Schäm dich, Europa!

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„Dieses Buch stellt die Subjektivität als etwas dar, das den anderen empfängt, es stellt sie als Gastlichkeit dar. In der Gastlichkeit erfüllt sich die Idee des Unendlichen. (…) Subjektivität ist Gastlichkeit“.7

Doch das Mehr-Denken als man denken kann, hört hier noch lange nicht auf. Die Forderung in Form der Lévinasschen Überforderung greift noch weiter: Jeder kann für den anderen ein Messias sein. Muss es sein. Jeder von uns trägt die Verantwortung für die gesamte Welt. Trüge ein jeder von uns das Echo der Weltantwort ein Stück weiter, wäre die Last des Seins um vieles leichter. Doch es gibt eine Frage, die diese Ethik fast zerstört, in sich auflöst, in Unruhe versetzt: Der kürzlich verstorbene Philosoph Paul Ricœur hat sie gestellt: Was ist, wenn der Andere dein Henker ist, was geschieht dann? Seiner Aufforderung zu folgen, hieße freiwillig in den Abgrund zu gehen. Masochismus als Ethik? Auch auf diese Frage hält Lévinas eine Antwort bereit, die aber sein Schüler Derrida erst viel später entblößen wird. In die Paarung von Angesicht zu Angesicht, zwischen mir und dem Andern gesellt sich immer auch die Gestalt des Dritten. Erst diese Figur sorgt für Maß, für Ausgleich, für Gerechtigkeit. Mit seinem Beitritt zur Zweierrunde entsteht erst Gerechtigkeit. Lévinas schreibt:

„Der Dritte ist anders als der nächste. (…) Was also sind sie, der Andere und der Dritte (…) Was haben sie einander getan? Welcher hat Vortritt vor dem anderen? (…) Von selbst findet die Verantwortung nun eine Grenze, entsteht die Frage: Was habe ich gerechterweise zu tun? (…) Es braucht die Gerechtigkeit, das heißt den Vergleich.“8

Derrida, Schüler und großer Verehrer von Lévinas, problematisiert in seinem wunderschönen Nachruf Adieu á Emmanuel Lévinas jene mysteriöse Figur des Dritten. Und er rettet Lévinas, steht ihm bei gegen den Angriff, dieses ethische Konzept sei monströs, habe jedes Augenmaß verloren.

Darin schreibt Derrida über Lévinas:

„Aber was tut er denn, wenn er [Lévinas, d. Verf.] über das Duell oder mit dem Duell eines Von-Angesicht-zu-Angesicht zwischen zwei ‚Einzigen‘ sich an die Gerechtigkeit wendet und immer wieder bekräftigt: ‚es braucht‘ die Gerechtigkeit, es braucht‘ den Dritten? Geht er da nicht auf jene Hypothese ein (…) von einer potenziell entfesselten Gewalt in der Erfahrung des Nächsten und absoluten Einzigkeit? Von der Unmöglichkeit, dabei das Gute vom Bösen, Liebe von Hass, das Geben vom Nehmen, den Lebenswunsch vom Todestrieb, den gastlichen Empfang von der egoistischen oder narzißtischen Abkapselung zu unterscheiden? Der Dritte würde demnach gerade vor dem Taumel ethischer Gewalt schützen.“9

So weit Derrida. Doch wer ist dieser Dritte, soll hier abschließend gefragt werden? Er ist nicht der Nächste des Nächsten, nicht der Andere des Anderen. Und schon gar nicht so wie ich. Er trennt sich mit allen Grenzen von uns ab, mit allen Grenzen, die es nur geben kann. Er ist der Urabdruck des Fremden schlechthin, die absolute Andersheit. Lévinas nennt diese Erscheinung Illeität. Erheit. Doch auch dieses Unsichtbare, dieses Sich-nicht-zeigen-Wollen, dieser Verzicht auf ein eigenes Gesicht, um stattdessen dem gesichtslosen Antlitz ein wirkliches verletzbares Gesicht zu übertragen, ihm zu schenken, auch diese Illeität können wir nicht mit unseren bloßen Augen erblicken, sondern nur mittels der „Optik der Ethik“. All das verspricht uns Lévinas. Und er meint, das mysteriöse Unbekannte zeigte sich uns immer bloß in der Spur. Es ist die vom Wind in den Sand geschriebene Schrift der Wüste oder der rötliche Blattwirbel über deiner Mütze im Herbst. Es ist das Vorbeigehen eines Passanten, der niemals an dir vorübergegangen war. Lévinas schreibt dazu:

