Theorien des Fremden

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Die FrageFrage bleibt indes, ob die LiebeLiebe wirklich die einzige und vorgängige Beziehung zum Anderen darstellt. Aber es wäre vorschnell, Lévinas eines kosmischen Optimismus zu bezichtigen. In der Liebe zeigt sich vielmehr die Möglichkeit unseres alteritärenAlterität In-der-WeltWelt-SeinsSein. Zweifelsohne ist auch für Lévinas die GewaltGewalt eine Möglichkeit in der Beziehung zum Anderen, die indes nicht imstande ist, dessen SchattenSchatten abzuwerfen.

4.5. Die VorgängigkeitVorgängigkeit des Anderen

Kommen wir noch einmal auf die zentrale Aussage der Lévinasschen Alteritäts-Philosophie, auf die VorgängigkeitVorgängigkeit des Anderen, auf die Tatsache, dass er uns immer zuvorkommt, zu sprechen: Wie zeigt und wie manifestiert sich diese AnwesenheitAnwesenheit des Anderen in mir? Um LévinasLévinas, Emmanuel’ Denkweise zu verstehen, sei noch einmal auf das, was DerridaDerrida, Jacques als „DislokationDislokation des griechischengriechisch LogosLogos“ bezeichnet hat, verwiesen. Diese Dislokation, diese Dezentrierung bzw. VerschiebungVerschiebung, wird aus einer Perspektive vorgenommen, die geistesgeschichtlich betrachtet unverzichtbarer Teil der okzidentalen TraditionTradition ist, nämlich die personale Gottesvorstellung im JudentumJudentum und den aus ihm hervorgegangenen ReligionenReligion. Lévinas’ Philosophie ist insofern säkularisiertes Judentum (und bis zu einem gewissen Grade auch ChristentumChristentum), als sie die Vorstellung von GottGott als dem Anderen, der uns anspricht, in ihrer Denkstruktur aufnimmt und systematisch ausbreitet. Aus dem transzendenten jenseitigen ‚Gott‘ wird ein ‚antezendentaler‘, d.h. uns vorausgehender und von uns nicht gewählter, immanenter und diesseitiger Anderer, den wir schon in uns selbst antreffen, noch ehe er uns äußerlich begegnet sein muss.

Die Präferenz des Anderen gegenüber dem SelbstSelbst thematisiert Lévinas nun auf unterschiedliche Weise:

