Erfindung einer Sprache und andere Erzählungen

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Was war mit ihm los? Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß ich ihn in diesem halben Frühling gekannt habe wie mich selbst, obwohl er ein Jahr älter war und in der Fabrik bei Osram lernte. Im Park schnupperten wir die gleiche Abendluft, die nach Zigaretten und Mädchen schmeckte, nach Abenteuern, die den Krieg übertrafen. Er schnitt mir die Haare, und ich schnitt sie ihm. Wir aßen seiner Mutter den Zucker aus dem Kleiderschrank und wollten zusammen zur Marine. Als wir den Fähnleinführer Kruse mit seiner Pistole sahen, rief Gerdchen »Pflaumenkruse« hinter ihm her, weil wir nicht mehr vernarrt waren in die Idee mit dem Endsieg. Und an jenem dreißigsten März wollte er Inge Kaliska küssen, genau wie ich. Ich weiß nicht, was mit ihm los war, und deshalb weiß ich nicht, was mit mir gewesen wäre, wenn ich die Männer getroffen hätte, die noch ein langes Gewehr frei hatten.

Ich saß zwei Tage lang auf meiner Matratze. Oben fielen die Fenster nach innen, und es stank bis in den Keller hinab nach verbranntem Gummi. Ich rannte die Treppen rauf und roch in die Wohnungen rein, ob es irgendwo schmorte. Nah und fern wurde geschossen. Plötzlich trat eine Ruhe ein, erst da wurde mir richtig bange. Aus dem Flurfenster sah ich ein Flugzeug dicht über den Dächern, grünlicher als die deutschen. Aus unserem Haus waren zwei Volkssturmmänner in die Schlacht gezogen. Zuerst, an einem Vormittag, kam Klefalt zurück, aus dem zweiten Stock, der sollte nach Süden in die Rieselfelder geworfen werden, zerriß sich einen Hosenträger, bat um zehn Minuten Urlaub, um sich einen neuen zu holen, mußte Sicherheit bieten, ließ als Pfand sein Gewehr da und versteckte sich auf unserem Hof in einem leeren Taubenstall.

Anders Bohle, erster Stock, der in einem Sonderzug der Feuerwehr diente. Er kam nachts, nicht um die Fahne zu fliehen, sondern nur, um von ihr auszuruhen. Darum kroch er mit seiner Frau in einen Nebenkeller, Klefalts Beispiel verschmähte er starrsinnig. Zwei Handgranaten im Gürtel, hinten einen Spaten, an der Seite ein Kochgeschirr und vorn, quer über der Brust, den Karabiner, nahm er im Morgengrauen, als es draußen komisch still war, Abschied, vielleicht für immer. Doch nach zehn Minuten kehrte er ohne Atem und ohne Waffen frühzeitig heim: Bis ins Mark erschrocken, war er am Marktplatz zwei fremduniformierten Männern begegnet, die wohl auch verblüfft waren, denn ihre Schüsse trafen ihn nicht. Jetzt kroch Bohle zitternd, ein Bündel Zivil mit sich, in den Taubenstall rauf zu Klefalt, der sich nun nicht mehr vor den eigenen fürchtete, sondern vor den anderen. Sie waren also da.

Eine Stunde oder mehr verging, dann steckten wir, voran Frau Klefalt, dahinter ich, dann meine Mutter und meine Tante Liesbeth, den Kopf aus unserer Haustür. »Halt bloß das Kind zurück«, rief Tante Liesbeth meiner Mutter zu. Aus der Vorgartentür blickten wir im Frühlicht unsere leere Straße entlang und sahen am Markt in einer unablässigen Bewegung von links nach rechts etwas fahren und hörten Kettengeklirr und das Brummen schwerer Motoren. Auch schienen hin und wieder, wie in Wellen, Leute vorüberzulaufen, aber Genaues war nicht zu erkennen. Die Erde zitterte. Von der Stadt her wummerten die Kanonen. Und zugleich zwitscherten in dieser Pause zwischen zwei Zeiten vernehmlich die Vögel. Schließlich kam jemand vom Markt her auf uns zu, erwies sich als alter Mann mit einem Karton auf der Schulter und schrie keuchend: »Es gibt alles ...«