„Die Spur ist die Gegenwart dessen, was eigentlich niemals da war, dessen, was immer vergangen ist.“10

„Zu ihm hingehen heißt nicht, dieser Spur, die kein Zeichen ist, folgen, sondern auf die Andern zugehen, die sich in der Spur halten.“11

Den Anderen begegnen, bedeute für uns die Begegnung mit der Unendlichkeit. Das ist das eigentliche Wunder am Denken dieses französischen Meisters, der das Unendliche ohne Aneignung in unser Diesseits holt. Es sei möglich, sagt er, dass unser totales, hybrides Ich, wenn es sich aufgibt und zum Mich wird, also reine Passivität, das Fremde in Gastfreundschaft empfängt. Wenn dieses alte Ich einer neuen Selbstbesinnung in Form einer Selbstbeschränkung weicht, rein aus dem Wissen heraus, dass auch die Ressourcen dieser Erde nicht unendlich sind, sondern ebenfalls begrenzt, wenn es somit diese Reise aus sich heraus wagt, dann sei es möglich, dass dieses Ich letztlich das Wunder des Menschseins erfüllt. Die Lévinassche Formel wird dadurch evident, nämlich den Mord am Anderen mehr zu fürchten als den eigenen Tod. Das wäre wiederum die höchste Form des Ausbruchs aus der ewigen Verlustangst rund ums Eigene. Die Zeit, sagt Lévinas, ist die Geduld des Todes.

Lassen wir den Denkprozess bei Lévinas noch einmal kurz Revue passieren, zusammengestutzt auf sein Gerüst:

Aus dem neutralen Sein ins Seiende mit unserem halbleeren Ich, dann hinaus ins Jenseits des Seins mittels unseres Begehrens, hinein in diese Exteriorität, wo das Antlitz des Anderen mit einem Ruf auf uns wartet, den wir in Absprache mit dem Dritten gerecht zu beantworten haben, und das alles, um einmal nicht als aufgedunsener Ichling im Whirlpool der Verwöhnung zu verdampfen. Wir erreichen dieses Nicht-Land nur, in dem wir uns sprachlich äußern, doch nur menschliche Güte und Liebe sind die Träger jener Worte, die mit uns in dieses Außen gehen. Aber das heißt auch: Das gnothi seauton, das Erkenne dich selbst, dieser Knoten kann nur entwickelt werden, wenn du im gleichen Atemzug den Anderen verstehst.


Abb. 5

Logbucheintragung für eine gewagte Behauptung …

Für den Ethiker der Unendlichkeit, wie ich Lévinas an dieser Stelle bezeichnen möchte, ist unser Ich ein unentwegtes Werk, ein Tätigsein an mir, das niemals seine Abgeschlossenheit erfährt, damit wir in Bewegung bleiben, nicht ermüden in Anbetracht eines statischen Seins. Und so lässt er sein Werk mit dem erwähnten Satz beginnen: „Das wahre Leben ist abwesend, aber wir sind auf der Welt“. Im wahren Leben einmal beheimatet zu sein, hieße demnach, uns radikal anders zu denken. Meine bescheidene Formel hieße demnach: Ich + der Andere = Wir-Andere-Alle. Doch nach dieser Ortsverschiebung wären wir nicht mehr auf der Welt, sondern erstmals mitten in ihr. Ist die Unendlichkeit hier und jetzt? Von meiner winzigen Kabine aus sehe ich unendlich erschrocken nach draußen …