1 Die erste Erfahrungsweise dieser VorgängigkeitVorgängigkeit ist die Epiphanie des Antlitzes.1 „Das GesichtGesicht ist keine Metapher und keine Figur […]“, fügt DerridaDerrida, Jacques kommentierend an.2 Das altertümliche deutschedeutsch Worte AntlitzAntlitz enthält im Gegensatz zum Gesicht, das sich vom Passiv ‚gesehen werden‘ ableitet, die KonnotationKonnotation eines aktiven Gegenübers, das ich ansehe, dass es mich ansieht: „Das Antlitz ist nichts anderes als die IdentitätIdentität des seins. Es zeigt sich, wie es selbst ist, ohne Begriffe.“3 Vorgängigkeit wiederum besitzt einen zeitlichen und einen prinzipiellen Aspekt, etwas/jemanden, das/der mir stets zuvorkommt und das/der mich anspricht, bevor ich selbst das Wort erhoben habe.Diese DifferenzDifferenz ist aber nicht eine, die mir äußerlich gegenübertritt, sondern die schon immer in mich eingeschrieben ist. Dieser Vorrang manifestiert sich in dem, was Lévinas als EpiphanieEpiphanie des Antlitzes bezeichnet. Wobei das Wort Epiphanie in unserer kulturellen TraditionTradition, wie schon angedeutet, eine religiöse Aufladung in sich trägt, eine FormForm von Erscheinung, deren Bedeutung über die reine Wahrnehmung hinausgeht und auf etwas zielt, was Evidenz besitzt.Das AntlitzAntlitz ist also eine Art InstanzInstanz, die über die bloße Sichtbarkeit hinausgeht und die sich auch darin manifestiert, dass der Anblick GottesGott unerträglich ist. Das GesichtGesicht ist aber auch – und hier klingt wohl auch die phänomenologische Schulung an – die verletzliche Stelle des Anderen. In ihr manifestiert sich zugleich die GesteGeste der Zuwendung (oder auch der Abwehr). Jene Geste steht in der philosophischen Formel von der EpiphanieEpiphanie des Antlitzes im ZentrumZentrum. Epiphanie, ein griechischesgriechisch Wort aus dem neutestamentarischen Kontext, bedeutet: in Erscheinung treten, sich offenbaren. In der alteritärenAlterität Begegnung, so ließe sich sagen, tritt der Andere im Gestus seines bloßen, nacktennackt, ungeschminkten Gesichtes, unabhängig von dessen spezifischer Beschaffenheit in Erscheinung. Mehr als alle anderen körperlichen Dimensionen manifestiert sich im „Antlitz“ ein SeinSein, das vom Anderen her zu denken ist. DerridasDerrida, Jacques Kommentar aus dem Jahre 1967 bringt das recht bündig auf den Punkt, wenn er schreibt:Im GesichtGesicht teilt sich der Andere leibhaftig als Anderer mit, das heißt als etwas, was sich nicht offenbart, als das, was sich nicht thematisieren läßt. Ich kann unter keinen Umständen über den Fremden reden, ein Thema aus ihm machen, ihn im Akkusativ als Gegenstand bezeichnen. Ich kann allein, ich darf einzig und allein zum Fremden sprechen, ihn im VokativVokativ anreden, der keine Kategorie und kein Kasus der SpracheSprache, sondern das Hervortreten, die Erhöhung der Sprache selbst ist.4

2 Um den Anderen zu ‚verstehen‘, kann ich nur in Kontakt mit ihm treten. Genauer gesagt stehe ich jedoch vielleicht bereits ohne es zu wissen oder zu wollen im Kontakt mit ihm. Er hat mich nämlich angerufen: Er manifestiert sich nicht nur als AntlitzAntlitz, sondern auch als die StimmeStimme, als der RufRuf, der mich ereilt.5 Damit bekommt aber der Begriff der VernunftVernunft eine völlig verschobene Bedeutung: Vernunft lässt sich als ein Vernehmen dessen begreifen, was jemand gesagt hat. Dabei ist das Sprechen nicht nur ein instrumentales Medium der KommunikationKommunikation, vielmehr ist sie, der das PhänomenPhänomen von Stimme und Ruf zugrunde liegt, selbst eine EpiphanieEpiphanie des Anderen. Die SpracheSprache richtet sich an dieses ‚fremdefremd‘ unerreichbare Gegenüber, das indes in ihr nicht begrifflich enthalten ist. Das heißt aber, dieser (oder auch diese und dieses) ist auf paradoxe Weise in der Sprache enthalten und manifestiert sich im So-SeinSein der Sprache selbst, eben weil er begrifflich nicht in ihr vorkommt. Mit anderen Worten: Die Sprache enthält ein Moment der Zuwendung, des Auf- und Anrufs. Deshalb ist der VokativVokativ, dieser scheinbar marginale Kasus der Grammatik europäischer Sprachen, für das Verständnis der Sprache selbst zentral: weil die Sprache immer schon eine Anrede, ein kommunikativer Akt ist.