So begann der Tag des Puddingpulvers, oder was weiß ich: des Milchpulvers und Eipulvers, der Schokoladenrohmasse ohne Zucker, des Butterschmalzes ohne Brot, der grün-weiß gestreiften Fallschirmseide, aber von dieser Seide erfuhr ich nichts. Die Bismarckstraße war mit Gesichtern verstopft, denn der Feind hatte, außer Panzern, Kanonen, Lastautos, Pferdewagen, eine erstaunliche Menge Gesichter, die fuhren vorüber und zogen vorbei; Marschkolonnen, Vorsänger und Chöre, fremdartige Stimmen, Geschrei, seltsame bunte Orden, Flaschen, die von Mund zu Mund gingen. Und die Ladentüren waren schon aufgebrochen unter einem Anprall von Gier und Erlösung, und wo sie noch hielten, kletterte man, den Kopf voran, mit strampelnden Beinen durch die Lichtluken der mit Brettern vernagelten Schaufenster, warf Regale um, trat in scharfriechende Essiglachen, kämpfte um Fleischermesser, um die Beute zu zerlegen, und preßte Speckseiten an sich, an denen andere sich festkrallten. Ich blieb erfolglos inmitten der einträglichen Verwüstung, die Quellen versiegten vor meinen Augen, es war halb zehn, das war zu spät. Ich traf Bubi Trebes, uns war schlecht bei dem Gedanken, daß wir nichts abkriegen sollten. Ihm fiel ein abgelegenes Geschäft ein, als wir da ankamen, trugen zwei ältere Männer die Ladenkasse weg. Unter einem Haufen leerer Kartons fanden wir einen vollen mit hundert Tüten Puddingpulver. Und mit der Hälfte davon hetzte ich glücklich nach Hause und dachte erst danach daran, daß ich doch zu Inge Kaliska mußte.

Meine Mutter rang die Hände, als ich wieder loslief, ich sprach von noch mehr Puddingpulver. Die Nebenstraßen lagen voller Papier, aus manchen Fenstern hingen weiße Fahnen. Der Bretterzaun am Fußballplatz war umgefallen. Die Tür zu Inge Kaliskas Garten stand offen. Die Forsythien blühten wie vor zwei Tagen. Niemand war zu sehen.

Ich ging den Steinplattenweg zwischen den Rosenstöcken auf das Haus zu. Ein Fensterladen war geschlossen, hinter dem anderen Fenster war die Gardine vorgezogen. Vor den Fenstern war eine Bank, darauf standen zwei Blumentöpfe voll Erde und ein leeres Bierglas mit Henkel.

Ich fühlte mich wie vor einer Festung, aus der trotz der grundsätzlich veränderten Lage der immer noch mächtige einbeinige Vater jederzeit einen Ausfall machen konnte. Dennoch drang ich um den Giebel herum zur Rückseite vor, spähte durch ein anderes Fenster in eine aufgeräumte Küche und stand unentschlossen vor der Haustür. Ich hörte Schritte, der Schlüssel wurde gedreht, im Türspalt erschien der Kopf einer Frau, die wohl die Großmutter war. Sie sah mich verständnislos an, dann schien sie zu sich zu kommen, sie sagte: »Inge kommt nicht raus.«

»Ja«, sagte ich enttäuscht und fügte noch hinzu: »Vielleicht können Sie ihr sagen, daß ich da war ...« Da wurde die Oma zur Seite gedrängt, und Inge Kaliska kam auf mich zu und sagte nur: »Komm.« Ich hörte die Stimme einer anderen Frau, der Mutter: »Inge, ich verbiete dir ...«, aber der Satz blieb unbeendet, wir waren auch schon um die Hausecke. Ich war ein bißchen verlegen, aber vor allem war ich stolz, als ich hinter Inge Kaliska herstolperte, daß ich der Mann war, der sie so auf Anhieb aus dem Haus holte. Sie hatte von ihrem Kellerkostüm noch die Trainingshosen an und trug einen groben grauen Pullover und sah fast wie ein Junge aus, bis auf das Haar mit der Klemme über der Stirn. Ich redete, sie schwieg. Ich rühmte mich des Puddingpulvers. Ich erwähnte den toten Mann neben den Schienen. Aber als wir da vorbeikamen, lag er nicht mehr da, es gab nur noch eine dunklere Stelle im Sand. Ohrenbetäubende langsame Flugzeuge flogen niedrig stadteinwärts. Der Himmel darüber war hellblau.