2.2 Vom maghrebinischen Derrida, dem ganz Anderen vom gegenüberliegenden Kap

„Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Anti-Humanismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd mit diesem Gespenst verbündet …“12

Dieser nur in zwei Wörtern veränderte erste Satz des Manifests der Kommunistischen Partei aus dem Jahre 1848 könnte den Beginn einer europäischen Geschichte bedeuten, die keine Mutter je ihren Kindern auch nur einmal erzählen möchte. Und dafür gibt es mannigfache Gründe:

Die Gespenstergeschichte handelt von einer nationalstaatlichen Engstirnigkeit, die sich seit Jahren tagtäglich an unseren Grenzen ereignet, sie spricht von einer neu aufkeimenden postkolonialen Schuld, die sich in jeden einschreibt, der als Bürger im Himmelbett von Burg-Europa zufrieden erwacht. Ich meine, Kinderohren wären der falsche Adressat für diesen Stoff, denn es handelt sich dabei um einen, den nur Erwachsene ihren Machthabern zu erzählen haben. Unentwegt, lautstark und fern postsubversiver 68er-Küchen. Vielleicht, das wäre die Hoffnung des Verfassers, risse diese Erzählung Europas Quoten- und Umfragedemokratien, deren Parlamente längst im Senderaum tagen, aus dem hegemonialen Schlaf. Noch ist es nicht so weit …

Worin, könnte man eingangs fragen, liegt das Beunruhigende dieser Gespenster, die der neue Anti-Humanismus millionenfach produziert? Liegt es an der Tatsache, dass sie nicht unserer Fantasie entspringen, an der Tatsache, dass sie nicht aus dem Jenseits nach uns herüberlangen? Von beiden etwas. Diese Gespenster sind erstmals aus echtem Fleisch und Blut und: Sie sind von hier. Oder sagen wir es präziser, nicht ganz von hier, eher Flüchtlinge von drüben, vom anderen Kap, die nur in Fällen erwünschter Dienerschaft auf der westlichen Wohlfühlmeile sich einzufinden haben. Also immer dann, wenn unser Verwöhnungsapparat personelle Engpässe hat.


Abb. 6

Im „humansten“ Fall sind sie ein Körper ohne Antlitz, ein Antlitz ohne Gesicht, eine Anschrift ohne Namen. Eine Anwesenheit in Schubhaft, eine Existenz für den Container. Und die EU? Gesetzt den Fall, der Mann im Mond würde mich danach fragen. Mit Trauer müsste man ihm zur Antwort geben, sie sei längst zur Entsorgung Unerwünschter geschrumpft und stehe unter stärkstem Verdacht, fleißig über Gesetzen zu brüten, wie man die Grundrechte eines jeden Menschen ganz legal in den Boden schrammt.

 

Würde ein weiterer Hinweis zu diesen uns so unheimlichen Gestalten eingefordert werden, dann wäre noch zu erwähnen: Nachdem wir eine große Zahl dieser Gestalten ins Herz der wahren Finsternis, also nach Amerika verschleppten, haben wir den Rest, der nicht mehr auf die Schiffe passte, geopolitisch von uns abgesprengt. Oder wie es der Buchtitel des karibischen Philosophen Stuart Hall so ganz treffend sagt: The West and the Rest.13

Hier an dieser Stelle müsste dieser Kontinent, der stets mit Stolz auf seine Homogenität, auf seine glanzvolle Selbsterfindung aus dem Nichts verweist, noch seine erste von so vielen Verschleppungstaten in Erinnerung haben. Jene Entführung der phönizischen Tochter Europa durch Zeus. Nur Kadmos, ihr Bruder, sucht seine Schwester Europa in diesem Europa bis heute vergeblich. Sollte vielleicht er der Stammvater aller dieser Gespenster sein? Doch viel Zeit hat sich inzwischen angehäuft und so erkennt der Grenzschutz diese Geschwister von Kadmos bereits als Flimmerpunkte in der Ferne, auch wenn diese nur in der Dunkelheit marschieren; er erkennt sie als infrarote Schatten auf lecken Planken, nein, die Küstenwache Spaniens nimmt ihre Nachtsichtgeräte nicht mehr vom Auge, wenn sie längs der neuen europäischen DDR auf Patrouillenfahrt geht. Europa sieht alles. Und übersieht dabei eines: Wer jeder Ankunft misstraut, ist zur Erwartung des Kommenden nicht fähig.