3 Um die ethischeEthik Implikation, die in der menschlichen Grundkonstellation der AlteritätAlterität enthalten ist, zu verstehen, muss man noch einmal auf die Figur des personalen GottesGott eingehen, der strukturell das Modell für das PhänomenPhänomen des Alteritären für LévinasLévinas, Emmanuel abgibt und der sich als unsichtbares, transzendentes GesichtGesicht (AntlitzAntlitz) und als vernehmbare StimmeStimme offenbart. In der LogikLogik von Lévinas fallen dabei Immanenz und TranszendenzTranszendenz tendenziell zusammen. Der konkrete empirische MenschMensch vertritt dabei den Anderen schlechthin, der mich transzendiert, das heißt hier übersteigt. Die Begegnung mit dem Anderen hat nämlich eine strukturell religiöse Dimension. Dieser Andere bleibt nämlich ein Geheimnis und begründet zugleich eine InstanzInstanz, die mich als ethisches und freies Wesen konstituiert.

4 Das Vis-à-vis „ist das einzige Wesen, das ich töten wollen kann“, es ist aber das einzige, das mir den Befehl erteilt; ‚Du wirst keinen Mord begehen‘ und meine MachtMacht absolut einschränkt“.6 Das was früher einmal Metaphysik gewesen ist, kristallisiert sich als eine EthikEthik heraus, die als Seinslage des MenschenMensch bestimmt ist.

4.6. Von der IntimitätIntimität zur Allgemeinheit des Anderen

Ausgangspunkt von Lévinas’ Überlegungen ist, dass das menschliche SeinSein, das SchuldSchuld und UnschuldUnschuld kennt, aus der TotalitätTotalität des Seins herausfällt. Denn es ist die Konfiguration des Anderen, die das Prinzip des Seins übersteigt und die ethischeEthik Grundsituation des MenschenMensch bildet. In späteren SchriftenSchrift reflektiert Lévinas darüber, ob die PaarPaar-Beziehung, die in Die ZeitZeit und der Andere als Modell der Alteritätsbeziehung diente, wirklich als exemplarisch für die alteritäreAlterität Grundsituation des Menschen dienen kann. Gewiss, am Beispiel der erotischenErotik Begegnung des Paares lässt sich veranschaulichen, dass der Andere kein begrifflich fassbares PhänomenPhänomen ist, insofern behält das Beispiel auch seinen WertWert; aber das Paar stellt phänomenologisch besehen schon programmatisch eine Besonderheit dar. Kurzum, eine Philosophie des Alteritären muss auf eine andere ‚Figur‘ rekurrieren und diese ist die des Dritten, eben desjenigen, der (oder die) aus der Paarbeziehung ausgeschlossenAusschluss ist.

Aus einer solchen Perspektive erscheint das exklusive LiebespaarLiebespaar als eine „innere GemeinschaftGemeinschaft“, die in „ihrer Autarkie durchaus der falschen TotalitätTotalität des Ich vergleichbar“ ist.1 In seiner radikalen Version ist diese erotischeErotik LiebeLiebe modernenmodern, genauer romantischen UrsprungsUrsprung. Sie begreift sich als ganzheitlich und bedeutet EinsamkeitEinsamkeit à deux: „Liebe heißt existieren, als wären Liebender und Geliebter allein auf der WeltWelt.“ Und: „Das intersubjektive Verhältnis der Liebe ist nicht Beginn, sondern NegationNegation der GesellschaftGesellschaft.“2

Schon Ludwig TieckTieck, Ludwig hat diese totale ‚romantische‘ LiebeLiebe in einer späteren, post-romantischen Novelle Des LebensLeben Überfluß höchst ironisch konterkariert. SeinSein LiebespaarLiebespaar verabschiedet sich mehr und mehr von der WeltWelt, weil es ohne Abstriche dem kategorischen Imperativ seiner erotischenErotik Liebe, seiner LibidoLibido folgend, nicht mehr das Haus verlassen will und von der äußeren Not, Hunger und Kälte eingeholt wird. Dass es zu guter Letzt das hölzerne Stiegenhaus zum Brennmaterial macht, hat dabei natürlich eine hintersinnige Bedeutung, bildet doch diese den (einzigen) Zugang zur Außenwelt.