Eine Weile drängelten wir uns in der Bismarckstraße. Ich quetschte mich noch mal in einen Fleischerladen und sprang nach einer Wurst, die ein Soldat mir entgegenhielt; es war eine Schaufensterwurst aus Gips. Schließlich gingen wir über die Wiese, um uns die gesprengte Kanalbrücke anzusehen. Wir trafen keine Soldaten, und am Kanal war kein Mensch. Die Brücke, an einer Seite abgebrochen, lag schräg im Wasser, aber wir gingen nicht so weit. Als wir stehenblieben, standen wir gerade vor unserer Kuhle und sanken hinein, ich griff nach ihr, und sie griff nach mir, mit geschlossenen Augen, wortlos. Dann sahen wir uns an, und ich mußte nicht lachen wie vorher manchmal und mußte auch nicht wegsehen, nein, ich versteckte mich nicht, und ihr Gesicht ging in mich ein. Ich sah ihre Mundwinkel zucken und dachte, daß ich diesen Moment bestimmt nie vergessen würde, aber als sie damit nicht aufhörte, fragte ich: »Was ist denn?«

Sie sagte: »Du darfst es niemand erzählen, keinem einzigen Menschen, hörst du?« »Ja, was denn?« fragte ich.

Ich weiß nicht, ob es so war, aber wenn es so war, dann gab es in Inge Kaliskas Haus eine Tür zwischen Küche und Waschküche und über der Tür einen Balken und in dem Balken zwei gedrehte Haken für eine Kinderschaukel. Doch an diesem Morgen hatte an dem einen Haken ein Strick gebaumelt, und an dem Strick hing Inge Kaliska. In ihren Ohren summte es, hinter den Augen tat es ihr weh, sie sank in ein immer tiefer gefärbtes Rot. Sie hörte einen Schuß, der sie nichts mehr anging, obwohl sie gerade noch gedacht hatte, er würde etwas in ihr zerreißen.

Eine Viertelstunde vorher hatte sie noch geschlafen. Ihr Vater weckte sie. Mit knarrendem Holzbein stemmte er sich vor ihr die Kellertreppe hoch, sie folgte ihm und wußte nicht, zu welchem Zweck. Auf dem Flur trat die weinende Großmutter auf sie zu und küßte sie scheu, der Großvater stand dabei. Die Mutter saß im Zimmer in der Sofaecke, den Hinterkopf an der Tapete. Auf dem Tisch, neben der geöffneten Ledertasche, lag eine Pistole. »Du bist doch unsere große Tochter, nicht wahr?« sagte der Vater ungewöhnlich weich. Die Mutter schluchzte und sagte, sie könne es nicht. Der Vater brüllte plötzlich. »Mit dir ist überhaupt nichts anzufangen«, schrie er. Aufgeregt, mit bebenden Händen, schob er Inge Kaliska in die Küche und schloß die Tür hinter ihr. Sie sah in der anderen Tür eine Fußbank stehen und darüber den mit einer Schlinge versehenen Strick, der so dünn aussah, daß sie dachte, damit ginge es nie. Und wie um das zu beweisen, stieg sie auf die Rutsche und zog sich die Schnur über den Kopf. Einen Moment stand sie still und sah schräg durch das Fenster die Regenrinne auf dem Hof und das Moos zwischen den Steinplatten. Dann hörte sie ein Geräusch aus dem Zimmer, als wenn jemand den Tisch verschob, jetzt schießt es, dachte sie entsetzt, und dann stieß sie die Fußbank weg.

 

Der Schuß fiel nicht, obgleich ihr nachher so war, als hätte sie ihn noch gehört. Sie kam zu sich und lag in der Waschküche auf dem Boden. Die Großmutter zog sie an den Armen hoch und half ihr auf die Füße. Der Strick war weg. Im Haus waren zwei Russen. Das verstand sie erst nicht: Wieso denn Russen?

Der Großvater hatte sie vom Dachfenster aus kommen sehen, als sie gerade über die Gartentür nach dem Riegel griffen. Er riß die zwei Schlingen vom Balken, die für ihn und die Großmutter gedacht waren, warf sie in die hinterste Ecke und hastete mit einem Alarmruf die Bodentreppe hinab. Sein Schwiegersohn nahm die Pistole vom Tisch und schmiß sie in das kalte Ofenloch, als wäre sie glühend heiß. Die Mutter lief zur Waschküche, aber der Großvater war vorher da und schnitt den Strick ab, an dem Inge Kaliska, die sich so kindlich entschlossen auf den schwarzen Weg gemacht hatte, schon hing, als wäre sie tot.