Monate, Jahre, und viele Sehnsüchte davor waren diese von der westlichen Dürre Geplagten aufgebrochen, als gutgekleidete Studenten, als Lehrer, als Gläubige der Religion Europa, vom Geld ihrer Familien finanziert. Auf flach gedrückten Wasserflaschen, mit einem Fetzen über die Sohlen gebunden, landeten sie schließlich beim Versprechen, das die Vereinten Nationen ihrer Würde gaben. Sie landeten in unseren Wüsten. Dafür gaben ihre Eltern ihr ganzes Erspartes her. Irgendwann an einem Morgen erfährt eine Mutter aus Mali, der Körper ihrer Kinder sei von nun an in den Stacheldrähten von Melilla für immer zu Haus …


Abb. 7

Verlassen wir diese Traurigkeit, diesen Bruch der Brüche aller Versprechen und drehen wir unseren Blickpunkt um 180 Grad. Ich lade dafür die Software von Google Earth auf meinen Bordcomputer und drücke den Button, mit dem man das Geographische wendet, dreht, bis unser eigenes Kap von der gegenüberliegenden Seite aus erscheint. Jetzt, als fremdes, als unheimliches Gestade, mit einer fernen Stadt namens Marseille weit im Norden, mit einer noch weiteren im Dunst – Paris. Und während wir uns näher ans fremde, ans maghrebinische Ufer zoomen, an den grobkörnigen Strand, an die immer deutlicher werdende Bucht, die sich wie ein ins Meer gestürzter Sichelmond unter uns zeigt, fahren wir die Jahre zählend retour: 1980, 70, 60, irgendwann in einem Herbst von 1949 machen wir halt. Unter uns erstreckt sich der mächtige Hafen von Algier mit all seinen Schiffen und Booten. Unser Blick retuschiert noch rasch die Geschäftigkeit von heute und lässt die schläfrig maritime Stille von damals zu.


Abb. 8

Gerade noch hat eine Mutter, nennen wir sie Georgette, ihren Jungen zum Abschied so herzhaft gedrückt, als ob sie diesen schmächtigen Rücken nie mehr hergeben wollte. Gerade noch … Doch nun ist der noch nicht Zwanzigjährige mit den dichten Brauen und jener Frisur, wie sie italienische Schlagersänger zu ihren silbernen Mofas tragen, seit Stunden auf See. An die Lektüre von Nietzsche, Bergson und Camus, die seekrank aus seinem Mantelsack ragt, ist bei diesem Seegang nicht zu denken, auf diesem Passagierschiff mit Kurs auf Marseille. Aber lassen wir diesen Jungen namens Jacques selber erzählen:

„(…) anderseits gab es das Meer, ein symbolisch unendlicher Raum, ein Schlund für alle Schüler der französischen Schulen in Algerien, ein Abgrund. Ich habe ihn erst mit neunzehn Jahren zum ersten Mal mit Leib und Seele überquert (aber habe ich ihn jemals überwunden?) und zwar durch eine Schiffspassage auf der Ville d’Alger. Es war die erste Reise, das erste Übersetzen meines Lebens, vierundzwanzig Stunden Seekrankheit und Brechen.“14

Jahrzehnte vergehen … Aus Jacques, der wie Camus am liebsten nur Profifußballer in Algier geworden wäre, unter Blicken von Mädchen, die nur die eine Gewohnheit pflegen, nackt zu baden am Strand von Tipasa, aus diesem Jacques, der seine Prüfungen nur mit dem Aufwand aller Kräfte, Nervenkrisen, Aufputschmittel eingeschlossen, im großen elitären Paris doch irgendwann schaffte, ist nach Jahrzehnten ein Jahrhundertphilosoph geworden.