 

Sigmund FreudsFreud, Sigmund umfangreiche Abhandlung Das Unbehagen in der KulturKultur lebt von der gleichen OppositionOpposition von Privatem und Öffentlichem, von LibidoLibido und GesellschaftGesellschaft. Denn das menschliche Unbehagen des (westlichen) MenschenMensch an der von ihm geschaffenen Kultur resultiert für Freud letztendlich daraus, dass die modernemodern, auf ArbeitArbeit beruhende Kultur die Libido des Menschen massiv einschränkt und damit dessen BegehrenBegierde substanziell unterdrückt. Aber auch hier befindet sich die Freud zufolge von den Frauen eingeforderte LiebeLiebe in Opposition zur kulturellen LogikLogik der modernen Gesellschaft, die auf Triebverzicht zugunsten gesellschaftlich verordneter Arbeit drängt.3

Für den späten LévinasLévinas, Emmanuel ist die individuelle PaarPaar-LiebeLiebe aber noch aus einem anderen GrundGrund ethischEthik problematisch. Dies hat mit dem AusschlussmechanismusAusschlussmechanismus zu tun, der jedweder individuellen Liebe zugrunde liegt. Gewiss, wir sind entgegen gewisser sozio-erotischerErotik Phantasien (zu denken wäre dabei an die Konzepte des Frühsozialisten FourierFourier, Charles, die 1968 – make love, not war – eine gewisse Renaissance erfuhren) außerstande, alle MenschenMensch, wenigstens potentiell, gleich intimintim und intensiv zu lieben. Das liefe darauf hinaus, die Geschlossenheit des Paares zu einer totalitären GesellschaftGesellschaft hin zu prolongieren. Die sexuelle oder auch nur sexualisierte GemeinschaftGemeinschaft kann von daher nicht als Modell für die Gesellschaft dienen. Wenn wir also dem Anderen in seiner allgemeinen und generellen Bedeutung nicht im geliebten und liebenden, im begehrten und begehrenden Anderen begegnen, muss er sich an einem anderen OrtOrt befinden. Und diesen Ort benennt LévinasLévinas, Emmanuel ex negativo:

Das wirkliche ‚Du‘ ist nicht das von den Anderen abgesonderte geliebte Wesen. Es begegnet uns in einer anderen Situation. Die KriseKrise der ReligionReligion im geistigen LebenLeben unserer ZeitZeit beruht auf dem Bewußtwerden dessen, daß die GesellschaftGesellschaft über die LiebeLiebe hinausgeht, daß beim DialogDialog der Liebenden immer ein verletzter Dritter dabei ist und daß ihm gegenüber die GemeinschaftGemeinschaft der Liebenden im Unrecht ist. Der MangelMangel an Universalität rührt hier nicht von einem Mangel an Großzügigkeit, sondern vom exklusiven Wesen der Liebe her. Jede Liebe […] ist die Liebes eines Paares. Die geschlossene Gemeinschaft ist das PaarPaar.4

Daraus folgert der späte Lévinas: „Die irdische MoralMoral fordert zum unbequemen Umweg über die Dritten auf, die von der LiebeLiebe ausgeschlossenAusschluss wurden.“5 Der Dritte ist derjenige, der in der Liebe dadurch anwesendAnwesenheit ist, dass er abwesend ist. Aber aus der besonderen Situation der Liebe heraus kann keine EthikEthik entstehen, denn diese ist dadurch charakterisiert, dass sie allgemein ist. Eine Sonderform, die nur für bestimmte GruppenGruppe von MenschenMensch gilt, ist streng besehen keine, will man Ethik nicht einfach als den Ethos einer Gruppe oder einer KulturKultur begreifen. Will sie universalistisch sein wie jene von Lévinas (und das eigentlich gilt für alle modernenmodern Ethiken), muss sie von daher den Anderen so unspezifisch wie möglich zu fassen suchen. Lévinas spitzt diesen Tatbestand zu, wenn er schreibt: „Wahres Unrecht – das heißt unverzeihliches – gibt es nur gegenüber dem Dritten.“6 Ob das wirklich so stimmt, darüber lässt sich streiten. Denn schließlich sind die ersten und zweiten, aus denen das PaarPaar besteht, immer potentiell auch Dritte. Dass ich für einen Menschen der intimeintim Andere bin (und neben dem Status des Geliebten gibt es ja noch weitere exklusive Alteritätsrelationen, VaterVater / MutterMutter, FreundFreund/Freundin usw.) bedeutet ja umgekehrt nicht, dass ich aus dem Status des Dritten vertrieben bin.