Die Russen standen mitten im Zimmer. Sie fragten: »Soldatt?« Alle verneinten, der Vater entschloß sich, sein Holzbein vorzuweisen, sie nickten dazu. Sie öffneten ein paar Schranktüren. Der eine nahm auf einem Stuhl Platz und machte dem anderen ein Zeichen, der ging mit der Mutter ins Schlafzimmer. Sie mußte sich auf das Bett setzen, er setzte sich mit einem Abstand daneben. Eine Weile blickte er sie von der Seite an, dann stützte er den Kopf in die Hände. Schließlich ging er schweigend aus dem Zimmer, die beiden Soldaten verließen das Haus, zurück blieb ein fremder Geruch.

Die Familie setzte sich um den leeren Tisch. Die Mutter holte Brot aus der Küche. Inge Kaliska mußte versichern, daß ihr nichts weh tue. Der Vater sagte, daß man es immer noch tun könne, aber niemand antwortete ihm. Daß ich auftauchte, war keinem recht, keinem außer Inge Kaliska.

Sie hatte einen Strich am Hals, eine rote Spur, wie eine sehr schmale Narbe, über die ich mit den Fingerkuppen strich. Ich wußte nichts zu sagen, außer daß ich das Quatsch von ihrem Vater fände, und sie sagte plötzlich: »Hör doch auf, das kitzelt.«

Die Sonne wärmte uns. Ich hob den Kopf, wir waren noch immer allein. Wir lagen beieinander, und meine Hand wanderte den verbotenen, vertrauten Weg, der infolge der Trainingshosen anders verlief, und war bereit, sich fangen und zurückrufen zu lassen. Niemand fing sie, nichts hielt sie auf. Ein Schreck fuhr mir von den Fingerspitzen her ins Herz. Ich öffnete die Augen, Inge Kaliska sah mich reglos an. Es war der vierundzwanzigste April, gegen Mittag, am Morgen waren die Russen gekommen.

Ich drückte meinen Mund heftig auf Inge Kaliskas nachgiebige Lippen, aber was ich weiter tun sollte, wußte ich nicht. Äffchen Lehmanns Blechschachtel fiel mir ein, aber das machte mich stumm, und der stumme Schreck hielt an, bis ihm sekundenschnell ein größerer Schreck zu Hilfe kam. Was, wenn uns jetzt jemand sähe, mit strengen, mißbilligenden Augen? Und wessen Augen wären das?

Bestürzt über die greifbare, leibliche Nähe unbestimmter früherer Visionen, hatte ich plötzlich die neuartige Vision eines Spähtrupps, der zielstrebig auf uns zukam. Nichts erschien mir mit einem Mal so logisch wie die militärische Erkundung des Kanalufers. Ich glaube, ich sah es deutlich vor mir: zwei Blonde und ein Mongole, die mißtrauisch durch das Gelände streifen, bis sie Inge Kaliska und mich in unserer dummen Lage aufstöbern; kein Mensch weiß, was sie von solchen Dingen denken. Zwar trug ich auf Weisung meiner Mutter eine kurze Hose, um kindlich und unwehrhaft zu erscheinen, aber waren diese Eigenschaften vom Standpunkt des fremden Militärs aus einleuchtend, wenn ich, den Rücken himmelwärts, so dicht bei Inge Kaliska lag?

Ich rutschte fort von ihr und richtete mich auf. Die Wiese lag noch immer still und seitlich vom Krieg in der Sonne. Doch mein Blick fing einen Schwarm Flugzeuge ein, ich spürte, wie die Erde bebte, kam das entfernte Schießen nicht näher?

»Laß uns lieber hier weggehen«, sagte ich. Ich klopfte Inge Kaliska den Rücken ab, diesmal sprach sie nicht ihren üblichen Satz »Mann, bin ich dreckig.« Wir gingen über die Wiese und sahen den himmelhohen Rauch über der Stadt und stellten uns wieder an die Straße und staunten, wie viele Autos sie hatten und wie viele Soldaten. Dann fiel der Satz, der vieles zwischen uns kaputt gemacht hat, genaugenommen alles. Ich sagte beiläufig: »Heut nachmittag habe ich keine Zeit.« Das war einfach eine Mitteilung, und sie stimmte, denn ich wollte mit Bubi Trebes zum Güterbahnhof, wo ein Zug mit Getreide stehen sollte. Ich weiß nicht, warum ich das nicht gleich mit hinzusagte. Sie hätte mich ja auch danach fragen können. Aber sie fragte nichts und machte auch kein besonderes Gesicht, doch nach einer Weile sagte sie plötzlich »Wiedersehen« und ging los. Ich wunderte mich und lief neben ihr her und fragte: »Was ist denn? Ist irgendwas?«

»Nichts«, sagte sie.