Abb. 9

Schnitt. Zurück in die 1980er-Jahre. Eleganter Zweireiher mit gestreiftem Hemd, Stecktuch, dazu passend das weiße Haar. Und statt von zwei armseligen Koffern eingekeilt zu werden, übernehmen nun die Mikrofone der Weltöffentlichkeit diese Funktion. Er wird bis heute der einzige Mann bleiben, den die Postfeministinnen differenzlos lieben. Phallo-Logo-Phono-Eurozentrismus, und je mehr er das Denken Europas von sich weist, kreist der Kontinent um ihn. Unzählige Hochhäuser entstehen rein nach dem Bauplan seiner Sätze, seiner Dekonstruktion. Und ist es ein Wunder? Der Aufschub zwischen schwebender Säule und Boden hält. Wer, wenn nicht er, scheint im Westen, am anderen Kap, erfolgreich gelandet zu sein. Mitten in unserer dichotomischen Eintönigkeit. Könnte man meinen. Doch auf der Rückseite dieses Bildes, am leeren Foto …

Da erkennt man leicht den ganz anderen Derrida, den von diesem rissigen Kap fast seelisch zerfetzten Jungen, der an dieser Küste angekommen war, die ihn nichts als verletzte. Blenden wir zurück: Zu Zeiten des Vichy-Frankreich, das stark mit Hitler kokettierte, wird diesem kleinen jüdischen Jungen die französische Staatsbürgerschaft aberkannt, er darf nicht mehr zur Schule. Er wird gehänselt, verspottet, er ist unter den gebürtigen Franzosen ein Niemand und unter den französisch gemachten Algeriern ein Wurm. Das jüdische Denken ist ihm so fremd wie die Beschneidung. Er sitzt und läuft und atmet in einem Dazwischen, das immer gefährlicher zu werden droht. Er spricht keine dieser Sprachen, kein Jiddisch, kein Arabisch, keinen Dialekt der Berber. Die Stadtviertel, in denen er sich noch aufzuhalten hat, werden immer enger. Bleibt nur die Sprache jener, die ihm und seiner Familie das Menschsein weggenommen hatten. Verbittert schreibt er:


Abb. 10

Algerien ist bestzt worden. Ich will sagen, dass es, wenn es je besetzt war, dann gewiss nicht durch deutsche Besatzer. Der Entzug der französischen Staatsbürgerschaft für die algerischen Juden war mit all seinen Folgen alleine eine Tat der Franzosen. (…) Sie mussten davon schon seit langem geträumt haben und sie haben es ganz alleine zustande gebracht.“15

Nur so ist dieser Satz zu verstehen, den er am Anfang seines persönlichsten Buches Einsprachigkeit schreibt:

„Ich habe nur eine Sprache, und die ist nicht die meinige/​die gehört nicht mir.“16

Ich vermute, hier am Krater dieser frühen Wunde liegen die Gründe für sein stetes Dagegenschreiben, gegen den gesamten Kanon westlicher Metaphysik. Derrida, der Wittgenstein aus Nordafrika? Doch eines fällt auf, ist nicht zu übersehen … Häufig tauchen bei Philosphen, Denkern des wirklich anderen Kaps, die also noch am Körper erfahren haben, wie europäische Kolonialherrschaft schmeckt, Strategien auf, die deren Denkfiguren ähneln. Bei Edward Said17 etwa, der als Erster den Orientalismus als etwas entlarvte, was der Westen unbedingt benötigt, um sich im Schatten dieser von ihm bewusst gemachten Andersheit das Eigene zu bewahren, bei ihm heißt die Strategie: „Zurück-Schreiben“, doch zuvor jede Lektüre bewusst „Zurück-Lesen“ (reading back). Bei Gayatri Spivak18, der feministischen Dekonstruktivistin, heißt die Losung gar absichtlich „irriges Lesen“ (mistaken reading), um den Kern jeder Totalität von Beherrschung herauszusieben. Abdelkebir Khatibi, der alte Freund Derridas, nennt es „Bi-Langue“, wenn er sein Arabisch in seine in Französisch verfassten Texte schmuggelt und somit mit mehreren Stimmen, wie er sagt, in einer Sprache schreibt. Ich glaube, der ganz andere Derrida, der maghrebinische, wüstenhafte Denker, muss etwas davon haben, was der Vierte im Bunde, der neue Star der post colonial studies, Homi K. Bhabha, ebenfalls ein Derridaverehrer, die Strategie des mimic man19 nennt. Gemeint ist die Kunst der Rache des kolonisierten Mannes, der in seiner scheinbaren Überanpassung die Herrschaft geistig überrennt. Wieso könnte sich Derrida sonst so freimütig zu ihr bekennen, wenn er schreibt:

„Aber ich glaube doch, dass ich hoffen kann (…) dass keine Publikation etwas von meinem Algerienfranzösich zum Vorschein kommen lässt (…) aufdecken kann, dass ich ein Algerienfranzose bin.“20

Und an anderer Stelle heißt es gar:

„Diesen Hyperbolismus (, französischer als das Französische‘, ,noch reiner französisch‘ als es die Reinheit der Puristen verlangte (…) diesen maßlosen und zwanghaften Extremismus habe ich zweifellos in der Schule vertreten, ja, in den verschiedenen französischen Schulen, die ich in meinem Leben durchlaufen habe.“21

Oder hat sich alles ganz anders zugetragen, gibt es noch eine andere Vermutung, eine aus dem Bereich der Poesie?

Angenommen, die wahre Philosophie liebte die Paradoxien, die a-logischen Sätze, die Antinomien und Geister-Schiffe, die niemals, trotz rasanter Fahrt, einen Hafen erreichen. Dann vermute ich, auch die Ville d’Alger war von dieser unheimlichen Sorte, weil sie sich trotz vieler Knoten nicht so einfach geradeaus bewegte, weil sie die Wellen umkreiste, manchmal durchschnitt und manchmal mit ihrem Entgegenkommen meilenweit rückwärts fuhr, mitsamt diesem 19-jährigen Jacques. Beide, das Schiff und er, verliebt in das charmante Spiel fraktaler Gezeiten, in die Wiederkehr immer kleinerer Muster, die sich längs einer Küste noch einmal unendlich wiederholen, hatten ihre Ankunft in Marseille längst vergessen. „Es gibt keine Ankunft“, wird dieser junge Mann in den Wind hinausschreien, „wenn man sich einmal bewegt.“ Ein Freibeuterdenken entsteht, das jedes Abtreiben ins Anderswo als unsere einzige unmögliche Wiederkehr feiert, um erneut vor anderen Küsten aufzutauchen, mit dem einzigen Ziel, dem Totalitären, der fixen Zuschreibung in jedem Fall zu entwischen. Ich behaupte, der eleganteste Formulierer der Unmöglichkeit kam niemals in Marseille nach diesen 24 Stunden an, ja, noch gewagter, sein Körper betrat vielleicht Pariser Boden, aber sein Geist niemals. Wie sonst könnte er schreiben:

„Man soll oder man muss zu Hütern einer bestimmten Vorstellung von Europa werden, einer Differenz Europas, doch eines Europas, das gerade darin besteht, dass es sich nicht in seiner eigenen Identität verschließt und dass es sich beispielhaft auf jenes zubewegt, was es nicht selber ist, auf das andere Kap oder das Kap des anderen, ja auf das andere des Kaps.“22

An anderer Stelle:

„Ich bin ein Europäer, zweifellos bin ich ein europäischer Intellektueller (…) Doch bin und fühle ich mich nicht durch und durch europäisch. Damit will ich sagen (mir liegt daran, ich muss es sagen), dass ich nicht durch und durch europäisch sein möchte und sein darf.“23

Gleich wie er wird auch Camus, dieser Fremde, der in Wahrheit sein Tipasa niemals auch nur für einen Augenblick verließ, dieses Schiff genommen haben, neun Jahre zuvor. Das niemals ankommende Schiff. Gleich wie der niemals in Elea angekommene Zenon, den der Philosoph und wirkliche Kapitän zur See, Michel Serres, in seiner Nordwestpassage beschreibt:

 

„Zenon machte sich auf den Weg von Athen nach Elea. Kaum hatte er leichtfüßig den ersten Schritt getan, begann er von den Myriaden Möglichkeiten zu träumen, die Strecke in Teile zu zerlegen und von vorn zu beginnen. Bevor die Mittelgrenze auftaucht, erscheint die Drittelgrenze, vor dem Drittel das Viertel, vor dem Viertel … das Zehntausendstel und so weiter, so weit ich nur will. Zenon geht los, er geht nicht los, wird er Athen jemals verlassen? (…) Da wollte er die Richtung wechseln. Weshalb sollte er immer in ein und dieselbe Richtung gehen.“

Zuletzt lässt er Zenon sagen:

„Vielleicht bin ich fern von meinem Ziel, aber das macht nichts (…) Denn ich glaube, ich bin nicht mehr allzu fern vom Realen, sagt es nicht laut.“24

Noch einmal zurück zu Camus und Derrida. Die Kerbung, die Wüsten-Spur, die Verwundung, das Viele, das die beiden insgeheim verbindet, war der philosophischen Fachwelt bisher noch kaum eine Erwähnung wert. Die Abwertung ihrer Herkunft von einem Drüben, das bei uns hier nichts zählt, scheint zu überwiegen. Doch gerade Deleuze hat uns mit seiner Geophilosophie das Auge geschärft, damit wir die Landschaft mit ihren Rissen, Spannungen nicht nur atmen, sondern sie auch durch unsere Handlungen und Denkweisen noch einmal materialisieren. Er schreibt:

„Denken geschieht vielmehr in der Beziehung zu einem Territorium und zu Terra, der Erde.“25

Was die zwei maghrebinischen Männer vom selben Kap vereint, ist vielleicht das, was bei Camus das „Mittelmeerische Denken“ heißt. Das Denken am höchsten Sonnenstand, bei niedrigsten Temperaturen. Aporien, scheinbar Absurdes, Kontingenz und Gegensätze nehmen hierbei die Hauptrollen ein. Doch der Mensch, gedacht als Sammelpunkt von allem, was sich sperrt, ist die wichtigste Ingredienz bei diesem wachsamen, maßhaltenden Vagabundieren durch weite Sonnenflächen, die nur dank bedrohlicher Nächte zu haben sind. Ein Schreiben stellt sich dabei ein, das die Weite der Räume mittels einer atemlosen Segelschrift durchquert, eine Sprache, die unaufhaltsam über den glatten, ungekerbten, wellenförmigen Raum eines Deleuze flottiert. Was die beiden weiters miteinander verschränkt, drückt ihre Lust auf hundert Zentner Fragen aus: Was ist Gerechtigkeit? Was ist Würde? Wie können wir das Absurdunmögliche aus dem Leben in unser Leben holen? Und nicht zuletzt, die Eleganz ihres Schreibens.

Im poetischen Raum, in diesem dritten Raum, fern jeder mathematischen Größe und fern physikalischer Messbarkeit, kann jeder, der möchte, die beiden noch heute als de-territorialisierte,26 als unsichtbare Plateaus zwischen der neu errichteten Denkenge von Gibraltar schaukeln sehen. In diesem von Nachtsichtgeräten, Zäunen nun völlig gekerbten, ja gekerkerten Raum bilden Camus und Derrida ein sprachliches Kap der allerbesten Hoffnung. Eine Schutzzone für alle Erniedrigten und Staatenlosen.

Also noch einmal zurück zu Google Earth. Ein letztes Mal an diesem Abend zoome ich mich hinunter bis knapp übers Meer, bis knapp über das Heck der Ville d’Alger.