Was allen AlteritätAlteritätsbeziehungen gemeinsam ist und was die intimeintim Beziehung womöglich radikalisiert, ist das, was man als die Deplatzierung des SelbstSelbst bezeichnen kann, die den Kern des Lévinasschen Denkens bildet: „Daß das SelbstbewusstseinSelbstbewusstsein sich nun außerhalbAußerhalb unseres Selbst bildet, verleiht der SpracheSprache, unserer VerbindungVerbindung mit dem Draußen eine erstrangige Rolle.“7

Kommen wir noch einmal auf die niemals strenge Unterscheidung von Fremde und der AndersheitAndersheit im Hinblick auf LévinasLévinas, Emmanuel zu sprechen: Der Fremde kann in diesem Zusammenhang auch durchaus als problematische Kategorie verstanden werden. Ich verstehe die Anrede seitens des Anderen nicht, weil er fremdfremd ist, weil er eine andere SpracheSprache spricht, die ich nicht verstehe. Das bedeutet, die dialogische GesteGeste zu ignorieren, die allen Sprachen gemeinsam ist. Jede Sprache enthält ja den VokativVokativ als strukturbildendes Element, eben jenes Du, das sich an den anderen richtet. Der Fremde des ethnozentrischen Rassisten ist so anders, dass kein Anerkennungsverhältnis möglich ist, weil sein AntlitzAntlitz und seine StimmeStimme nicht als meinesgleichen, nicht als menschlich akzeptiert werden. Für den historischen Rassisten, der noch immer in den aktuellen politischen Diskursen klammheimlich, hinter vorgehaltener Hand, und auch nicht so verstohlen murmelt, ist der Fremde kein vollwertiger MenschMensch, weil er scheinbar ganz anders ist als er selbst, das historische SubjektSubjekt, der weiße MannMann. In Lévinas’ Philosophie bleibt der Andere, ungeachtet seiner sprachlichen, religiösen, historischen und sexuellen Spezifität, letztendlich unzugänglich, aber gerade dies setzt die BewegungBewegung hin zu ihm und ihr in Gang. Die AnerkennungAnerkennung unserer alteritärenAlterität Situation beginnt und endet aus dieser Warte nicht mit der Anerkennung einer kulturellen Spezifität. Eine FrauFrau anzuerkennen, bedeutet in dieser LogikLogik nicht, sie (aus männlichermännlich Sicht) als Frau zu akzeptieren; einen Menschen schwarzer HautfarbeHautfarbe anzuerkennen, heißt aus der Perspektive eines ‚Weißen‘ nicht, ihn als ‚Schwarzen‘ zu akzeptieren, sondern bedeutet in beiden Fällen, sie oder ihn als Manifestationen eben jener „EpiphanieEpiphanie des Antlitzes“ zu begreifen, die mein alteritäres In-der-WeltWelt-SeinSein manifestiert. Denn die partikulare Anerkennung trägt stets die Kehrseite in sich, den Anderen nur weil oder trotz seiner Prädikate anzuerkennen. Der unerbittlichen Strenge von Lévinas’ post-humanistischer EthikEthik, die die TotalitätTotalität des Ichs radikal in FrageFrage stellt, genügt eine solch partikulare Anerkennung keineswegs. Dass diese Ethik radikal ist und darüber hinaus einen traditionellen Hintergrund hat, den sie vollkommen neu kontextualisiert, kann wohl kaum als Einwand gegen sie ins Feld geführt werden. Ob sie ‚realistisch‘ ist, das heißt, ob sie nicht im Sinne post-marxistischer DiskurseDiskurs gesellschaftliche Realitäten ignoriert, darüber ließe sich streiten. Ihre Stärke und vielleicht auch Schwäche besteht darin, dass sie das Ethische in der existentiellen Befindlichkeit des Menschen verankert und diesen als ein Wesen begreift, das Verantwortungen dadurch übernimmt, dass es auf den Anderen antwortet. Wie jede Ethik ist jene von LévinasLévinas, Emmanuel kontrafaktisch. Das Tötungsverbot, das bei Lévinas mit dem verletzlichen Angesicht des Anderen verbunden ist, bedeutet immer auch, dass getötet wird, vielleicht auch deshalb, weil die Zumutung der Alterität und die FragmentierungFragmentierung des vermeintlichen Eigenen als unverträglich empfunden und GewaltGewalt als eine scheinbar schnelle und eindeutige Lösung begriffen wird.