»Mußt du nach Hause?«

»Ich muß überhaupt nichts«, sagte sie. Ehrlich, ich verstand nicht, was sie hatte. Später habe ich mir überlegt, daß ich wahrscheinlich schon die ganze Zeit keinen besonderen Eindruck auf sie gemacht habe mit meinem Gequatsche über Puddingpulver und meiner doppelten Angst am Kanalufer und meiner Unfähigkeit, irgendwas Vernünftiges dazu zu sagen, daß sie sich beinahe aufgehängt hatte. Der Satz, den Nachmittag betreffend, kam nur noch dazu, und ihr war klar, daß sie in mir nicht den Mann hatte, den sie brauchte. So kann es gewesen sein, und soviel habe ich dem entnommen: Ein falscher Satz kann viel Schaden anrichten und ein richtiger Satz im falschen Moment auch. Doch damals, an diesem vierundzwanzigsten April, fand ich es albern von ihr, daß sie sich so benahm, ausgerechnet an dem Tag, an dem die Russen einmarschierten. Ich lief neben ihr her und versuchte, das Gespräch wieder in Gang zu bringen, und erklärte zehnmal, daß es sich um Bubi Trebes und um einen Weizenzug handele, und erinnerte sie auch noch daran, daß man die Pistole ihres Vaters vergraben müsse. Dann blieb ich verärgert zurück und war, als ich sie gehen ließ, ohne ihr nachzublicken, zurückgeblieben auch in einer anderen, schon erwähnten Bedeutung: Ich nahm wieder mal an, daß Inge Kaliska mir ziemlich egal sei. Aber daß ich länger als jemals bei dieser Ansicht blieb, lag daran, daß das sich rasend ändernde Leben gewaltig auf mich einschlug, mit allen möglichen Eindrücken, meine ich, aber auch anders.

Das Leben bediente sich dazu unter anderem zweier Hände, auf denen rötliche Haare wuchsen. Die Hände legten sich auf den oberen Rand der Stirnwand einer Eisenbahnlore, spreizten sich sehnig und zogen den Mann, an den sie angewachsen waren, auf die Höhe der Situation. Die Erinnerung an sein Gesicht ist undeutlich. Es war aber, unter einem Käppi, ein helles Gesicht mit praktisch blickenden Augen, die uns nur streiften und sich sogleich auf eine Latte hefteten, an die, ein Rest abgerissener Bedachung, noch ein Stück Pappe genagelt war. Das Wort »Kamerad«, das ich hervorstieß wie eine Losung, erwies sich als untauglicher Vorschlag zu einem Gespräch. Ich verlor einen Streifen Haut auf der Schulter, meinen Hemdkragen und einen steifen, norwegischen Seesack, in den die Weizenkörner hineingeperlt waren wie Erbsen in eine Schüssel. Bubi Trebes büßte einen Schuh und einen Rucksack ein. Wir landeten mit knirschenden Gelenken auf dem Schotter neben dem Gleis. Wir rannten und dachten, jetzt werden sie schießen. Doch alles blieb still, und wir verschnauften am Fuß des Bahndammes, dem Heulen nahe, ohne Vorwurf an den schmerzhaft vermenschlichten Feind.

In unserer Straße, unter den Kastanien, die hellgrüne Blattspitzen trieben, standen Panzer. Auf unserem Hof wurde gekocht, die Kartoffeln schwammen in blankem Öl. Der Koch benutzte als Vorratskiste einen Besenschrank, nachts schlief er darauf. Ein Sergeant, der Nikolai hieß, fuhr auf einem Motorrad im Kreis herum, weil er nicht wußte, wie man anhält. Das Motorrad fiel um, er rutschte mit der Stirn über das Pflaster und trug künftig einen Verband über seinem jungen, aber streng gefalteten Gesicht. Nachts hätte sie eine Frau schreien gehört, sagte Tante Liesbeth zu meiner Mutter und setzte beruhigend hinzu: »Aber es war wohl in der anderen Straße.«

In unserer Straße, schräg gegenüber, zog die Kommandantur ein. Soldaten mit roten Armbinden gehörten dazu, die zu dritt durch die Straßen gingen. Mit erhobenen Stimmen, die Hand an der Maschinenpistole, stritten sie mit anderen Soldaten. In unserem Park wurden Kühe geschlachtet. Schüsse knallten, dampfendes, hellrotes Blut floß über den abgetretenen Rasen, auf dem wir, der Polizei ein Ärgernis, Fußball gespielt hatten. Feuer brannten unter großen Kesseln. Soldaten in Turnhosen hantierten mit langen Messern und warfen die Kaldaunen zu den jämmerlich leeren Häuten. Auf dem Weg lagen die Rindsköpfe mit erstaunten, weißlich verschleierten Augen. Sie lagen ungefähr an der Stelle, an der ich Inge Kaliska zum erstenmal geküßt hatte, am dreißigsten März, aber jetzt, vier Wochen später, hatte ich es vergessen.

