziellen WanderndenWandernde. Erstere führen ein nomadisches LebenLeben, die anderen haben oftmals provisorisch an einem OrtOrt angesiedelt, sind aber ihrer ganzen Haltung nach mobil. Die ÜbergängeÜbergang sind dabei fließend und wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Räume, von denen die Rede ist, nicht nur physisch-reale, sondern auch symbolische und virtuelle sind. Beide Typen gehören „von vornherein“ nicht in die räumliche OrdnungOrdnung, in der sie sich befinden. Vor allem für die MenschenMensch, die sich nach ihrer Wanderung niederlassen und eingerichtet haben, ist dies markant. Sie sind einst in diesen Raum gekommen und trugen Qualitäten in ihn hinein, die nicht aus diesem stammen und stammen können:

Die EinheitEinheit von NäheNähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen MenschenMensch enthält, ist hier zu einer, am kürzesten so zu formulierenden Konstellation gelangt: Die DistanzDistanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, daß der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, daß der Ferne nah ist. Denn das Fremdsein ist natürlich eine ganz positive Beziehung, eine besondere WechselwirkungsformWechselwirkungsform; die Bewohner des Sirius sind uns nicht eigentlich fremdfremd – dies wenigstens nicht in dem soziologisch in Betracht kommenden Sinn des Wortes –, sondern sie existieren überhaupt nicht für uns, stehen jenseits von Fern und Nah. Der Fremde ist ein Element der GruppeGruppe selbst, nicht andersAndersheit als die Armen und die mannigfaltigen, inneren FeindeFeind – ein Element, dessen immanente und Gliedstellung zugleich ein AußerhalbAußerhalb und Gegenüber einschließt.5

NäheNähe und DistanzDistanz sind zwei Momente räumlicher VerdichtungVerdichtung, die das Verhältnis von MenschenMensch zueinander bestimmen. Dabei ist zunächst ganz klar, dass die Fremden sich in diesem Verhältnis auf dem Pol der Distanz befinden, während die Heimischen in einem prinzipiellen Nähe-Verhältnis zueinander stehen. Sie können jedoch unter andere, ganz spezifische Ausschlussbedingungen fallen, wenn sie zum Beispiel Arme, innere FeindeFeind oder aber auch, im Falle traditioneller patriarchalischer GesellschaftenGesellschaft, Frauen sind.

Wie schnell sichtbar wird, hat die NäheNähe-Ferne-RelationRelation noch eine andere konstitutive Bedeutung: Durch den Fremden, der plötzlich Teil unserer GruppeGruppe geworden ist, rückt das Ferne in die Nähe und das Nahe, das sich durch die AnwesenheitAnwesenheit von Fremden gleichsam ‚verfremdet‘, in die Ferne: Diese Konstellation ist für SimmelSimmel, Georg das entscheidende, AngstAngst auslösende Charakteristikum des Fremden, das uns zu nahe kommt.

Das Fremde in seiner persönlichen wie unpersönlichen Dimension ist im Sinne einer Theorie der VergesellschaftungVergesellschaftung, wie sie SimmelSimmel, Georg vor Augen steht, ein maßgeblicher, ja konstitutiver Faktor. Ohne FremdheitFremdheit gäbe es nicht jenes ZusammengehörigkeitsgefühlZusammengehörigkeitsgefühl, das sich durch die Abgrenzung vom Fremden her- und einstellt. Das ist insofern ein provokanter Befund, als sich die FrageFrage stellt, ob die Organisation von Zusammenhalt und SolidaritätSolidarität überhaupt ohne jene Figur möglich ist, die sich laut Simmel außerhalbAußerhalb unserer GemeinschaftGemeinschaft oder an ihren Rändern befindet. Gerade weil sich die/der Fremde in dieser markanten Position befindet, gehört sie auf höchst paradoxe Weise zu jenem Raum, der sie ausschließt; hat sie, obschon exterritorialExterritorialität oder peripher, eine zentrale Bedeutung für die soziokulturelle KonstruktionKonstruktion menschlicher Räume. Simmel spricht in diesem Zusammenhang von „WechselwirkungsformWechselwirkungsform“. Nur wenn der/die Fremde eine solche Funktion einnimmt, ist er/sie streng betrachtet ein Fremder oder eine Fremde. Der Autor verweist zum Beispiel auf hypothetische Bewohner anderer Sonnensysteme und statuiert, dass die möglichen vielleicht menschenähnlichen Lebewesen auf dem Sirius soziologisch und kulturell für uns gar nicht existieren, da sie jenseits des Verhältnisses von Nah und Fern stehen. Das bedeutet aber auch, dass Nah und Fern keine arretierten Größen darstellen, sondern die Plätze tauschen können. Ein MenschMensch der DiasporaDiaspora ist stets bzw. zunächst randständig in der KulturKultur, in die er einwandert, aber der einheimische Mensch findet sich in der diasporischen Partialkultur unversehens in der Position jener Deplatziertheit, die für den Fremden eigentümlich ist. Das lässt sich auch umkehren: Jede marginale ‚Platzzuweisung‘ erzeugt Fremdheit. Diese ist demzufolge nicht angeboren, sondern Ergebnis sozialer Platzierungen, mit denen symbolische Markierungen einhergehen.