Aus der Perspektive kulturwissenschaftlicher DiskurseDiskurs ließe sich Lévinas’ Alteritätsphilosophie als ein Korrektiv verstehen, das die ethischeEthik und nicht nur politische Dimension unseres Tuns beleuchtet und uns vor kulturalistischen Missverständnissen von AlteritätAlterität bewahrt.8

Der SystemtheorieSystemtheorie zufolge hat jede theoretische Beobachtung einen blinden Fleck. Im Falle von Lévinas’ Alteritätstheorie ist das zweifelsohne die fehlende Thematisierung von MachtMacht und HerrschaftHerrschaft. Denn Lévinas’ Modell erklärt sehr wohl das PhänomenPhänomen spontaner GewaltGewalt, nicht aber die Funktionsweise eines stabilisierten Herrschaftsverhältnisses. Oder andersAndersheit ausgedrückt: Die ontische Übermacht des Anderen hat immer schon eine positive ethischeEthik Dimension. So ist der Andere, anders als in der PsychoanalysePsychoanalyse, auch eine Art von Über-IchÜber-Ich, dem ich mich unterwerfe, und zwar vernünftigerweise, weil es mich zu dem macht, was der MenschMensch ist oder sein soll: ein ethisches Lebewesen.

Eine Definitions- und damit Machtfrage ist es auch, wem die „EpiphanieEpiphanie des Antlitzes“ und damit ein MenschMensch-SeinSein, mit dem ich in einen Blickkontakt trete, zugesprochen wird. Worauf hier angesprochen wird, ist die in FrageFrage gestellte DifferenzDifferenz von Mensch und TierTier. Hat das Tier also, mit Lévinas gesprochen, ein AntlitzAntlitz, eine StimmeStimme, also die Qualität des Anderen? Das ist Gegenstand eines philosophischen Disputes zwischen Lévinas und DerridaDerrida, Jacques. Während Lévinas in einem Aufsatz über die Shoah den Lagerhund, der die Todessklaven des nazistischen Lagers als Menschen respektiert, als eine ethischeEthik InstanzInstanz begreift, hat er indes stets darauf bestanden, AlteritätAlterität ausschließlich als eine Mensch-Mensch-Beziehung zu verstehen. Demgegenüber eröffnet Derrida in seinem posthum erschienenen Buch Das Tier, das ich bin eine Perspektive, die sich alteritätstheoretisch eng an LévinasLévinas, Emmanuel anlehnt und dessen Konzept gegen den älteren Philosophen wendet, indem er die Frage der Alterität des Tieres ins SpielSpiel bringt: Ich, das ist das Tier des Anderen und das Andere des Tiers (→ Kapitel 9).