Ich ging durch alle Tore und stieg über alle Zäune. Bubi Trebes war dabei, Heini Ganschow oder andere, die ich nicht kannte. Die Fabrikhallen sahen aus, als wären die Arbeiter gerade weggegangen. Wir drückten auf ein paar Knöpfe, und eine große Drehscheibe fuhr kreischend los. Am Flugplatz krochen wir in abgewrackte amerikanische Bomber. Die Benzintanks waren mit Gummi beplankt, daraus schnitten wir Schuhsohlen. Ich brachte sechs Kopfkissenbezüge aus Papiergewebe nach Hause, drei Zangen, eine Feile und einen Hammer, einen Sack Kartoffeln, mit Bettfedern vermischt, einen Karton mit Rauchpatronen, die man mit Hilfe einer Zündschnur abschießen konnte, und eine Luftwaffenuniform, die wir versteckten, um sie später blau zu färben. Nur an die grün-weiß gestreifte Fallschirmseide kam ich nicht heran. Die entdeckte ich erst an einem lauen Abend, und da war es in einem anderen Zusammenhang zu spät.

Der Feuerwehr- und Volkssturmmann Bohle nahm zum zweitenmal Abschied. In zerschlissenem Zivil, mit Sack und Stock wie ein Pilger, brach er auf zu entfernten Verwandten. Klefalt, sein kurzzeitiger Partner im Endkampf und im Taubenstall, nahm eine Schippe und meldete sich am Bahnhof zur Arbeit. Auf dem Markt fand eine Versammlung statt, und wer älter als vierzehn war, dessen Erscheinen war Pflicht.

Die Plakate, die dazu aufriefen, begannen mit dem ungewohnten Wort »Bürger«. Der Platz war voll, ein bedrücktes Gemurmel ging um, kam jetzt das böse Ende nach? Dann wurde es still, weil von der Ecke des Platzes her, wo Schrades Chemische Reinigung ist, ein Offizier quer durch die Leute kam. Er trug einen Stuhl auf der Schulter, bahnte sich mit kleinen Bewegungen der Hand eine Gasse, und hinter ihm ging ein Mann in Zivil, den ich schon gesehen hatte. Man raunte sich zu, daß der Offizier der Kommandant wäre. In der Mitte des Platzes stellte er seinen Stuhl ab und stieg hinauf. Er hatte einen dunklen Bart, der Oberlippe und Kinn bedeckte. Er begann zu reden; er redete eine Viertelstunde lang; er redete russisch, kein Mensch verstand ihn. Aber seine Stimme schwang sich über den Platz und über die Köpfe, machtvoll wie das Wort des Propheten, eine furchtsame, aber auch andachtsvolle Ruhe herrschte, und wer aufsah, der nahm wahr, daß der Kommandant die Faust erhoben hatte und daß er mit der Faust, wie einen Pflock in den Boden, die Rede in unsere Köpfe hieb, Satz für Satz und ein für allemal. Dann stieg er herab. Von der Mitte her lief ein schüchterner, schnell verebbender Beifall zu den Rändern des Platzes, niemand wollte sich ausschließen. »Schade, man versteht nichts«, flüsterte meine Mutter. »Aber er scheint sympathisch zu sein«, sagte meine Tante Liesbeth etwas lauter. Der andere Mann tauchte nun über der Menge auf, und jetzt wußte ich, woher ich ihn kannte. Es war der Totengräber Siwanowitsch, der auf unserem Friedhof die Gruben aushob. Und ich kannte ihn, weil zu Anfang des Krieges in unserem Haus der Ingenieur Hoffmann gewohnt hatte. Der stammte aus Riga, hatte einen Asbestfußboden erfunden, den niemand haben wollte, schlug cholerisch seine blutarme, baltische Frau, aber an friedvolleren Abenden holte ich für ihn Bier. Er saß dann auf der Bank auf unserem Hof, und bei ihm saß mit blassem, fleischigem Gesicht Siwanowitsch, schwieg und roch säuerlich nach Alkohol. Doch außerdem umgab ihn ein Geruch von Abenteuer und Unglück: Im alten Rußland, hieß es, sei er ein hoher Offizier gewesen. Er ging stets langsam, mit würdevollem Schritt, sein Bauch schwang weich in seinem schäbigen Anzug, und über dem zerdrückten, offenen Hemdkragen trug er den Kopf sehr gerade.