Im Unterschied zum Fremden, der in der Ferne bleibt, kommt uns der MenschMensch, der in unsere KulturKultur einwandert, etwa der Exilant, nahe. Dadurch wird er ein widersprüchliches Element der GruppeGruppe selbst, so wie die Armen, die FeindeFeind, oder die Frauen bzw. Männer. Unabhängig von seinem jeweiligen Fremdheitsattribut (Kultur, SpracheSprache, GeschlechtGeschlecht, ReligionReligion, HautfarbeHautfarbe) gehören der FlüchtlingFlüchtling, der Migrant oder der Vertriebene genau deshalb zu einer Gruppe bzw. zu einer Kultur, weil sie scheinbar nicht dazugehören. Ihre räumliche PositionierungPositionierung schließt ein „AußerhalbAußerhalb“ und ein „Gegenüber“ mit ein.

 

Die klassische oder vormoderne Figur des Fremden ist SimmelSimmel, Georg zufolge der HändlerHändler, der Tauschagent. Aber auch in den hypermodernenhypermodern GesellschaftenGesellschaft unserer Tage sind diese Funktionen enorm wichtig, wenn man dem HandelHandel das Gastgewerbe und bestimmte Dienstleistungsfunktionen, wie die elektronische Datenübertragung, hinzufügt. In vorkapitalistischen Eigenbedarfs-Ökonomien bedarf es nur der Händler: für ProdukteProdukt, die in einem bestimmten Raum nicht erzeugt werden und von außenAußen importiert werden.

Dabei lassen sich je nach Entwicklungsgrad von ÖkonomieÖkonomie und HandelHandel zwei Typen unterscheiden. Der eine ist der Fremde als HändlerHändler, der aus seiner (bisherigen) HeimatHeimat ProdukteProdukt beschafft, die es in der anderen KulturKultur nicht gibt. Diese Wanderbewegung entspricht der BewegungBewegung des Hin- und Herpendelns.

Der andere ist der Fremde als HändlerHändler, der OrteOrt aufsucht, in denen er selbst fremdfremd ist, um dort Gegenstände zu beschaffen.6 Der Händler erscheint hier als Agent und Repräsentant fremder ProdukteProdukt schlechthin: „Die Position verschärft sich für das Bewusstsein, wenn er statt den Ort seiner Tätigkeit wieder zu verlassen, sich an ihm fixiert.“7 Er wird zum Träger des Zwischenhandels, „Supernumerarius“ in einem Kreis etablierter gesellschaftlicher Beziehungen, die vorkapitalistisch durch GrundGrund und BodenBoden sowie durch Handwerk charakterisiert sind. Seiner ursprünglichen gesellschaftlichen Position nach ist der Fremde kein BodenbesitzerBodenbesitzer oder HandwerkerHandwerker. SeinSein Verhältnis zum territorialen Raum ist nämlich unsicher, denn seine Position ist zwar eine wichtige, aber immer deplatzierte. Darin besteht seine für die jeweilige GemeinschaftGemeinschaft durchaus wichtige, womöglich lebensnotwendige Sonderstellung. Komplexere GesellschaftenGesellschaft bedürfen eines Netzwerks von Händlern. Dabei handelt es sich also um keine Gefälligkeit gegenüber der betreffenden Gesellschaft, sondern der Fremde erfüllt eine maßgebliche ökonomische Funktion, die mit TauschTausch, HandelHandel und GeldGeld konnotiert ist. Diese Faktoren sind wiederum imstande, MisstrauenMisstrauen und NeidNeid hervorzubringen. Beispiele für diesen traditionellen Typus des fremden Händlers liegen auf der Hand: die europäischen JudenJuden, die Griechen und Armenier im Osmanischen ReichOsmanisches Reich, die Chinesen und Inder in mittlerweile nahezu allen Erdteilen dieser WeltWelt.

In seiner Bestimmung der Rolle des Fremden kommt SimmelSimmel, Georg auch auf einen ganz anderen Punkt zu sprechen, auf das, was er die Objektivität des Fremden nennt. Diese ergibt sich für ihn aus der Sonderstellung, die er in dem gegebenen Raum einnimmt. Unvoreingenommenheit meint, dass er in der betreffenden GruppeGruppe oder GemeinschaftGemeinschaft gering verwurzelt ist und deshalb nicht in die subjektiven Gegensätze der heimischen MenschenMensch verstrickt ist. Diese NeutralitätNeutralität ist also keine ‚natürliche‘ Eigenschaft, sondern ergibt sich aus seiner widerspruchsvollen Position im soziokulturellen Gewebe. Objektivität bedeutet nicht einfach bloßer Abstand und Unbeteiligtheit, sondern „ein besonderes Gebilde aus Ferne und NäheNähe, Gleichgültigkeit und Engagement“.8

Das Beispiel, das SimmelSimmel, Georg anführt, entnimmt er der GeschichteGeschichte italienischer Renaissance-Städte, die häufig Richter von auswärts beriefen, um ihre Unstimmigkeiten und Streitfälle zu schlichten. Ganz generell lässt sich dabei an Schiedsrichterfunktionen denken, wie wir sie auch vom Fußball oder aber der internationalen Diplomatie her kennen.