Historisch betrachtet hatten übrigens für lange ZeitZeit auch viele MenschenMensch kein AntlitzAntlitz und keine StimmeStimme, etwa der Sklave, womöglich auch der Hegelsche KnechtKnecht, der außereuropäische Mensch in der Ära des KolonialismusKolonialismus. Im Sinne einer Diskursgeschichte der Grausamkeit, die immer eine am Anderen ist, würde dies erklären, warum Millionen von Menschen geschunden, verstümmelt und ermordet werden konnten, ohne dass viele der Täter ein schlechtes Gewissen hatten: eben deshalb, weil sie die Anderen nicht als die Anderen ihrer SelbstSelbst begriffen haben. Sie waren in den Augen der Täter einfach keine ‚Menschen‘.

Das KonzentrationslagerKonzentrationslager und die mit ihm verwandten Vernichtungsmaschinerien verdanken sich nicht zuletzt dem perversen Kalkül, den anderen MenschenMensch auf eine rein biologische Existenz herabzudrücken, die jener entspricht, die in einer dominantenDominanz Denktradition mit dem TierTier, der biologischen Sache, verbunden ist. Eine FormForm von AlteritätAlterität ist hier im SpielSpiel, die andersAndersheit als die von Lévinas entfaltete, auf eine radikale ExklusionExklusion hinausläuft. In diesem Sinne funktioniert die Gegenüberstellung von Mensch und Tier, wobei sich das Attribut des Nicht-Menschlichen, also Tierischen, auch auf Menschengruppen ausweiten lässt.9

Damit koinzidiert – nicht bei Lévinas, wohl aber in einer gar nicht so subkutanen okzidentalen TraditionTradition – eine DistanzDistanz, die sich etwa im Blick des weiblichenweiblich Gegenübers manifestiert. Das fremdefremd GesichtGesicht des – vorgeblich und inszenierten – ganz anderen Lebewesens FrauFrau schaut irgendwohin, es sieht mich nicht an, es steht metonymisch für den männlichenmännlich Blick als kostbares ObjektObjekt bereit (so grell imaginiert die Malerei der Jahrhundertwende das Weibliche, so konsequent philosophiert Otto WeiningerWeininger, Otto über „das Weib als die bejahte SexualitätSexualität des MannesMann“10). Man kann dies bis heute an der Parfüm- und Lingeriewerbung auf Litfaßsäulen studieren. Das Problematische ist nicht, dass die Frauen sich entblößt zeigen (eine solche Kritik ließe sich der Prüderie zeihen), sondern dass ihnen jenes Element abgeht, dass den Blick zu einem ‚menschlichen‘ macht: dass er eine Beziehung zum Anderen stiftet. Das hat aber auch damit zu tun, dass sie virtuell andauernd angestarrt und begehrlich fixiert werden, worauf sich nicht ‚antworten‘ lässt. Das macht ihre merkwürdige narzisstische EinsamkeitEinsamkeit und Melancholie aus. Mehrere Motive überlagern sich dabei: das Geheimnis, die AbwesenheitAbwesenheit, das Wissen ein Objekt des eigenenEigentum wie des männlichen Blicks zu sein; Objekt zu sein, heißt aber auch, keinen eigenen Blick werfen zu dürfen.

LévinasLévinas, Emmanuel Werk richtet sich übrigens nicht gegen ErotikErotik und Sinnlichkeit. Über das Genießen schreibt er: „Jedes Genießen ist auch Empfinden, das heißt ErkennenErkennen, und Licht“.11 Es insistiert aber darauf, dass der MenschMensch nur über den Umweg über den Anderen Zugang zu sich selbst zu finden vermag. Dieses asymmetrischeAsymmetrie Prinzip ist reziprok. Diese existenzielle Grundsituation wird in all jenen rassistischen oder sexistischen Diskursen systematisch unterlaufen, die den Anderen exklusiv und ausgrenzend positionieren, in der AngstAngst, ansonsten durch den anderen deplatziert zu werden. RassismusRassismus und Sexismus sind, von welcher Position auch immer, Angst vor jener HeteronomieHeteronomie, die zwischen dem SelbstSelbst und dem Anderen im SpielSpiel ist.