Siwanowitsch also war, wie man jetzt erkannte, nicht untergegangen im schäumenden Meer der Geschichte, im Gegenteil, eine Welle hob ihn empor, vielleicht auch nur ein Spritzer, und stellte ihn auf einen Stuhl inmitten des Volks, und er rief mit heiserer Stimme aus, daß er der neue Bürgermeister sei. Das war sein erster Satz. Dann nahm er seinen speckigen Hut ab, schwenkte ihn mit weiter Bewegung und schloß seine Ansprache mit einem zweiten Satz, der hieß: »Alles Gutte, liebe Leute, alles Gutte ...«

 

An diesem Nachmittag plötzlich dachte ich daran, daß ich gern Inge Kaliska treffen würde und daß es bedeutsam wäre, wenn uns die geschichtlichen Ereignisse so zusammenführen würden. Aber ich spähte, während sich die Menge verteilte, vergebens nach ihr oder jemand von ihrer Familie.

»Wie ein Russe sieht er nicht aus«, sagte, als wir nach Hause gingen, meine Tante Liesbeth und meinte den Kommandanten.

»Wie ein Deutscher aber auch nicht«, antwortete meine Mutter.

»Aber auch nicht wie ein Russe«, sagte meine Tante.

Wir behielten ihn nicht lange, den schwarzbärtigen Mann, dem Tante Liesbeth so spontan vertraute. Die Soldaten mit den roten Armbinden führten einen wilden Burschen zur Kommandantur, in Matrosenkluft, mit gestreiftem Hemd, der hatte eine Menge Wut im Bauch und anscheinend auch eine Menge Schnaps. Denn als der Kommandant ein klärendes Gespräch mit ihm eröffnen wollte, holte er eine Eierhandgranate aus der Hosentasche, zog sie ab, stellte sie auf den Schreibtisch und ging aus dem Zimmer. Des Kommandanten Stellvertreter, der hinter dem Tisch saß, kroch unter die Tischplatte, aber der Kommandant, der daneben stand, konnte nur noch versuchen, aus dem Fenster zu springen, zu seinem Glück hob er den Arm vor das Gesicht. Wir sahen ihn, notdürftig verbunden, in einem Jeep wegfahren und sahen auch den gefesselten Matrosen auf einen Lastwagen klettern, und meine Mutter folgte mit Eimer und Schrubber einem Soldaten über die Straße und wischte Blut und Tinte auf. An dem Tag danach, glaube ich, war der Krieg zu Ende.

Die grün-weiß gestreifte Fallschirmseide sah ich erst, als Habedanks Tanzsaal eröffnet wurde. Es dämmerte, das Licht fiel matt aus dem offenen Fenster, vor dem sich staunende Kinder drängten, der Saal war voller Frauen, und jede dritte, glaube ich, trug eine Bluse aus dieser Seide. Auf der Bühne saß ein dünner alter Mann an einem Klavier, ein anderer Alter neben ihm geigte. Über ihnen hingen bunte Glühbirnen. Es war warm, aber aus den Fenstern drang noch eine andere Wärme, die unbestimmt nach Staub, Schweiß und Parfüm roch.

Ich sah zum erstenmal, wie öffentlich getanzt wurde. Die Frauen wiegten sich weich miteinander, einige lächelten, als wenn sie sich an etwas erinnerten. Dann bemerkte ich unter den Tanzenden auch einige Männer, einen langen Bebrillten dabei, und erstaunlicherweise auch ein paar Jungen, kaum älter als ich, die mit ernsten, konzentrierten Gesichtern richtig erwachsene Mädchen vor sich herschoben; ich konnte mir nur denken, daß sie mit ihnen verwandt waren. Die Musik schwebte dünn über dem gleichförmigen Schleifen der Füße. Ein sanfter Sog ging von den Fenstern aus, und verwundert und wunschlos hätte ich da sicher noch lange gestanden. Doch dann, eine Sekunde lang, gleich wieder verdeckt in einer langsamen Drehung, während der ich es schon wußte und doch nicht glauben wollte, sah ich Inge Kaliska. Sie sagte gerade was. Sie lachte. Sie blickte stolz in die Gegend. Und sie tanzte mit keinem Mädchen. Der sie drückte und zog und drehte, und sie machte genau, was er wollte, der sie dabei dauernd festhielt, und sie ließ es sich gefallen, dieser hinterhältigste und gefährlichste Feind meines Lebens war einer, den ich kannte: Er hieß Äffchen Lehmann.