Unter bestimmten Bedingungen wird der Fremde auf GrundGrund seiner sozialen Stellung, seiner Außenseiterposition, zum Rezipienten von Konfessionen, BeichtenBeichte und Geheimnissen, die man den nahe stehenden MenschenMensch oft nicht mitteilt. Die von SimmelSimmel, Georg ins SpielSpiel gebrachte Kategorie der Objektivität, die hier rein soziologisch und relational zu verstehen ist, impliziert eine gewisse soziale FreiheitFreiheit: Der Fremde ist nicht an „Festgelegtheiten“9 gebunden. Sie hat aber auch damit zu tun, dass er in dem gegebenen gesellschaftlichen Raum keine Machtposition innehat. Das ermöglicht ihm die Sekundärmacht des Zuhörens und Schlichtens. Diese Freiheit gewährt auch die Möglichkeit, das Nahe wie auch das Ferne gleichsam aus der Vogelperspektive zu betrachten, wird doch KulturKultur stets aus der wirklichen oder angenommenen Perspektive des Fremden analysiert.

Aber diese privilegierte, objektive Ausnahmestellung kann leicht in GewaltGewalt und AggressionAggression umschlagen. Denn wenn die sozialen Gefüge ins Wanken kommen, dann schlägt die Stimmung gegen die Fremden sofort um: „Von jeher wird bei Aufständen aller Art von der angegriffenen Partei behauptet, es hätte eine Aufreizung von außenAußen her, durch fremdefremd Sendlinge und Hetzer stattgefunden.“10 Der AntisemitismusAntisemitismus der Nationalsozialisten, der sowohl KapitalismusKapitalismus als auch KommunismusKommunismus als fremde, ergo jüdische ProdukteProdukt begreift, ist ein erschreckendes Beispiel dafür. Immer ist es der MenschMensch, der von außen kommt, durch den das Übel in die eigeneEigentum HeimatHeimat geschleust wird.

Insofern gerät der Fremde potentiell in jene Position, die der französische Literaturwissenschaftler und Anthropologe René GirardGirard, René als „SündenbockSündenbock“ bezeichnet hat. Wenn eine GesellschaftGesellschaft in eine KriseKrise – PestPest, HungersnotHungersnot, WirtschaftskriseWirtschaftskrise, verlorener KriegKrieg – gerät, wird von der betroffenen Bevölkerung nach einem Schuldigen gesucht. Wie Girard am Beispiel der Pest zeigt, sind es an der Wende zur NeuzeitNeuzeit in EuropaEuropa die Fremden im Eigenen, die ‚jüdischen Brunnenvergifter‘, die diese Funktion übernehmen müssen. Ihre schiere Existenz erklärt scheinbar den Ausbruch der Krise und ihre reale wie symbolische Vernichtung verspricht einen Ausweg aus ihr.11 In gewisser Weise lässt sich also auch sagen, dass Fremde produzierbar sind. In Freuds Terminologie heißt das, dass der Fremde jene Figur ist, an der sich die kollektive AggressionAggression einer sozialen Entität – einer überschaubaren vormodernen GemeinschaftGemeinschaft, aber auch einer abstrakten modernenmodern Gesellschaft – entlädt. Von einer MagieMagie der GewaltGewalt spricht Girard in diesem Zusammenhang: Der Gewalt wird die Kraft zugesprochen, reinigend und klärend zu wirken.12 Sigmund FreudFreud, Sigmund wiederum beschreibt, wie die Aggression nach AußenAußen im Sinne einer Triebentladung im Inneren funktioniert. Die strukturell gewalttätige KonstitutionKonstitution des Fremden schweißt die Einheimischen zu einer geschlossenen GruppeGruppe zusammen. Freud formuliert das ganz lapidar: „Es ist immer möglich, eine größere Menge von MenschenMensch in LiebeLiebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrig bleiben.“13

Schauen wir uns nun an, wie SimmelSimmel, Georg das Verhältnis von Bekannten und Fremden vergleicht. Diese RelationenRelation unterscheiden sich signifikant voneinander. Zu den Fremden, die nur ganz allgemeine Qualitäten mit der einheimischen GruppeGruppe und ihrer KulturKultur gemeinsam haben, zu diesen Heimatlosen, unterhält die einheimische Gruppe ein höchst abstraktes, emotional schwaches GemeinschaftsgefühlGemeinschaftsgefühl. „JeJe größer die AbweichungAbweichung“, schreibt der französische Kulturtheoretiker René GirardGirard, René, „um so größer das Risiko der VerfolgungVerfolgung“. 14 Hinzuzufügen ist, dass sich diese Abweichungen potentiell durch Bündelung – soziale, ethischeEthik und sexuelle Unterschiede – aufladen.