„Lies mir was vor“, sagt Jacques gerade zu Albert, „vielleicht eine kleine Stelle aus deinem Kapitel über das Mittelmeerische Denken. Also irgendetwas Leichtes.“ Und Albert blickt von seiner Reiseschreibmaschine hoch, als hätte er gerade Sartres vernichtende Kritik darüber gelesen. Und dann liest er doch …

„Die Angst lässt ein Europa erstarren, das von Gespenstern und Maschinen bevölkert ist. Zwischen zwei Blutbädern werden in der Tiefe der Keller Schafotte aufgebaut. Humanistische Folterer feiern dort schweigend ihren neuen Gottesdienst. Welcher Schrei könnte sie stören? Selbst die Dichter erklären angesichts des Mordes ihres Bruders, sie hätten saubere Hände. Die ganze Welt kehrt sich nun verstreut von diesem Verbrechen ab; die Opfer sind in die schlimmste aller Missgunst gefallen: sie langweilen.“27


Abb. 11

– „Hast du nichts Charmanteres28, was besser hierher passt, seit Tagen nur Flaute und dazu noch diese Passage?“, erkundigt sich Jacques. Und Camus blättert ein paar Stellen weiter, er ist den kameradschaftlichen Spott des Jüngeren in diesem Moment fast schon gewohnt.

„Wenn diese kleinen Europäer, die uns ein habsüchtiges Gesicht zuwenden, nicht mehr die Kraft haben zu lächeln, warum behaupten sie dann, uns ihre verzweifelten Zuckungen als Beispiele der Überlegenheit geben zu können.“29

Da lächelt Derrida an Bord unseres Geisterschiffes und auch das Geisterschiff lächelt, weil es nicht mehr dazu verurteilt ist, am Trockendock zu rosten. Camus schiebt sich inzwischen die vierzigste Gauloise an diesem Vormittag zwischen die Lippen und scheuert – wie von beiden vereinbart – das Deck auf seine leicht absurde Weise: indem er alle zwei Stunden die Zigarettenasche lässig von Bord bläst und die übrige Bordreinigung dem Südwind überlässt. Was solls. Jetzt sehen die beiden wieder so aus wie damals, als er und Jacques noch die größten Aufreißer waren, jeder in seinem Viertel. Dünnbeinig, schmal, in Schlotterhosen.

„Und? Was hast du so alles mitgenommen bei unserer Reise durch die Enge? Hegels Weltgeist oder nur deine bezaubernd grässlich gestreiften Krawatten?“, fragt Camus ihn spöttisch.

– „Außer denen“, sagt Derrida, „noch ein Ja, ein Versprechen, eine Gabe, und die unbedingte Gastfreundschaft. Und vor allem diese kleine, ganz winzige Schatulle, die mir von allem das Wertvollste ist.“

– „Und was beherbergt sie, was ist da drin? Der Siegelring von Sokrates?“

– „Größer!“

– „Der Siegelring des Paten?“

– „Noch größer!“

– „Dann kann es nur der neue Siegelring des Präsidenten Berlusconi sein.“

Jacques schüttelt entnervt den Kopf und öffnet, dank der Überredungskunst Camus’, den kleinen Deckel nach langem Hin und Her.

– „Wenn du da genau hinsiehst, Albert“, sagt er, „siehst du darin das andere Europa glänzen, siehst du es?“

– „Armer, Jacques, kleiner Jacques, die winzige Box ist doch vollkommen leer.“

– „Pardon, Albert, aber ich fürchte, du verstehst das nicht: Wie soll denn das andere Europa bereits in dieser Schachtel sein, wenn es … wenn es erst im Kommen ist …“

Jetzt kam erstmals heftiger Wind auf und das Philosophenschiff der Neuen Gerechtigkeit folgte seiner Mission. Noch ein weiterer Freibeuter war an Bord zu holen, denn es drängte die Zeit. Mit der Zuversicht am Steuer zischte das Boot rasant über die Weite der Deleuzschen Immanenzebene, jene Weite, wo Denkfiguren frei und ungehindert um den Wert ihrer Begriffe streiten, von keinem Überwachungsschirm der Welt erkannt. Die Piratenflagge zeigte uns bereits die neue Richtung an: Rom. Meine Logbucheintragung jenes Tages: Schrift ahoi!

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