Später habe ich gedacht, wenn sie in diesem Moment mein Gesicht gesehen hätte, vielleicht hätte sie sich alles noch überlegt. Aber es hätte wahrscheinlich wirklich dieser eine Augenblick sein müssen, ehe ich in den Schatten zurücktrat, als müßte ich mich schämen, bemerkt zu werden. Einen klaren Gedanken hatte ich nicht. Ich wußte nur, daß ich in Habedanks Tanzsaal reinmußte, auf der Stelle. Aber vorher mußte ich nach Hause, um mir lange Hosen anzuziehen. Ich rannte so, daß ich Stiche kriegte.

Es handelte sich um den guten Anzug, in dem ich im November vierundvierzig fotografiert worden bin, damit wir meinem Vater zu Weihnachten das Bild schicken konnten. Ich trug ihn sonst kaum. Jetzt mußte ich, während Inge Kaliska in den Händen dieses affenohrigen Hundes Lehmann war, abgehetzt darum bitten, daß ich ihn anziehen durfte, um zuzusehen, wie bei Habedank getanzt wurde.

»Zum Zusehen brauchst du doch keinen Anzug«, wandte meine Mutter ein.

»Doch«, sagte ich verzweifelt.

Und Tante Liesbeth sagte prompt: »Er ist doch noch ein Kind, findest du nicht?«

Mit fliegenden Händen stellte ich die alte Bonbonschachtel auf den Kopf, in der ich mein Geld aufbewahrte. Ich bückte mich nach den Fußballschuhen unter dem Sofa, in deren rechtem ein anderer Reichtum verborgen war, und bekam heiße Ohren dabei, weil ich das Gefühl hatte, sie starrten mir auf den Rücken. Meine Mutter ermahnte mich, nicht später zu Hause zu sein als um neun.

Nach Entrichtung einer Mark, nach Erhalt einer mit Bleistift numerierten Eintrittskarte, nach endloser Zeit, wie mir schien, betrat ich Habedanks Tanzsaal, der, wie ich jetzt wußte, mitten in der Bahn meines Schicksals lag. Es wurde gerade nicht getanzt, in meinem ungewohnten Anzug marschierte ich durch ein Spalier von Blicken.

Der Tisch, an dem Inge Kaliska saß, stand links hinten neben einem Pfeiler. Ich bemerkte es gleich: Sie trug nicht mehr die Klemme im Haar, ihr Mund war dunkelrot bemalt, und ich fühlte, daß ich sie von jetzt an bis in die Ewigkeit lieben würde. Es war ein würgendes Gefühl, denn im selben Moment sah sie mich und nickte mir zu wie einem guten, aber entfernten Bekannten. Ich trat an den Tisch, außer Äffchen Lehmann waren noch Heini Ganschows große Schwester und zwei Burschen da, die ich nicht kannte.

»Hol dir einen Stuhl ran«, sagte Äffchen Lehmann harmlos.

Ich lief in die Saalecke, wütend darüber, daß ich genau das machte, was er sagte. Als ich zurückkam, ging die Musik wieder los, Inge Kaliska tauschte einen Blick des Einverständnisses mit Äffchen Lehmann, der stand auf und machte eine alberne Verbeugung, auch sie erhob sich, ließ sich seinen steifgewinkelten Arm um den Rücken legen, und ich sah verblüfft und bekümmert, daß sie beide genau die gleichen Schritte machten. Ich saß eine Weile dumm am Tisch, dann hielt ich es nicht aus und ging zur Theke, wo lauter Frauen anstanden, und kaufte mir für vierzig Pfennig mein erstes Bier, es schmeckte zum Kotzen. Die Tanzerei dauerte endlos. Ich bemühte mich, nicht hinzusehen, und lenkte mich ab, indem ich ganz kleine Schlucke trank und auf die Texte hörte, die die Frauen mitsangen. Erst spielten sie »Unter der roten Laterne von Sankt Pauli«, und dann spielten sie »Roter Mohn, warum welkst du denn schon?«, und ich gebe zu, daß diese Musik mir mächtig durchging. Schließlich setzten sich alle wieder hin, Äffchen Lehmann verschwand zur Theke, jetzt konnte ich wenigstens mit Inge Kaliska reden. Aber meine Kehle war völlig verstopft, ich quetschte nur eine blöde Frage heraus: »Darfst du jetzt abends wieder raus?«

Sie sah mich hochmütig an. »Denkst du, da frage ich erst?«

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